Viktor Timtschenko Ukraine Einblicke in den neuen Osten Europas Für meine Mutter und meine Frau, die mir das Sprechen beigebracht haben. Die Schreibweise der ukrainischen Namen folgt der Transkription aus dem Ukrainischen und nicht – wie früher – aus dem Russischen, weshalb beispielsweise Kiew als Kyiw und Lwow (Lemberg) als Lwiw erscheint. Odessa, im Ukrainischen nur mit einem s, wird der Aussprache folgend im Buch mit zwei s geschrieben. Es wurde keine wissenschaftliche Transliteration verwendet, sodass Weichheitszeichen auch nicht mit Apostroph dargestellt werden. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 1. Auflage, April 2012 (entspricht der 1. Druck-Auflage von März 2009) © Christoph Links Verlag – LinksDruck GmbH Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0 Internet: www.linksverlag.de; [email protected] Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin, unter Verwendung eines Fotos aus der ukrainischen Hauptstadt Kyiw; Titelseite: Majdan Nesaleshnosti (Unabhängigkeitsplatz) mit der Unabhängigkeitssäule, dem unterirdischen Kaufhaus »Globus« und dem Hotel »Ukraina« (Viktor Timtschenko, 2008) eISBN 978-3-86284-157-8 Inhalt Prolog Die Ukraine – Wo liegt sie? Von der Hauptstadt in die Provinz Bewegte Geschichte »Kazantip« – Tanz auf dem Atommeiler Die Ursprünge der Ukraine Ist Ukrainisch nur ein russischer Dialekt? Kleine Lesehilfe für Schewtschenko, Borschtsch und Chreschtschatyk Der Majdan – Revolution in Orange Die Sprache als Brühe zum Garkochen der Widerspenstigen Verabscheuen Ukrainer alles Russische? Nein, aber. Probleme, Probleme – Die russisch-ukrainischen Beziehungen nach der Unabhängigkeit Hungersnot, Holodomor – Holocaust? »Vom San bis an den Don« und »Das Lied der Deutschen« Über Panzer, Raketen und das beste Flugzeug der Welt Tschornobyl – Erster Monat Privatisierung, Verteilungskämpfe und Korruption Religion – Die Gretchenfrage Drei Flächen eines Brillanten Das Riesenglück des Danylo Samojlowytsch Im Anfang war die Röhre Das rätselhafte Leben Jurij Kondratjuks und Olexandr Scharhejs Der diskrete Charme Europas Dicht beieinander Kleine vergleichende Gesellschaftskunde Wie viel isst man in der Ukraine, und trinkt man Wodka nur aus 100-Gramm- Gläsern? Der »Irre Löwe« und der Grand Prix von Paris Die Bedeutung des Specks für die Demokratie Die ukrainische Küche und ihre besten Rezepte Borschtsch, wie ihn meine Mama kocht Warenyky Einige ukrainische (Ess-) Kleinigkeiten Epilog Anhang Anmerkungen Basisdaten Kontaktadressen und Einreisebestimmungen Prolog Nachdem dieses Buch geschrieben war, gab ich einem aufgeklärten Mädchen aus Hamburg das Manuskript zu lesen. Ich war gespannt, ob ich auf meine Heimat neugierig machen konnte. Das Mädchen sagte: »Ach, was für ein schönes Land, diese Ukraine. Da würde ich gern mal hinfahren!« »Na, dann fahr doch«, riet ich ihr, »die Einreise ist nicht teuer und visafrei.« Sie machte große Augen und antwortete, sie hätte vor dem Land und den Menschen dort Angst. »Und vor Rumänien?«, fragte ich leicht erbost. »Vor Rumänien nicht.« Sie sperrte ihre blauen Augen noch mehr auf. »Rumänien gehört ja zur EU.« Da beschloss ich, vorab noch einiges klarzustellen. Also: Wie in fast allen Industrieländern lebt auch in der Ukraine die Mehrheit der Bevölkerung in Städten. Dort stehen große Häuser. Die Fernheizung, Wasser-, Strom- und Gasversorgung ist meistens gesichert, die Straßen sind häufig asphaltiert (manchmal schlecht, aber was soll’s ...). Inzwischen fahren so viele Autos, dass sich viele Städter nicht mehr darüber freuen. Wer ohne Auto unterwegs ist, fährt mit der Straßenbahn oder mit einem elektrisch betriebenen Bus, dem Trolleybus. In einigen Millionenstädten gibt es auch eine U-Bahn (Metro). Für eine beliebig lange Strecke zahlt man bis zu zwei Hrywnja (also ca. 25 Cent). Es gibt Hunderte von Universitäten und Hochschulen im Land, im Übrigen auch seit Jahrzehnten das deutsche Goethe-Institut. In der Hauptstadt Kyiw (russ. Kiew), die etwas älter als 1500 Jahre ist und mit Recht »die Mutter russischer Städte« genannt wird, leben über drei Millionen Menschen. Wer Vertrautes sucht, findet hier Ladenketten wie »Metro«, »Zara« oder »McDonald’s«. Man kann natürlich auch in einheimischen Selbstbedienungsrestaurants die schmackhafte ukrainische Küche kosten. In den letzten Jahren sind Straßencafés populär geworden. Man relaxt dort und schwatzt. Die Gerüchte, die Ukrainer seien vorwiegend auf Tee aus, sind stark übertrieben. Man trinkt hier auch Latte Macchiato, Mocca, Espresso usw. Was es hier nicht gibt, ist die klassische Kaffeezeit – man trinkt das duftende Getränk einfach dann, wenn einem danach ist. Zum Einkaufen gehen die Ukrainer in Supermärkte – dort ist es billiger. Wenn man besonderen Wert auf frische Produkte legt, sind Landwirtschaftsmärkte gefragt. Der bekannteste und teuerste Markt der Ukraine, der »Bessarabka«, liegt direkt auf der Hauptstraße der Hauptstadt. Selbstverständlich gibt es in der Ukraine Vertretungen aller bedeutenden deutschen, aber auch amerikanischen, englischen, italienischen, österreichischen, französischen und anderen Firmen. Die Geschäfte laufen gut; jeder, der hier rechtzeitig ein Bein in der Tür hatte, macht seit Jahren dicke Gewinne. Tausende Europäer und Nordamerikaner leben dauerhaft in der Ukraine. Die Ukrainer sind ein arbeitsames Völkchen, die Arbeitslosenquote liegt nach offizieller Statistik 2008 landesweit bei drei Prozent, in Kyiw sogar nur bei 0,3 Prozent. (Allerdings sind nicht alle Arbeitslosen registriert.) Trotz weit verbreiteter anders lautender Behauptungen zahlen Beschäftigte auch Steuern. Bei vielen bleibt dann noch etwas übrig: Die Ukrainerinnen sind schick und europäisch gekleidet. Wenn sie wider Erwarten eine Frau mit Schleier sehen, seien Sie sicher – es ist eine Ausländerin. Die Menschen hier sind durchaus kommunikativ: Man kommuniziert miteinander per Handy, E-Mail, ICQ oder Skype. Ab und an aber auch von Angesicht zu Angesicht auf der Straße. Weil Handytarife schwanken, im Vergleich zu deutschen aber milde ausfallen, besitzen manche Leute hier zwei Handys von zwei verschiedenen Anbietern – auf diese seltsame slawische Weise spart man Telefongebühren. Für die Freizeit gibt es unzählige Stadien, Sportstätten, Fitnesszentren, Schwimmhallen, Tennisplätze, Hunderte von Theatern – Sprechtheater, Opernhäuser, musikalische Komödie, Tanztheater, aber auch Pantomimebühnen – für nicht besonders sprachgewiefte Gäste zu empfehlen. Die Post funktioniert, wenn auch sehr langsam, ein gutes Dutzend Fernsehstationen und an die hundert Funkhäuser informieren und unterhalten rund um die Uhr. An den Zeitungskiosken sind nicht nur um die hundert ukrainische Titel zu finden, sondern auch die Süddeutsche, Der Spiegel, die Financial Times, die Washington Post, Figaro und einige andere fremdländische Blätter. Man schätzt die relativ intakte Natur, in den Gewässern der Ukraine kann man fast überall baden. Die Kyiwer nutzen den größten Fluss des Landes – den Dnipro (Dnjepr) –, um sich im Sommer abzukühlen. (Als ich ein junger Journalist war, schafften wir es, sogar während der Mittagspause in den Fluss zu springen, der nur sechs U-Bahn-Haltestellen vom Pressehaus entfernt war.) An warmen Wochenenden macht man gern Picknick. Die Frauen sorgen fürs Essen, die Männer fürs Trinken und die Logistik. Man fährt bis zum nächsten Fluss oder in den Wald – nicht unbedingt mit dem Auto –, vieles ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbar. Schnaps spielt beim Ausflug eine gewisse Rolle, aber eher frische Luft, Badevergnügen und geselliges Miteinander. Im Unterschied zu Deutschland sind in der Ukraine fast überall Lagerfeuer erlaubt. Das Feuer sorgt nicht nur für guten Schaschlyk und leckere Fischsuppe, sondern auch für eine angenehme Atmosphäre. Übrigens habe ich nie bemerkt, dass es deshalb viele Waldbrände gegeben hätte. Hiesige Baufirmen, im Unterschied zu Spanien oder Griechenland, besorgen sich das Bauland vermutlich auf andere Art und Weise. Man kann in der Ukraine mit allen Kreditkarten der Welt bezahlen und auch Bargeld am Automaten abheben. Wechselstuben sind überall, und beim Umtausch in die Landeswährung Hrywnja wird nicht geschummelt. Eine der gewonnenen Freiheiten ist in der Ukraine die Reisefreiheit. Es kann Ihnen passieren, dass Sie auf jemanden treffen, der mehr Länder besucht hat als Sie selbst. 2005 unterzeichnete der Präsident des Landes Erlasse über die Visafreiheit für Bürger der EU und einiger anderer europäischer Länder sowie den USA und Japan. Das führte zu einer Touristenflut mit jährlich zweistelligen Zuwachsraten. Allein 2007 besuchten die Ukraine 23 Millionen Ausländer, darunter etwa 230 000 Deutsche, 150 000 Amerikaner, aber vor allem Russen und über vier Millionen Polen. Einen Boom erwartet man 2012 – wenn die Ukraine zusammen mit Polen der Gastgeber der Fußball-Europameisterschaft ist. Von insgesamt einer Million Fußballbegeisterten, die ins Land kommen, erwartet man allein in Kyiw 150 000 ausländische Fans. Die Straßen in der Ukraine sind bereits jetzt sicher. Es gibt einzelne Fälle von Rowdytum, aber ihre Zahl ist eher gering. Die Bandenkriege vom Anfang der 90er Jahre sind längst Vergangenheit. Bekanntlich sind die Ukrainer gastfreundlich. Schlechte ukrainische oder russische Sprachkenntnisse rufen eher Mitleid und Beistand hervor als die Absicht, Ihre Hilflosigkeit auszunutzen. Zudem gibt es in der Ukraine auch die Polizei. So sieht die Oberfläche der Ukraine aus. Allen, denen diese knappe Auflistung nicht genügt, sei im Anschluss die weitere Lektüre und ein tieferer Einblick in die heutigen Verhältnisse meines Heimatlandes und in seine Geschichte empfohlen. Die Ukraine – Wo liegt sie? Gerade nach Deutschland gekommen und mit jämmerlichen Sprachkenntnissen ausgestattet, startete ich 1990 – vermutlich dank meines unwiderstehlichen ukrainischen Charmes und des Journalistenmangels – als Wirtschaftsredakteur einer in Wendewirren geborenen Leipziger Zeitung. Als Ostjournalist, der bis heute vom Westen etwas Nachhilfe in Sachen Marktwirtschaft braucht, wurde ich mit vielen anderen zur Hauptjahresversammlung der Aktionäre der Dresdner Bank nach Frankfurt am Main eingeladen. Übrigens ohne bis dahin auch nur eine einzige Aktie gesehen zu haben. Zum Ausklang hatte man für uns einen Ausflug mit dem Management der Bank in ein hübsch gelegenes Restaurant vorbereitet. Eine damals für das Filialennetz der Bank in Ostdeutschland zuständige Dame, neben der ich zu sitzen kam, war sichtlich überrascht, dass manche ostdeutsche Journalisten so schlecht Deutsch sprechen. Sie zeigte aber diskret Verständnis für mein sozialistisches Bildungsniveau und fragte mich, woher genau ich käme, um vielleicht dort außerordentliche Vorkehrungen bei der Einstellung von Mitarbeitern zu treffen. Ich wollte erst die Preußen niedermachen und sagen, ich käme aus Berlin. Dann wurde mir der Ernst der Lage aber bewusst, und ich gab zu, aus der Ukraine zu stammen. Die Dame geriet ganz aus dem Häuschen: »Die Ukraine – wo liegt die?«, fragte sie mich allen Ernstes. Die Antwort war einfach. Ich nahm ungeniert ihren Teller mit der angeschnittenen Schweinslende und rückte ihn in die Mitte des Tisches. »Das ist Deutschland«, erklärte ich und platzierte die Salatschüssel daneben, »und hier liegt Polen.« Nun schob ich meinen Teller samt Messer und Gabel rechts neben die Schüssel und zeigte mit dem Finger darauf: »Und das ist die Ukraine.« Der besseren Anschauung wegen wollte ich noch ein Glas vom dunkelroten, fast schwarzen Spätburgunder neben meinem Teller vergießen und so das Schwarze Meer mit der Halbinsel Krim in seiner ganzen Herrlichkeit präsentieren, doch hier unterschätzte ich meine Tischnachbarin: Sie hatte davon schon gehört, wie auch von Kyiw, dem Donezbecken und Tschornobyl (russ. Tschernobyl). So verlief meine erste Konfrontation mit den Ukrainekenntnissen der (West-) Deutschen. Für die meisten Deutschen, im Osten wie im Westen, war die Ukraine auch noch nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 eine unbekannte Größe. Russland – ja, aber die Ukraine ... Die in der Sowjetunion erfahrenen Ossis zeigten sich mitunter etwas besser informiert, wenige verblüfften mich sogar mit genauen Kenntnissen. Für die Überzahl aber war die Ukraine ein Land »da rechts unten« auf der Landkarte Europas. Es dauerte relativ lange, etwa bis zur »Orangenen Revolution« 2004, bis die Deutschen die Ukraine in ihren Köpfen vom großen Russland trennten und als selbständigen Staat betrachteten.