Christian Kerst Unter Druck - Organisatorischer Wandel und Organisationsdomänen Studien zur Sozialwissenschaft Band 179 Organisation und Gesellschaft Herausgegeben von Günther Ortmann Wie wünscht man sich Organisationsforschung? Theoretisch reflektiert, weder in Empirie noch in Organisationslehre oder -beratung sich erschöpfend. An avancierte Sozial-und Gesellschaftstheorie anschließend, denn Organisatio nen sind in der Gesellschaft. Interessiert an Organisation als Phänomen der Moderne und an ihrer Genese im Zuge der Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus. Organisationen als Aktionszentren der modernen Gesellschaft ernstnehmend, in denen sich die gesellschaftliche Produktion, Interaktion, Kommunikation - gelinde gesagt - überwiegend abspielt. Mit der erforderlichen Aufmerksamkeit für das Verhältnis von Organisation und Ökonomie, lebenswichtig nicht nur, aber besonders für Unternehmungen, die seit je als das Paradigma der Organisationstheorie gelten. Gleichwohl Fragen der Wahrnehmung, Interpretation und Kommunikation und also der Sinnkonstitution und solche der Legitimation nicht ausblendend, wie sie in der interpretativen resp. der Organisationskulturforschung und innerhalb des Ethik-Diskurses erörtert werden. Organisation auch als Herrschaftszusammenhang thematisierend - als moderne, von Personen abgelöste Form der Herrschaft über Menschen und über Natur und materielle Ressourcen. Kritisch gegenüber den Verletzungen der Welt, die in der Form der Organisation tatsächlich oder der Möglichkeit nach impliziert sind. Verbindung haltend zu Wirtschafts-, Arbeits- und Industriesoziologie, Technik und Wirtschaftsgeschichte, Volks- und Betriebswirtschaftslehre und womöglich die Abtrennung dieser Departments voneinander und von der Organisationsfor schung revidierend. Realitätsmächtig im Sinne von: empfindlich und aufschlußreich für die gesell schaftliche Realität und mit Neugier und Sinn für das Gewicht von Fragen, gemessen an der sozialen Praxis der Menschen. So wünscht man sich Organisationsforschung. Die Reihe "Organisation und Gesellschaft" ist für Arbeiten gedacht, die dazu beitragen. Christian Kerst Unter Druck Organisatorischer Wandel und Organisationsdomänen Der Fall der Druckindustrie Westdeu tscher Verlag Alle Rechte vorbehalten © 1997 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Bertelsmann Fachinformation. Das Werk einschließlich aller semer Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzuläs sig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Christine Huth, Wiesbaden Gedruckt auf säurefreiem Papier ISBN 978-3-531-12999-0 ISBN 978-3-322-91685-3 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-91685-3 Vorwort Dieses Buch enthält die überarbeitete Fassung meiner von der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld im Februar 1995 angenommenen Dissertation. Die Entste hung der Arbeit verdankt sich meiner Mitarbeit an dem Forschungsprojekt ,,Arbeits gestaltung und neue Techniken in der Druckindustrie", das zwischen 1989 und 1993 am ASIF-Institut in Bielefeld durchgeführt wurde. Das Projekt (Förderkennzeichen: 01 HK 64817) war Bestandteil des Förderschwerpunktes Druckindustrie im Rahmen des BMFT-Prograrnmes "Arbeit und Technik" (BMFT 1987), der den Ent wicklungen in der Druckvorstufe einen zentralen Stellenwert zumaß, weil dort die stärkste Innovationsdynamik innerhalb der Druckindustrie zu verzeichnen ist. In Anknüpfung an die Projektarbeiten habe ich versucht, eine übergreifende Perspektive auf den Struktur-und Organisationswandel in der Druckindustrie zu entfalten. Der Bereitschaft und Offenheit unserer Gesprächspartner in Betrieben, Ver bänden und Bildungseinrichtungen bin ich sehr zu Dank verbunden. Hervorheben möchte ich vor allem die Vertreter aus den vielen Klein-und Mittelbetrieben, die sich, trotz des in der Druckindustrie endemischen Zeitdrucks, geduldig den Fragen der Soziologen gestellt haben. Zum Gelingen der Arbeit haben Diskussionen und Gespräche mit den Kolleginnen und Kollegen des ASIF, im Forschungsschwerpunkt "Zukunft der Arbeit" und der ,,Projektgruppe Soziologische Forschung" entscheidend beigetragen. Für Unterstützung und Ermutigung danke ich besonders Uwe Borchers, Hans Joachim Braczyk, Christa Gebbert, Markus Pohlmann, Veronika Tacke und Karin Töpsch. Bedanken möchte ich mich schließlich auch bei den Gutachtern Jürgen Feldhoff und Christof Wehrsig für die Betreuung der Arbeit sowie bei Günther Ortmann für seine hilfreichen Anregungen zur Überarbeitung und seine Bereitschaft, die Arbeit in die Reihe "Organisation und Gesellschaft" aufzunehmen. Stuttgart, im Dezember 1995 Christian Kerst Inhalt 1 Einleitung ............................................................................... 11 2 Wandel in der Druckvorstufe - ein thesenhafter Überblick. ........... 23 3 Das Konzept der Organisationsdomäne. Abschirmung des technischen Kerns und institutionalisierte Erwartungen in Organisationsfeldern ............................................................... 29 3.1 Technischer Kern und Domänenkonsens: Der Ansatz von Thompson ....... 34 3.2 Erweiterung der Perspektive: Domänen und Organisationspopulationen .... 40 3.3 Technologie und Domänen ........................................................ 45 3.4 Die sektoral-relationale Dimension von Domänen .............................. 51 3.5 Die institutionelle Dimension von Domänen ..................................... 57 3.6 Organisationswandel und Domänenwandel. ..................................... 65 3.6.1 Stabilität von Domänen ..................................................... 65 3.6.2 WandeL ....................................................................... 70 4 Empirische U~tersuchung von Organisationsdomänen - methodische Uberlegungen ....................................................... 76 4.1 Untersuchungsdesign .............................................................. 76 4.2 Datenauswahl und Auswertung ................................................... 79 4.2.1 Überlegungen zur Inhaltsanalyse .......................................... 81 4.2.2 Auswahl der Fachzeitschriften ............................................. 83 4.2.3 Experteninterviews und sonstige Materialien ............................. 86 5 Die Druckvorstufe als Teil der Druckindustrie ............................ 89 5.1 Funktionale Abgrenzung der Druckvorstufe ..................................... 89 5.2 Strukturdaten zur Situation der Druckindustrie .................................. 90 5.3 Herstellung von Druckvorlagen ................................................... 98 5.4 Märkte der Druckvorstufe und deren Entwicklungstendenzen ............... 101 5.5 Historische Entwicklung der Druckvorstufentechnik bis Mitte der achtziger Jahre .......................................................... 104 5.6 Entwicklung der Druckvorstufentechnik seit Mitte der achtziger Jahre ..................................................................... .l10 6 Die Technologie der Druckvorstufe: abnehmende Beherrschbarkeit großer Unsicherheitspotentiale ........................ 116 6.1 Kundenorientierte Unikatherstellung ............................................ 117 6.2 Arbeitsvorbereitung: Industrialisierung der Reproduktion? .................. 122 6.3 Sachbearbeitung: Umsetzung von Kundenwünschen ......................... 125 6.4 Die Digitalisierung des Herstellungsprozesses und ihre Folgen für die Abschirmung des technischen Kerns ............................................ 132 6.5 Text-Bild-Integration als Ursache steigender Komplexität.. .................. 140 6.6 Zwischenfazit: Die Flexibilisierung der Druckvorstufe und der Wandel der Domäne ..................................................... 147 7 Die Beziehungen der Vorstufe zu Kunden und Konkurrenten ...... .154 7.1 Satz und Reproduktion: Ende des einstufigen Vorstufenunternehmens? ... 155 7.2 Setzereien und ihre Auftraggeber: Vom Produkt zur Dienstleistung ......... 164 7.3 Die Wahrnehmung der DTP-Technik in der Vorstufe ......................... 173 7.4 Die Reproanstalten und ihre Kunden ............................................ 178 7.5 Institutioneller Wandel der Beziehungen von Auftraggebern und Vorstufe ............................................................................. 181 8 Die Druckvorstufe und ihre Technikhersteller ........................... 194 8.1 Ausgangspunkt: Langfristige Hersteller-Anwender-Beziehungen zu wenigen Lieferanten einer Spezialtechnik ................................... 194 8.2 Der Wandel der Anbieterstruktur seit Mitte der achtziger Jahre und die Folgen für die Hersteller-Anwender-Beziehungen ................... 200 8.3 Zusammenfassung: Die Umschichtungen in der Herstellerstruktur. ......... 211 9 Der Wandel von Organisationsdomänen - Zusammenfassung und Fazit .................................................... 213 9.1 Zusammenfassung: Die "alte" und die "neue" Druckvorstufe ................ 215 9.2 "Dominant design" und technologische Verriegelung: Zum Verhältnis exogener und endogener Faktoren ............................ 221 9.3 Der Zeitaspekt: Die Dynamik des Wandels als eigenständige Einflußgröße .. , ..................................................................... 224 9.4 Die institutionelle Dimension des Organisationswandels ...................... 226 9.5 Schlußbemerkung: Vergleich von Domänen .................................... 230 Literatur a) Wissenschaftliche Literatur ....................................................... 232 b) Artikel aus Fachzeitschriften ...................................................... 244 Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen Seite Abbildung 1 Die Publikationskette .................................................. 13 Abbildung 2 Dimensionale Gliederung des Technologiebegriffs bei Perrow . .48 Abbildung 3 Sektoren der Druckindustrie ......................................... 99 Abbildung 4 Die Technologie der Druckvorstufe im Wandel. ................. 151 Tabelle I Elemente von Organisationsdomänen im Überblick. .............. 75 Tabelle 2 Übersicht der Expertengespräche .................................... 88 Tabelle 3 Beschäftigte und Betriebe nach Größenklassen 1992 ............. 91 Tabelle 4 Beschäftigtenstruktur in der Druckindustrie 1980-1994 .......... 94 Tabelle 5 Frauenanteil in den Berufen der Druckvorstufe 1980-1994 ...... 96 Tabelle 6 Angestelltenanteil in den Berufen der Druckvorstufe 1980-1994 .............................................................. 97 Tabelle 7 Produktionsstruktur der Druckindustrie (1978-1992) nach Erzeugnisgruppen ............................................. 102 Tabelle 8 Verbreitung ausgewählter Techniken in Setzereien und Satzabteilungen im Jahre 1986 ..................................... 108 Tabelle 9 Verbreitung ausgewählter Techniken zur Reproduktion im Jahre 1986 ........................................................ 109 1. Einleitung Die Erstellung wissenschaftlicher Manuskripte hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Verantwortlich dafür ist die Verdrängung der Schreibmaschine durch den Personal Computer (PC), der inzwischen auf dem Schreibtisch der allermeisten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu finden sein dürfte. In nur wenigen Jahren haben selbst eingefleischte Skeptiker ihren Widerstand aufgegeben und nutzen jetzt selbst die Vorteile der TextersteIlung per Computer - die einen mehr, die anderen weniger. Unabhängig davon, wie gut der PC und seine Software ausgenutzt werden, eine "Datei" und/oder ein "Ausdruck" wird jedenfalls erzeugt. Das bedeutet jedoch nicht nur eine Arbeitserleichterung (zu Beginn allerdings häufig nur die Aussicht darauf) für einzelne Wissenschaftler oder Projektteams, sondern hat sich darüber hinaus zu einer schleichenden Funktionserweiterung im Publikationsprozeß ausgewachsen. Nicht nur übernehmen die Autoren heute in den meisten Fällen die Arbeit der Texterfassung, indem dem Manuskript an den Verlag auch eine Diskette beigegeben wird. Üblich ist es inzwischen, daß ganze Druckvorlagen von Wissenschaftlerinnen (bzw. ihren studentischen oder wissenschaftlichen Hilfskräf ten) erstellt werden, die ohne weitere Verarbeitung durch den Verlag direkt gedruckt werden können. Die weitverbreiteten Laserdrucker verfügen über zahlreiche Schrif ten und können professionell aussehende Layouts erzeugen. Selbst die Abbildung von Tabellen oder Grafiken und ihre Integration auch ohne Schere und Klebstoff ist dabei kein Problem (wenn man das Textverarbeitungsprograrnm beherrscht). Im Prinzip ist alles am Bildschirm zu bearbeiten: Daten werden bereits vom Statistik programm als Torten- oder Balkengrafik ausgegeben und müssen nur noch in der Größe dem Text angepaßt werden. Projektteams können - auch räumlich getrennt - arbeitsteilig an Auswertungen und Berichten arbeiten. Allerdings ist in vielen Fällen vor der Nutzanwendung dieses Prinzips erst einmal die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Dateiformaten oder Konvertierprogrammen erfolgreich zu bewäl tigen .. Vermutlich beinahe alle der Leserinnen und Leser dieser Arbeit dürften selbst Erfahrungen mit der computerunterstützten Manuskripterstellung besitzen. Dieses Alltagsbeispiel steht hier deshalb am Beginn, weil es bereits ein wenig Licht auf das Phänomen wirft, um das es in den folgenden Kapiteln gehen wird: den Organisa tionswandel in der Druckvorstufe. So selbstverständlich gerade jüngeren Wissen schaftlern heute die Arbeit mit dem PC vorkommen mag, sollte man sich dennoch zum einen klarmachen, daß es sich dabei um eine Entwicklung handelt, die nur wenige Jahre alt ist und zum anderen, daß damit ein Stück sehr traditionsreicher gesellschaftlicher Arbeitsteilung aufgelöst wird. Denn die Wissenschaftlerin, die mit 12 Unter Druck Hilfe ihres kleinen Computers und einem Laserdrucker eine Druckvorlage erstellt, übernimmt damit Funktionen, die vor nicht allzu langer Zeit einem Setzer vorbehalten waren. Nur dieser konnte eine Proportional schrift wie z.B. die beliebte, und auch hier verwendete Times im Blocksatz setzen. Und nur der Setzer konnte die Über schrift in einer um zwei Schriftgrade größeren Schrift halbfett, die Fußnoten hinge gen kleiner erscheinen lassen und das Buch außerdem mit lebenden Kolumnentiteln (wechselnden "Kopfzeilen") versehen. Und sollte ein Diagramm im Text erscheinen, konnte entweder eine mit der Schreibmaschine geschriebene oder handgezeichnete Vorlage fotomechanisch reproduziert werden, oder aber ein Grafiker mußte die Vorlage umsetzen. Im traditionellen Herstellungsprozeß Autor-Verlag-Setzerei Druckerei kommt also eine gesellschaftliche Arbeitsteilung zum Ausdruck, der zugleich entsprechende Organisationsstrukturen und -formen entsprachen. An diesem Beispiel zeigt sich schon, daß die Position der Setzerin 1 in der Publikationskette durch die beschriebenen Veränderungen in der Wissenschaft in Frage gestellt wird. Nun ist die Herstellung von wissenschaftlichen Publikationen nur ein sehr kleiner Bereich innerhalb der Druckindustrie. Und nicht nur Verlage geben Satz- und Druckaufträge, sondern auch andere (Wirtschafts-) Organisationen sowie schließlich auch Privatkunden. Allgemeiner betrachtet besteht die Publika tionskette also aus: Kunden-Setzerei-Druckerei. Zur Vervollständigung ist noch darauf hinzuweisen, daß zwischen Kunden und Druckerei nicht nur Setzereien tätig sind, sondern weitere Spezialisten, die sich mit der Vorbereitung der Druckaufträge befassen, vor allem solche, die Farbbilder bearbeiten und so vorbereiten, daß sie gedruckt werden können2. Zusammen mit den Setzereien werden diese auch als "Druckvorstufe" bezeichnet. Diese Struktur zeigt - elektronisch eingebunden - Abbildung 1 im Überblick. Das am Beispiel der wissenschaftlichen Texte verdeutlichte Problem gilt auch für zahlreiche andere Bereiche: Viele Kunden der Druckindustrie, und damit: Auf traggeber der Druckvorstufe, haben aufgrund der beschleunigten Ausbreitung der Computertechnik die Option, früher der Druckvorstufe vorbehaltene Funktionen selbst zu übernehmen. Gleichzeitig gibt es aber auch einen Gegentrend zu diesem Funktionsverlust der Druckvorstufe. Denn die enorm erweiterten Möglichkeiten der Computertechnik haben ihre Kunden, aber auch sie selbst dazu gebracht, neuartige Inzwischen handelt es sich nämlich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine Setzerin (vgl. Töpsch 1994). Ich nutze diesen Hinweis. um zu betonen. daß immer beide Geschlechter gemeint sind, wenn im Text auf Personengruppen verwiesen wird. In welcher Weise die Beziehung zwischen Autoren und Verlagen durch Verfahren des .,elektronischen Publizierens" tangiert wird, darüber informiert die umfang reiche Studie von Riehm u.a. 1992. die sich im Schwerpunkt mit dem Gebiet der Fachkommunikation befaßt, zu der auch die wissenschaftlichen Veröffentlichungen gerechnet werden.