Christoph Hönnige · Sascha Kneip · Astrid Lorenz (Hrsg.) Verfassungswandel im Mehrebenensystem Christoph Hönnige · Sascha Kneip Astrid Lorenz (Hrsg.) Verfassungswandel im Mehrebenensystem Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch | Monika Mülhausen VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werkeinschließlichallerseiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohneZustimmungdes Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesond ere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei- cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-15617-0 Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis 1. Theoretisch-konzeptionelle Überlegungen Formen, Ebenen, Interaktionen – eine erweiterte Analyse des Verfassungswandels Christoph Hönnige/Sascha Kneip/Astrid Lorenz ......................................... 8 Das Zusammenspiel der Ebenen beim expliziten und impliziten Verfassungswandel Arthur Benz ................................................................................................ 21 Ziele, Formen und Prozessstrukturen des Verfassungswandels in Mehrebenensystemen Bettina Petersohn/Rainer-Olaf Schultze .................................................... 41 2. Expliziter Wandel des Grundgesetzes Substanzbezogenes und alternatives Nutzenmaximierungsverhalten von Akteuren und die Auswirkungen auf das Grundgesetz Astrid Lorenz .............................................................................................. 76 Verfassungsreformen in der Bundesrepublik: 1969 – 1994 – 2006 Florian Grotz ........................................................................................... 108 Wandlungen des Grundgesetzes unter dem Einfluss der Ebenen des Europarechts und des Völkerrechts Rudolf Streinz ........................................................................................... 130 Zwei-Ebenen-Spiele und die Asylrechtsreform von 1993 Dorothee Lauter/Arne Niemann/Sabine Heister ...................................... 158 Ziele und Grenzen europäischer Konstitutionalisierung vom Verfassungs- zum Lissabonner Vertrag Peter Becker/Andreas Maurer ................................................................. 179 Die deutschen Länder als erfolgreiche Mehrebenen-Spieler und verfassungspolitische Agenda-Setter Martin Große Hüttmann .......................................................................... 207 6 Inhaltsverzeichnis 3. Impliziter Wandel des Grundgesetzes Spiel über Bande. Intendierter und nicht-intendierter Verfassungswandel durch Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht Sascha Kneip ............................................................................................ 228 Impliziter Verfassungswandel durch das Bundesverfassungsgericht in gesellschaftlichen und politischen Fragen Christoph Hönnige ................................................................................... 249 Verfassungswandel durch Annäherung? Der Europäische Gerichtshof, das Bundesverfassungsgericht und das Grundgesetz Franz C. Mayer ........................................................................................ 272 Die Erfindung eines neuen Grundrechts. Zu Konzept und Auswirkungen der „informationellen Selbstbestimmung“ Andreas Busch/Tobias Jakobi .................................................................. 297 Das Wechselspiel zwischen Bund und Ländern bei der Verschiebung hochschulpolitischer Kompetenzen Peer Pasternack ....................................................................................... 321 4. Neue Problemstellungen und vorläufige Befunde der erweiterten Analyse des Verfassungswandels in modernen Demokratien Verfassungswandel im Kontext. Aspekte einer Theorie des Verfassungswandels Gunnar Folke Schuppert .......................................................................... 346 Legitimation und Integration durch Verfassung in einem Mehrebenensystem Roland Lhotta/Sabrina Zucca-Soest ........................................................ 367 Der Wandel des Grundgesetzes aus neo-institutionalistischer Sicht. Resümee und Ausblick Sascha Kneip/Astrid Lorenz ......................................................................387 Über die Autoren ............................................................................................ 413 1. Theoretisch-konzeptionelle Überlegungen Formen, Ebenen, Interaktionen – eine erweiterte Analyse des Verfassungswandels Formen, Ebenen, Interaktionen Christoph Hönnige/Sascha Kneip/Astrid Lorenz 1 Verfassungswandel und Politikwissenschaft Verfassungen definieren die grundsätzlichen Regeln einer Gesellschaft. Sie sind Meta-Regeln, die allen nachgeordneten Regeln, die in einer Gesellschaft und einem Staat gelten sollen – Gesetzen, Verordnungen und Entscheidungen –, eine Struktur geben und bestimmen, wie sie angewendet, interpretiert und durchgesetzt werden (Stone 2000; Vorländer 2009: 9 f.). Dabei beinhalten Verfassungen typi- scherweise einen Katalog von Schutzrechten des Individuums gegenüber dem Staat und anderen Bürgern sowie die zentralen Institutionen und Verfahren der Staatsorganisation. Damit sind sie die niedergeschriebene Quelle staatlicher Macht und regeln auch deren Verteilung (Lorenz 2008). Das Verfassungsprinzip geht in modernen Demokratien zumeist Hand in Hand mit dem Demokratieprin- zip und hegt die – an sich zunächst unregulierte – Mehrheitsherrschaft ein, um eine Tyrannei dieser Mehrheit zu verhindern. Verfassungsprinzip und Demokra- tieprinzip stehen also in einem latenten Spannungsverhältnis (Murphy 1993; Kielmannsegg 1988), das jedoch über die Idee einer „Gleichursprünglichkeit“ von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie tendenziell aufgelöst werden kann (Habermas 1992). Die (vergleichende) Regierungssystemforschung setzt sich mit der Anlage und Wirkung von Verfassungsnormen auseinander. Sie analysiert mit verschie- denen Konzepten wie der Unterscheidung von Präsidentialismus, Semi-Präsiden- tialismus und Parlamentarismus (Steffani 1979; Duverger 1980; Shugart/Carey 1992), Konsens- und Mehrheitsdemokratie (Lijphart 1984, 1999) oder der Veto- punkte- bzw. Vetospielertheorie (Immergut 1992; Tsebelis 1995) die Verteilung staatlicher Macht und ihre Effekte auf Systemstabilität und Policy-Output. In jüngster Vergangenheit entwickelte die Politikwissenschaft zudem ein begründe- tes Interesse an den Dynamiken institutioneller Settings. Die Leitfragen lauten nun: Warum und wie entstehen die entsprechenden Regeln im Verfassungsge- bungsprozess und wie werden sie – einmal in Kraft gesetzt – im Laufe der Zeit angepasst und verändert? Erste Analysen zu diesem Thema haben sich bei- spielsweise mit den Verfassungsgebungsprozessen in mittel- und osteuropäi- C. Hönnige et al. (Hrsg.), Verfassungswandel im Mehrebenensystem, DOI 10.1007/978-3-531-92909-5_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Formen, Ebenen, Interaktionen 9 schen Staaten (Bos 2004; Elster 1993; Elster/Offe/Preuß 1998) oder der Aus- handlung der Verträge zur Europäischen Union beschäftigt (König/Hug 2006; Wessels 2002). Der vorliegende Band soll diese Analysen ergänzen und erwei- tern, indem er den Wandel einer nationalen Verfassung, des Grundgesetzes, im Kontext innerstaatlicher und europäischer Mehrebenenstrukturen analysiert und erklärt. Damit erschließt das Buch Neuland. Das Thema Verfassungswandel wurde zwar von der Politikwissenschaft – sowohl außerhalb wie auch innerhalb Deutsch- lands – neu entdeckt (Lorenz 2008; Busch 1999; Benz/Colino 2011; Behnke/Benz 2009; Benz 1993; Schultze 1997). Doch es finden sich insgesamt nur wenige ver- gleichende Forschungsarbeiten zur Erfassung und Erklärung von Verfassungswan- del (Lutz 1994; Kaiser 2002; Lorenz 2005; Lijphart 1999; Bellamy/Castiglione 1996), und auch die Besonderheiten des Mehrebenensystems für den Verlauf von Verfassungswandelprozessen haben bislang noch wenig Beachtung gefunden. Außer Frage steht, dass die Analyse des Wandels von Verfassungen hohe empirische Relevanz besitzt. Zum einen werden über die Summe vieler im Ein- zelnen oft unspektakulär erscheinender Modifikationen die Spielregeln für die beteiligten Akteure im politischen System verändert. Diese Änderungen können signifikante Folgen für Kompetenzordnungen und Entscheidungsverfahren nach sich ziehen (vgl. Thelen 2003: 210) – ebenso wie die größeren Verschiebungen, wie sie bei den bundesdeutschen Föderalismusreformen 2006 und 2009 sichtbar wurden. Zum anderen ist Verfassungswandel aber auch gesellschaftlich relevant. Verfassungen verweisen auf die grundlegenden Prinzipien, nach denen sich eine Gesellschaft ordnen will (Vorländer 2009: 10). Da sie also den normativen Grundkonsens einer Gesellschaft festschreiben, ist es nicht nur für den Wissen- schaftler, sondern auch für den Bürger wichtig, ob, wie und warum sich dieser Konsens ändert. Er ist nicht nur idealtypisch Träger dieses Konsenses, sondern er ist auch von den Ergebnissen direkt betroffen, wie etwa die Konstitutionalisie- rung der Verfassungsbeschwerde 1969, die Umwandlung der Bundesbahn in ein privatwirtschaftliches Unternehmen 1993, die Verpflichtung des Staates zur Förderung der tatsächlichen Gleichstellung von Männern und Frauen 1994 oder die Ermöglichung des Großen Lauschangriffs 1998 verdeutlichen, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. 2 Der konzeptionelle Beitrag des Bandes zur Verfassungswandelforschung Der vorliegende Band möchte nicht nur empirisch, sondern auch konzeptionell zur Schließung der beschriebenen Forschungslücke beitragen. Grundlage hier- 10 Christoph Hönnige/Sascha Kneip/Astrid Lorenz für ist ein Konzept, das Formen, Ebenen und Interaktionen des Verfassungs- wandels im Mehrebenensystem der Bundesrepublik Deutschland systemati- siert. Dafür werden zum einen erstmals in diesem Umfang Analysen zum ex- pliziten und impliziten Verfassungswandel zusammengeführt (siehe hierzu Abschnitt 2.1). Zum anderen werden systematisch Effekte von Akteuren und Akteurshandeln auf unterschiedlichen politischen Ebenen (Bund, Länder, Eu- ropäische Union) auf das Grundgesetz beleuchtet (siehe hierzu Abschnitt 2.3). Damit verabschiedet sich der Band zugleich vom methodischen Nationalismus. Er fokussiert sich zwar auf eine nationale Verfassung, das Grundgesetz, doch nimmt er dabei die sich zunehmend verändernden politischen Rahmenbedin- gungen im Mehrebenensystem der Europäischen Union in den Blick (siehe hierzu Abschnitt 2.2). Die Europäisierung der Politik und das zunehmende Gewicht der Regionen innerhalb der Europäischen Union erhöhen tendenziell die Zahl der für den Verfassungswandel relevanten Akteure und verschieben traditionelle Kräftekonstellationen, auch wenn die meisten EU-Staaten nach wie vor nicht-föderal organisiert sind. 2.1 Formen: Gemeinsame Erfassung von explizitem und implizitem Verfassungswandel Der Wandel von Verfassungen kann auf zweierlei Weise erfolgen: auf explizite und auf implizite. Expliziter Verfassungswandel meint konkrete Änderungen am Verfassungsdokument selbst und bedarf in der Bundesrepublik einer Zweidrit- telmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Der explizite Verfassungswandel ist vergleichsweise transparent und für jeden Bürger leicht nachzuvollziehen, da der Verfassungstext selbst über entsprechende Verfassungsänderungsgesetze modifi- ziert werden muss. Trotz des hohen Quorums, das zur expliziten Verfassungsän- derung notwendig ist, und der vielen Entscheidungsbeteiligten finden explizite Grundgesetzänderungen in der Bundesrepublik regelmäßig statt (Lorenz 2007). Die Änderungen können als ordnungspolitische Instrumente eines Wirkens in die Gesellschaft hinein und als Instrumente des Machtspiels zwischen konkreten Akteuren dienen, die in Deutschland „in eigener Sache“ entscheiden. Innerhalb des europäischen Mehrebenensystems ist das Grundgesetz aber inzwischen auch Veränderungsdruck von europäischer Seite ausgesetzt und wird zugleich mit Ansprüchen subnationaler Akteure konfrontiert. Die nationale Verfassungspoli- tik muss damit auf veränderte Akteurskonstellationen, Ansprüche und Forderun- gen von verschiedenen Ebenen reagieren. Gleichzeitig wandelt sich die Verfassung implizit. Im Gegensatz zum ex- pliziten Verfassungswandel, der nur über die dafür vorgesehenen formalen