Georg Doblhofer Vergewaltigung in der Antike Beiträge zur Altertumskunde Herausgegeben von Ernst Heitsch, Ludwig Koenen, Reinhold Merkelbach, Clemens Zintzen Band 46 B. G. Teubner Stuttgart und Leipzig Vergewaltigung in der Antike Von Georg Doblhofer B. G. Teubner Stuttgart und Leipzig 1994 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Doblhofer, Georg: Vergewaltigung in der Antike / von Georg Doblhofer. — Stuttgart; Leipzig: Teubner, 1994 (Beiträge zur Altertumskunde; Bd. 46) Zugl.: Graz, Univ., Diss., 1992 ISBN 3-519-07495-8 NE: GT Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts- gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt besonders fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © B. G. Teubner Stuttgart 1994 Printed in Germany Druck und Bindung: Röck, Weinsberg Parentibus Vorwort Der vorliegende Band ist eine überarbeitete Fassung meiner Dis- sertation, die 1992 an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Uni- versität Graz angenommen wurde. Die Idee zu dieser Arbeit kam mir 1987 in München, als Professor Niklas Holzberg in einer Vorlesung über Ovids Metamorphosen auch die zahlreichen Vergewaltigungen behandelte. Wegen anderer Arbeiten mußte der Gedanke zunächst ruhen, bis ich ihn 1989 Professor Ingomar Weiler als Dissertationsvorhaben unterbreiten konnte. Ihm möchte ich hier meinen Dank sagen für seine prompte Bereitschaft, die Arbeit zu betreuen, und für die Freiheit, die er mir in der Folge bei der Abfassung ließ. Mein Dank geht auch an den Koreferenten Professor Heribert Aig- ner für wertvolle Hinweise zu einzelnen Problemen, und in besonderer Weise an die Herausgeber der "Beiträge zur Altertumskunde", vor al- lem an Professor Clemens Zintzen, der so freundlich war, die Arbeit in diese Reihe aufzunehmen. Graz, September 199S Georg Doblhofer Inhalt Einleitung VIII 1 Der Begriff der Vergewaltigung 1 Vergewaltigung in der Diskussion heute 1 - Versuch einer Defi- nition 4 ~ Die antiken Bezeichnungen 5 - ,Gewaltfreie' Darstel- lungen 7 - Die Geschichte von Lucretia 9 2 Vergewaltigung und soziale Ordnung, oder: Wer darf vergewaltigt werden? 18 Vergewaltigung und Sklaverei 18 - Der Besitz von Frauen als Kriegsziel 23 - Demütigung der Besiegten 25 - Könige und Feld- herren 28 - Tyrannen und andere Unterdrücker 34 - Der An- spruch auf sozialen Rang und die Schönheit der Opfer 40 - Ver- gewaltigung als Strafe 45 - Zusammenfassung 46 3 Vergewaltigung und die Folgen: Täter und Opfer, Ehe und Familie 47 Selbsthilfe und Selbstjustiz 4 7 - Gesetzliche Strafen 52 - Folgen für die Opfer 64 - Gegenstimmen 79 - Zusammenfassung 81 4 Vergewaltigung im Mythos 83 Aitiologische und genealogische Funktion 83 - Mißglückte Ver- suche 88 - Vergewaltigte Mädchen 90 - Die prominente Rolle der Frauen im Mythos 92 VII 5 Veränderungen im Lauf der Jahrhunderte 94 Vergewaltigungen im Gefolge eines Krieges 95 - Zunehmende Aufmerksamkeit des Staates: Veränderungen im Bereich der Ge- setze 97 - Die Frauen als Opfer 99 - Konsequenzen 104 6 Schluß 106 Literaturverzeichnis 112 Stellenregister 123 Personen- und Sachregister 130 Einleitung Obwohl die Altertumswissenschaften vor allem in den letzten fünf- undzwanzig Jahren eine Fülle an Literatur zu den Themen ,Frauen' und ,Sexualität' hervorgebracht haben, gibt es darin zur Vergewalti- gung nur kurze Bemerkungen und Fußnoten. Abgesehen von Donald- sons bereits 1982 erschienenem Werk über Lucretia, das sich vor allem mit der Wirkungsgeschichte des Stoffes befaßt, wurden erst in den letzten Jahren einige Aufsätze veröffentlicht, die sich allerdings nur mit einzelnen Aspekten von Vergewaltigung beschäftigen (zu nennen sind hier Arbeiten von Cohen, Cole, Curran, Dixon, Fantham, Harris, Joshel, Kilmer, Packman und Richlin; siehe das Literaturverzeichnis unten S.112ff.) Im vorliegenden Buch wird erstmals der Versuch un- ternommen, das Phänomen in seiner Gesamtheit vor dem Hintergrund seiner historischen Bedingungen zu betrachten. Diesem Vorhaben lag die Absicht zugrunde, einen uns heute geläufi- gen, komplexen Begriff wie den der Vergewaltigung herzunehmen, ihn den Aussagen der antiken Texte gegenüberzustellen und daraus nach den Worten des französischen Althistorikers Paul Veyne ein ,Inventar der Differenzen'1 zu erstellen, das einige in einer Gesellschaft wirkende Notwendigkeiten und Bedürfnisse erkennen läßt; zuzusehen also, wie Vorgänge in Begriffe gefaßt werden und dabei manche ihrer Aspekte Eingang finden, andere nicht. Angesichts des Mangels an grundlegenden Arbeiten, auf denen hätte aufgebaut werden können, erschien es wünschenswert, einen eini- germaßen repräsentativen Uberblick zu bieten. Es konnte daher einzel- nen Problemen nicht so viel Raum gegeben werden, wie sie ihn für sich betrachtet durchaus verdienen würden - etwa den Bereichen Verge- waltigung und Krieg' oder ,Vergewaltigung im Mythos'; hier eröffnet sich eingehenderen Untersuchungen ein weites Feld. Die juristischen Bestimmungen wiederum werden, weil dieses Buch von einem gesell- schaftsgeschichtlichen und nicht so sehr einem rechtsgeschichtlichen Interesse geleitet ist, nicht losgelöst gesehen, sondern als Symptome Paul Veyne, Ein Inventar der Differenzen. Antrittsvorlesung am College de France (Original: L'Inventaire des differences, Paris 1976), in: ders., Die Ori- ginalität des Unbekannten. Für eine andere Geschichtsschreibung, Frankfurt 1988, 7-42. IX Einleitung des sozialen Umgangs mit Vergewaltigung aufgefaßt und in die Argu- mentation einbezogen wie viele andere auch. Um ein relativ geschlossenes Bild, wie es hier gezeichnet werden sollte, rechtfertigen zu können, wurden nur Texte von den homeri- schen Epen bis zum 3. Jh.n.Chr. herangezogen (einige Beispiele aus den römischen Rechtstexten überschreiten diese Grenze), weil die christ- liche Epoche mit ihren spezifischen Wertvorstellungen die Bedingun- gen für den Umgang mit Vergewaltigung so sehr veränderte, daß jede Frage zweifach hätte beantwortet müssen. Für das Anliegen des Bu- ches, das Verhältnis zwischen Vorgängen und den ihnen zugeordneten Begriffen zu untersuchen, hätte das ein völlig neues Feld eröffnet. Aus demselben Grund blieb auch die homosexuelle Vergewaltigung ausge- klammert, deren Rahmenbedingungen ganz andere waren als die der Vergewaltigung von Frauen. Da die meisten Beispiele von den Autoren als Illustration bestimm- ter Ereignisse oder Charaktere gedacht sind, ist ihre Historizität, auch wenn sie nicht dem Mythos entstammen, höchst zweifelhaft und ließe sich in kaum einem Fall beweisen. In der Argumentation wurde daher versucht, ihren eigentlichen Charakter angemessen zu berücksichtigen: als Werturteile und Normvorstellungen der Autoren verstanden lassen sie an Aussagekraft nichts zu wünschen übrig. Die ausgewählten Beispiele stammen aus den Texten von rund 65 antiken Autoren, von denen 45 systematisch durchgesehen wurden. Aus naheliegenden Gründen wurden dabei Geschichtsschreiber, Red- ner, Verfasser von Komödien, Mythographen, die römischen Rechts- texte und die sogenannten Bunt schrift st eller (die über Gott und die Welt schrieben) stärker berücksichtigt als Philosophen, Lyriker, Tragi- ker und Epiker; zusammen ergab dies ein Korpus von über 750 Stellen. Gewiß ist jede solche Auswahl angreifbar, und jeder Leser wird diese oder jene Stelle vermissen; angesichts der breiten textlichen Grund- lage aber hätte die Heranziehung weiterer Stellen und Autoren zwar vielleicht hier und da noch ein interessantes Detail zu Tage gefördert, kaum aber geholfen, das gesteckte Ziel zu erreichen: ein umfassendes Bild von Vergewaltigung in der Antike zu gewinnen, dabei vor allem auf den Zusammenhang mit den spezifischen sozialen Bedingungen zu achten und so Überlegungen über die Grundlagen des Umgangs mit Vergewaltigungsopfern in anderen Epochen bis zur heutigen zu ermöglichen und anzuregen. Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel; das erste soll in die aktu- Einleitung χ eile Diskussion um Vergewaltigung heute und in die allgemeine Pro- blematik von Vergewaltigung in der Antike einführen. In den beiden folgenden Kapiteln werden die Auswirkungen von Vergewaltigung in der näheren und ferneren sozialen Umgebung der Opfer untersucht; das vierte Kapitel faßt die besonderen Bedingungen ins Auge, denen Vergewaltigungsschilderungen im Mythos unterworfen sind, und im fünften Kapitel sollen zeitliche Veränderungen im Umgang mit Ver- gewaltigung erfaßt und bewertet werden. Das Schlußkapitel will die Bedingungen für den Umgang mit Vergewaltigung offenlegen und ei- nige allgemeinere Überlegungen anfügen. Die Übersetzungen antiker Zitate sind den am Ende des Litera- turverzeichnisses angeführten Ausgaben entnommen und gelegentlich leicht verändert; alle dort nicht genannten Übersetzungen stammen vom Autor.