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Unterschichten in Deutschland: Materialien zu einer kritischen Debatte PDF

208 Pages·2010·0.859 MB·German
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Karl August Chassé Unterschichten in Deutschland Karl August Chassé Unterschichten in Deutschland Materialien zu einer kritischen Debatte Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. . 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes istohneZustimmungdes Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbeson - dere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Ein- speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16183-9 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 I Die Moralisierung sozialer Ungleichheit – Konstruktionen der Unterschicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1 „Berichte“ zur Unterschicht – Materialien und Kommentare . . . . . . 18 2 Paul Noltes Erziehung der „neuen Unterschicht“ . . . . . . . . . . . . . . . 39 3 Die Untersuchung „Gesellschaft im Reformprozess“ . . . . . . . . . . . . 50 4 Die Entwicklung von Deklassierung, Exklusion und Prekarität in (Ost)Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 II Zur Theorie und Empirie der Unterschichten in Deutschland . . 62 1 Wandel der Arbeitsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2 Kinderarmut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3 Zum Moralisierungsdiskurs über soziale Ungleichheit und Unterschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 4 Theoretischer Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 5 Die Feldtheorie von Pierre Bourdieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 6 Milieutheorie(n) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 7 Michael Vesters relationale Milieutheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 8 Die underclass Debatte und die aktuellen Verschiebungen der Diskussion um Ungleichheit und Unterschicht . . . . . . . . . . . . . 161 III Neue Regulationen? Die Unterschichtendebatte im aktuellen Blick . . . . . . . . . . . . . 173 Wichtigste Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 5 Vorwort Seit einiger Zeit ist in Deutschland wieder von Unterschichten die Rede. Dies gilt nicht nur für die Soziologie, für die Öffentlichkeit – die Medien – und die Politik, auch in der Bevölkerung scheint das Bedürfnis einer neuen Abgrenzung nach unten zu wachsen. Im Zuge der gestiegenen Wahrnehmung einer zuneh- menden sozialen Ungleichheit wird zudem auch die Frage gestellt, ob sich die neu Benachteiligten nicht nur sozioökonomisch, sondern auch kulturell von den besser Gestellten unterscheiden. In diesem Zusammenhang erleben Begriffe wie Klasse und Schicht in den letzten Jahren eine Renaissance, nicht nur in den Sozialwissenschaften, son- dern auch in den Medien, vor allem den Wochenzeitschriften und in Fernseh- sendungen. Neu ist hier, dass nicht nur von einem Klassenbewusstsein in der deutschen Gesellschaft gesprochen wird, das anwachse, sondern in erster Linie ist von einer unteren Klasse die Rede. Von neuen Unterschichten sprechen Historiker (Nolte 2004) und andere Be- obachter und die Medien greifen begierig diesen neuen Topos auf. Auch in der Wahrnehmung und im Selbstverständnis der Menschen scheinen sich die Dinge zu verändern. Das vorliegende Buch will einen genaueren Blick auf die mit diesen neuen Semantiken verbundenen Entwicklungen werfen. Gibt es überhaupt so genannte „neue Unterschichten“? Welche gesellschaftlichen Gruppen sind damit ange- sprochen? Trifft das Bild zu, welches die Medien und auch die Politik von be- nachteiligten Bevölkerungsgruppen und Hartz IV-Empfängern zeichnen? Wer- den hier nicht völlig heterogene Gruppen in einen Topf geworfen? Lässt sich die vordergründige Plausibilität, die die Konstruktion der so genannten neuen Unterschichten in Anspruch nimmt und die vor allem auf ihre Eigenschaften, ihre Kultur, ihre Einstellungen und ihrer Mentalität abzielt, tatsächlich empi- risch belegen? Oder könnte es sein, dass die Existenz der neuen Unterschichten lediglich das Ergebnis von teils wissenschaftlichen, teils medialen Konstruk- tionen darstellt, die Vorurteile und Abgrenzungsschemata, die sich bis im 19. Jahrhundert zurückverfolgen lassen, zeitgemäß aufbereitet und lediglich durch beständige Wiederholung und gelegentliche Erzeugung moralischer Paniken an- schaulich machen kann? Aber der historische Hinweis lässt zugleich den Zeitbezug der Gegenwart deutlich werden. Der moralische Blick auf die Underdogs des 19. Jahrhunderts rechtfertigte nicht nur die Ablehnung der Armengesetzgebung. Er trug auch zur Sozialdisziplinierung der sich formierenden Lohnarbeit bei, indem die Verin- nerlichung und Durchsetzung der protestantischen Ethik von Arbeitsmoral und Arbeitstugenden eine Abgrenzungsfolie erhielt, die sich vor allem auf das mora- 7 Unterschichten in Deutschland lische Fehlverhalten – die Disziplinlosigkeit und die sexuelle Freizügigkeit – be- zog. Die Klage über den gesamtgesellschaftlichen Verfall christlicher (so schon der Gründer des Rauhen Hauses, Wichern 1833, der daraus die Notwendigkeit einer „inneren Mission“ begründete) bzw. bürgerlicher Werte begleitet nicht nur die Entstehungsgeschichte der modernen Gesellschaft, sondern auch ihre ge- genwärtigen Veränderungen. Freilich werden in der gegenwärtigen Diskussion über die Unterschichten diese alten Topoi durch neue Vokabeln und Thematisie- rungsweisen ersetzt. Die Parallele zur damaligen Unterscheidung von würdigen und unwürdigen Armen durch die Sozialpolitik beziehungsweise die Vorläufer der sozialen Arbeit ist jedoch deutlich. Einerseits wird die Rede von der Unter- schicht mit der Umstellung sozialstaatlicher Leistungen von fi nanzieller Unter- stützung auf pädagogische Interventionen verbunden und es werden fi nanzielle Leistungen mit Verhaltensanforderungen und Pfl ichten gekoppelt. Der Unter- schichtdiskurs begründet also Aktivierungspolitiken. Zum anderen richten sich diese Diskurse an die Mehrheit der Gesellschaft, der die Existenz sozialer Aus- schließung als legitim verdeutlicht werden soll. Benachteiligung wird als selbst gewählt konstruiert. Da die Mehrheit der Gesellschaft aber selbst über die Ge- fährdungen ihres Status und die Sicherheit und Berechenbarkeit ihrer Lebens- perspektiven besorgt ist, gibt ihr der Unterschichtdiskurs in seiner derzeitigen Form nicht nur eine Abgrenzungsfolie. Er stellt auch eine bedrohliche Perspek- tive vor, über den Verlust des Arbeitsplatzes recht schnell ins gesellschaftliche Unten und Abseits zu geraten. So gesehen, handeln die Diskurse um die neuen Unterschichten nicht wirklich von den Underdogs, sondern richten sich an die Mitte der Gesellschaft, deren Sorgen vor Statusverlust und sozialer Deklassie- rung wohl begründet sind. Sie sollen sich nicht nur verstärkt abgrenzen können, sie sollen auch selbst die Anforderungen der Flexibilität und Selbstverantwor- tung für das eigene Leben übernehmen und – die bisherige wohlfahrtsstaatliche Solidarität mit benachteiligten Gruppen soll beendet werden. Dieses Buch ist so aufgebaut, dass es eine schrittweise Annäherung an die und allmähliche Vertiefung der Diskurse über die Unterschicht ermöglicht. Im ersten Teil werden exemplarisch einige der medialen und politischen Konstruktionen vorgestellt und kommentiert. Der zweite Teil erarbeitet verschiedene Theorie- teile, mit denen theoretisch und empirisch ein Kontext zum Verständnis der Unterschichten und der Unterschichtendiskussion entwickelt werden kann. Der dritte Teil versucht dann eine abschließende Rekonstruktion und zusammenfas- sende Deutung der gesamten Debatte. Dieses Buch geht auf eine Anregung von Stefanie Laux vom VS Verlag zu- rück. Sie hat mich angesprochen und über lange Zeit ermutigt, über die Schwie- rigkeiten einer durch die neuen Studiengänge besonders belasteten Tätigkeit als Hochschullehrer hinaus immer wieder an diesem Buch zu arbeiten. Ihr sei dafür 8 Vorwort ebenso gedankt wie Helga und Chiara, die die Zeitknappheit, die das Schreiben eines Buches mit sich bringt, verständnisvoll und geduldig ertrugen. Da ich mich seit zwei Jahren mit dem Thema „neue Unterschichten“ befasse, sind einige der hier vorgetragenen Argumente nicht neu, ich habe mich aber bemüht, textliche Doppelungen zu andernorts veröffentlichten Einschätzungen zu vermeiden. Karl August Chassé Frankfurt, Juli 2009 9 Einführung Das soziale Klima in Deutschland verändert sich. Über viele Jahre war aus der öffentlichen Debatte, aber auch aus der wissenschaftlichen Diskussion das Wort Unterschicht verschwunden. Noch in den 1980er und 1990er Jahren war die so- ziologische Zeitdiagnose von Ulrich Beck allgemein akzeptiert, dass die gesell- schaftliche Entwicklung der Modernisierung ab den 1960er Jahren zu einer Auf- lösung traditioneller Sozial- und Herkunftsmilieus geführt habe, und dass die zunehmende Individualisierung tendenziell in eine Gesellschaft „Jenseits von Klasse und Stand“ (Beck 1983) gemündet sei. Aber in den letzten Jahren scheint ein neues Bewusstsein einer „gespaltenen Gesellschaft“ (Lessenich/Nullmeier 2006) zu entstehen. Auch in der Sozialen Arbeit wurde seit dem Siegeszug des Lebensweltkon- zepts davon ausgegangen, dass Soziale Arbeit nun nicht mehr erstrangig mit randständigen und stark benachteiligten Gruppen als Adressaten zu tun habe, sondern sich aufgrund der ubiquitären Krisen und Brüche in den Lebensläufen als Folge der Individualisierung und Enttraditionalisierung in der Gesellschaft tendenziell an alle richtet (8. Jugendbericht, Rauschenbach 1999). Gerade die- se große gesellschaftliche Veränderung – die Modernisierung bringt tendenziell Risikosituationen im Lebenslauf für alle hervor – wurde im Selbstverständnis der Sozialen Arbeit als Basis für das sozialpädagogische Jahrhundert – den beispiellosen Aufstieg der Profession und Disziplin der sozialen Arbeit in der Nachkriegszeit – gesehen und mit der Ausweitung der Arbeitsfelder, der Auf- gaben, der Funktionsbereiche und der Methoden der Sozialen Arbeit verbunden (vgl. Chassé/Wensierski 2008: 8ff.). In der soziologischen Diskussion um die Sozialstruktur der Bundesrepublik bestand über Jahrzehnte Einigkeit darüber, dass das gesellschaftliche „unten“ abgenommen habe, auch bei jenen Autoren, die Helmut Schelskys Deutung der nivellierten Mittelstandsgesellschaft nicht geteilt haben. Ralf Dahrendorf nennt in seiner Darstellung der westdeutschen Sozialstruktur von 1965 in Form eines Hauses lediglich 5% der Bevölkerung als Mitglieder einer Unterschicht und auch im prominenten Zwiebelmodell von Martin Bolte sind die deutschen Randschichten entsprechend klein. Auch Rainer Geißler bezeichnete bis heute nur deutsche Randschichten als Unterschicht, und er erweiterte das Dahrendorf- sche Haus-Modell um einen Anbau, in dem die ausländische Bevölkerung in einer parallelen benachteiligten sozialen Situation platziert ist (Geißler 2006: 100). Seit den 1990er Jahren verändert sich allerdings die Diskussion der Sozial- strukturanalyse. Soziale Ungleichheiten nehmen zu und in Verbindung damit werden auch klassentheoretische Erklärungen wieder aufgegriffen. Dass im un- 10 Einführung teren Bereich der Gesellschaft sehr viel in Bewegung ist und dass diese Bewe- gung durch die Veränderungen der Sozialpolitik noch forciert wird – vor allem durch die Ersetzung der lohnbezogenen Arbeitslosenhilfe durch eine Grund- sicherung, die so genannte Hartz IV-Reform, begleitet von einem politischen Umstieg auf Aktivierungspolitik: “fördern und fordern“ – beginnt zunehmend Gegenstand sozialwissenschaftlicher Thematisierung zu werden. Dabei richtet sich ein Teil der Aufmerksamkeit auf die Veränderungen im gesellschaftlichen „Unten“. Geißler z. B. registriert sehr wohl, dass vor allem in Ostdeutschland Abstiegsprozesse aus der Mittelschicht zur Unterschicht in größerem Maße stattfi nden, hält dies aber für eine vorübergehende Erscheinung. Andere Sozial- wissenschaftler, vor allem die Hannoveraner Arbeitsgruppe um Michael Vester, registrieren große Veränderungen innerhalb der Unterschicht, die ihre bislang halbwegs integrierte und sichere Position zu verlieren droht. Sie sehen darü- ber hinaus vor allem verschärfte Abgrenzungsbemühungen in der Mittelschicht, die von den gleichen gesellschaftlichen Entwicklungen ebenfalls verunsichert ist. Andere Kommentatoren konstatieren bereits, dass das Bedürfnis einer viel schärferen Abgrenzung nach unten längst in den Alltag breiter Bevölkerungs- gruppen eingezogen sei (Lessenich/Nullmeier 2006: 23). Sie beziehen sich damit bereits auf eine deutsche Debatte, die seit 2004 ver- stärkt die Herausbildung und Verfestigung einer neuen deutschen Unterschicht behauptet und damit nicht nur eine Gesellschaftsdiagnose verbindet, sondern auch eine gesellschaftliche Vision verkündet, nach der der Einzelne sich freudig auf das Marktgeschehen einzulassen und sich darin zu behaupten habe. Dass da- mit auch vor allem die Reformen der Agenda 2010 und die damit verbundenen Zumutungen für die betroffenen Gruppen gerechtfertigt werden sollen, dürfte ein weiteres Motiv – und ein weiterer Aspekt – dieser Debatte sein. Der Beginn dieser deutsche Debatte über die „neue Unterschicht“ lässt sich mit der Veröffentlichung der programmatischen Erweckungsschrift „Generati- on Reform“ von Paul Nolte (2004) zeitlich terminieren. Dieses Buch ist recht bald in die Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung aufgenom- men worden, wird bis heute dort für zwei Euro vertrieben – einen Bruchteil des Ladenpreises – und hat für eine erhebliche Verbreitung dieser Position ge- sorgt. Parallel beginnen wichtige Medien diese Konstruktionen aufzugreifen und ein bestimmtes Bild der neuen Unterschicht zu zeichnen. Der Artikel von Walter Wüllenweber im Stern 52/2004 mit dem Titel „Das wahre Elend“ stellt einen ersten Höhepunkt dieser Debatte dar. Die Bundesgemeinschaft der frei- en Wohlfahrtspfl ege hat ihm für diesen Artikel den deutschen Sozialpreis 2005 verliehen. Ähnliche Artikel im Stern, im Spiegel, und vor allem in den privaten TV-Sendern folgen. Der Talkmaster Harald Schmidt spricht über Monate vom 11 Unterschichten in Deutschland „Unterschichtenfernsehen“, das zur Verdummung, ja vielleicht zur Herausbil- dung einer Unterschicht beiträgt. Am deutlichsten wird die neue Sicht auf Benachteiligung und Unterschicht bei Paul Nolte, einem Berliner Historiker. Es seien die Einstellungen und Mentali- täten, ja die gesamte Lebensweise der Unterschicht, die eine Kultur der Armut, eine neue Unterschicht hervorgebracht haben. Dequalifi ziert, verarmt, isoliert, demotiviert und konsumabhängig vegetieren diese Gesellschaftsmitglieder vor sich hin. Bei Paul Nolte erreicht die Deutung einer neuen Unterschicht einen neuen Höhepunkt: zum einen wird die Tatsache sozialer Ungleichheit zum un- weigerlichen Faktum einer freiheitlichen Gesellschaft erklärt. Sie ist gleichsam naturgegeben und unabänderbar. Zum zweiten werden die Probleme der Unter- schicht umgedeutet oder jedenfalls interpretiert als Probleme der Lebensfüh- rung, einer neuen Unterschichtkultur, einer Mitnahmementalität. Der Sozial- staat habe diese Kultur mit hervorgebracht, mit einer Politik der fürsorglichen Vernachlässigung. Damit meint Nolte, dass Transferzahlungen geleistet wurden und nicht eine gezielte und notwendige Beeinfl ussung der Lebensführungsweise dieser Gesellschaftsmitglieder stattgefunden habe. Seine Konsequenz ist, kurz gesprochen die Erziehung der Armen oder der Unterschicht, durch fördern und fordern, und generell müsse jeder in der gesamten Gesellschaft Verantwortung für sich und sein Leben übernehmen. Wir werden das noch genauer betrachten. Es handelt sich offensichtlich um eine neoliberale, kulturalistische Deutung des Unterschichtenproblems. Nun ist der Neoliberalismus eine starke Strömung in der jetzigen Politik und Gesellschaft, und die Anforderungen der Selbst- verantwortung richten sich prinzipiell an jeden, gleich ob er dazu in der Lage ist oder nicht. Vor allem die Mittelschichten in Deutschland sind, wie nähere Analysen zeigen, von der gegenwärtigen ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung zu einem erheblichen Teil überfordert und entwickeln Sorgen, ab- gehängt zu werden. Dies gilt natürlich vor allem für Ostdeutschland, das eine Zweidrittelgesellschaft besonderer Art ist. Die Studie „Deutschland im Reformprozess“ der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) zeigte deutlich, dass sich die Dinge in der Wahrnehmung und im Selbst- verständnis der Menschen verändern. Im Spätsommer 2006 sorgten die noch vorläufi gen Ergebnisse dieser Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung „Deutschland im Reformprozess“ für großes öffent- liches, mediales und politisches Aufsehen. Damit beginnt die zweite Phase der deutschen Debatte um Unterschicht. Bei der von der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) beim Meinungsforschungsinstitut TMS Infratest in Auftrag gegebenen Studie stand in der öffentlichen Debatte schnell im Mittelpunkt, dass in den Er- gebnissen der Umfragen von einem „abgehängten Prekariat“ gesprochen wurde, das 8% der deutschen Bevölkerung ausmachte, in Ostdeutschland ein Viertel. 12

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