ZtunBueh Die "Wiener Vorlesungen" bemiihen sieh seit fast zehn Jahren tun Erkundungen und Analysen fiber die sieh wandelnden Verhaltnisse in den Bereiehen der Politik, der Okonomie tmd der Gesellschaft. Die Perspektive der Vorlesungen, die mitt lerweile ein sehr dieht besetztes Puzzle von Analysen zur gei stigen Situation der Zeit ergeben, ist -clem Gegenstand ange messen - eine interdisziplinare, die fiber die manehmal sehr engen Grenzen der Fachdisziplinen und ihrer Nischenkulturen hinausreieht. Der Fortschritt der Naturwissenschaften hat in immer starkerem Ma6 vor allem im 20. Jahrhtmdert die Be waitigung und die Wahrnebmtmg der Wirkliehkeit verandert. Aus Segnungen und Wohltat, die dieser Fortschritt fi1r die Menschen in vielen Lebensbereiehen bedeutete, droht am Ausgang des 20. Jahrhunderts PIage zu werden. Der ntm vorliegende Band von Gerhard Fasching fiber "Ver lorene Wirkliehkeiten" ist 8US einer "Wiener Vorlesung", die der Autor am 11. Oktober 1995 gemeinsam mit Herbert Pietschmann zum Thema "Fortschritt der Naturwissenschaf ten. Wohltat oder Plage?" gehalten hat, hervorgegangen. Die fi1r die Wiener Vorlesungen verantwortIiehe Kulturabtei lung der Stadt Wien fteut sieh dartlber, daB die Thesen Ger hard Faschings auf diesem Weg einer gr08eren OtIentliehkeit zuganglieh gemacht werden. Gerhard Fasching Verlorene Wirklichkeiten Über die ungewollte Erosion unseres Denkraumes durch Naturwissenschaft und Technik Springer-Verlag Wien GmbH o. Univ.-Prof. Dr. techno habil. Gerhard Fasching Technische Universitiit Wien Wien, Osterreich Gedruckt mit Unterstiitzung des Bundesministeriums fiir Wissenschaft, Verkehr und Kunst in Wien sowie der Kulturahteilung der Stadt Wien Das Werk ist urheberrechtlich geschiitzt. Die dadurch begriindeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergahe auf photomechanischem oder iihnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 1996 Springer-Verlag Wien Urspriinglich erschienen bei Springer-Verlag Wien New York 1996 Satz: Reproduktionsfertige Vorlage des Autors Bindearbeiten: Fa. Papyrus, A-llOO Wien Graphisches Konzept: Ecke Bonk Gedruckt auf siiurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier - TCF Umschlagbild: Merseburger Zauberspriiche. Handschrift 58, Bl. 85r, Anfang des 10. Jahrhunderts vermutlich in Fulda geschrieben, wahr scheinlich Erstaufzeichnung nach der miindlichen Uberlieferung (Dombibliothek Merseburg) Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Fasching, Gerhard: Verlorene Wirklichkeiten: iiber die ungewollte Erosion unseres Denkraumes durch Naturwissenschaft und Technik I Gerhard Fasching. - Wien; New York: Springer, 1996 ISBN 978-3-7091-7350-3 ISBN 978-3-7091-6560-7 (eBook) DOI 10.1007/978-3-7091-6560-7 ISBN 978-3-7091-7350-3 Inhaltsverzeichnis J. W. v. Goethe: Das Schlimmste ... 1 Einleitwlg 3 Symptome 9 FrOhe Wurzeln 9 Das Werden der Teclmik 16 Der EinfluB der Teclmik 28 Symptome werfen Fragen auf 33 Innenansicht der Teclmik 36 Das F\Uldament 37 Die Methode 42 Die Struktur 50 DasBild 56 })as technische Handeln 61 AuJ3enansicht von Natwwissenschaft \Uld Teclmik 66 Probleme der natwwissenschaftlichen Methode 67 Im natwwissenschaftlichen Sinn zu wissen 74 Wirklichkeit \Uld RealiUit 79 Die Hypothese einer absoluten RealiUit ist entbehrlich 87 Wirklichkeiten ohne PrioriUlt 89 Die geistigen Wurzeln des "Damons der Teclmik" 92 Anmerkungen \Uld Schrifttum 99 ''Das Schlimmste, was der Physik, so wie mancher ande rn Wissen schajt, widerfahren kann, ist, daft man das Abgeleitete fur das Ur spriingfiche halt, und da man das Urspriingliche aus Abgeleitetem nicht ableiten kann, das Urspriing fiche aus dem Abgeleitetem zu er klaren sucht. Dadurch entsteht eine unendfiche Verwirrung, ein Wort kram und eine fortdauernde Bemii hung, Ausfluchte zu suchen und zu jinden, wo das Wahre nur irgend hervortritt und machtig werden will. " J. W v. GOETHE in seinen Schriften zur Naturwissenschaft 1 EINLEITUNG Das Buch riihrt an ein Tabu: An das Selbstver standnis von Naturwissenschaft und Technik:. Man halt das Bild, das die Naturwissenschaft zeichnet, geme fur die absolut richtige Sicht und merkt gar nicht, daB sie bloB eine verabso lutierte Sicht ist! Naturwissenschaft und Technik tragen in ih rem Inneren namlich eine verhangnisvoUe Ei genschaft. Eine Eigenschaft, die genau genom men gar nicht zum Wesen von Naturwissen schaft und Technik: gehort: Naturwissenschaft und Technik suggerieren die gefahrliche Uber zeugung, daB der naturwissenschaftliche Weg, den wir heute sehen, der alleinige emstzuneh mende, das heiBt der einzig "richtige" Weg ist. Dieser Gedanke ist deshalb so verhangnis voU, weil er zur Monokultur des Denkens fuhrt. 3 Alles, was nicht naturwissenschaftlich-rational verstehbar ist, wird instinktiv unterdriickt. Es wird unterdriickt, weil man der Idee vetfallen ist, daB alles ausschlieBlich naturwissenschaft lich-rational verstehbar sein mu.f3. Seit Jahrzehnten, vielleicht sogar schon seit Beginn der industriellen Revolution oder seit noch frUher, bewirkt diese Vorstellung eine gei stige Erosion und Aushohlung jeder geistigen Vielfalt. Diese Erosion fiihrt zur Entartung un serer Denkmoglichkeiten, fiihrt zur Entartung unseres "Denkraumes" und fiihrt sChlieBlich zu einer Monokultur. Die Idee, daB alles ausschlieBlich natur wissenschaftlich-rational verstehbar sein muB, ist schlieBlich auch der Boden, auf dem die Oberzeugung bliiht, den "wirklich wahren Weg zu wissen". Und von da ist es nur mehr ein klei ner Schritt zur verhangnisvollen technischen Wahnvorstellung, daB "alles machbar ist". Die geistige Grundhaltung unserer westli chen Kultur, die heute sukzessive die ganze Er de iiberzieht, ist also durch eine Monokultur des Denkens gekennzeichnet, die keine Gegen krafie aufkommen laBt. Die Gefahrlichkeit die ser Situation liegt darin, daB ohne Gegenkrafte jedes Wachstum unkontrollierbar und exponen- 4 tiell vor sich geht und daB dieses Wachstum das ganze System zuletzt vollig iiberraschend ver nichten wird. Exponentielles Wachstum hat das bekanntlich so an sich. Ein gigantischer Zickzack-Kurs ist die Fol ge, der uns von einer Beinahe-Katastrophe in die andere treibt. Und so taumeln wir zwischen Mobilitats-Lawine, Miillproblemen, 61katastro phen und Plutonium-Schmuggel dahin und ziin deln - wie nebenbei - gentechnologisch herum. Diese Entwicklung ist heute nicht mehr zu iibersehen, denn sie findet vor unseren eigenen Augen iiberdeutlich statt: Die naturwissen schaftlich-technische Zivilisation mit all ihrem schadlichen Aushauch erdruckt bereits aIle an deren Bilder und Kulturen und zerstort dabei gerade das, was wir zur Rettung dringend brauchen werden: Multidirektionale Gegenkrafte werden nam lich notwendig sein, die zur heutigen Monokul tur des Denkens in Konkurrenz treten. Eine sta bile ausgewogene Kultur muB dabei gleichsam wie ein Biotop strukturiert sein. Anstelle einer Monokultur des Denkens sollte ein reich struk turierter Bilder-Pluralismus vorliegen, bei dem jede Nische mit immer noch kleineren unter schiedlichen Bildem und Denkmustem besetzt 5 ist. Ein solcher Wirklichkeits-Pluralismus ware dUTCh seine Vielfalt der Krafte ein Garant fUr StabiliUit. Es ist daher dringend erforderlich, daB von Seiten der Wissenschaftler ein deutliches Signal gesetzt wird, damit die BOrger die Bildhaftig keit der Naturwissenschaft erkennen konnen. Es ist an der Zeit, deutlich und verstandlich auszusprechen und zu zeigen, daft die ver meintliche Sicherheit, die das naturwissen schaftlich-technische Bild vermittelt hat, in Wirklichkeit immer nur eine Illusion war. Ein kritisches Uberwachen von Naturwissen schaft und Technik durch andere Ideen. zum Beispiel durch ethische Ideen oder bloB durch Bilder, in denen noch eine Ehrfurcht vor der Schopfung durchklingt, kann der Gesellschaft nur dienlich sein. Eine Kontrolle der Naturwis senschaft durch Naturwissenschaftler, die von Naturwissenschaftlem ausgewiihlt wurden, ist hierfiir natOrlich ungeeignet und wirkt wie ein schlechter Scherz. Die ohnehin schon machti gen Mechanismen, die das wissenschaftliche Denken auf schmale Pfade kostspieligster Tech nologien konzentrieren, werden dadurch nur noch mehr verstarkt. Und genau das Gegenteil ware aber erforderlich. 6