NR. 207 26.10.2018 ukraine- analysen www.laender-analysen.de/ukraine NEUE SPANNUNGEN IN DEN UKRAINISCH-RUSSISCHEN BEZIEHUNGEN ENDE DES HUNGERSTREIKS VON SENZOW ■■ANALYSE Die Autokephaliebestrebung als Spiegelbild des Kampfs um die Unabhängigkeit von Russland 2 Von Martin-Paul Buchholz (Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz) ■■DOKUMENTATION Bekanntmachung des Ökumenischen Patriarchats über die Entscheidung, der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche die Autokephalie zu verleihen 6 ■■TABELLEN UND GRAFIKEN ZUM TEXT Die Orthodoxe Kirche in der Ukraine: Umfragen und Statistik 6 ■■ANALYSE Die russisch-ukrainischen Spannungen im Asowschen Meer 9 Von Krzysztof Nieczypor (Zentrum für Osteuropastudien – OSW, Warschau) ■■KARTE Übersicht der festgehaltenen Schiffe im Asowschen Meer 12 ■■DOKUMENTATION Liste der im September 2018 im Asowschen Meer festgehaltenen Schiffe 13 ■■UMFRAGE Umfragen zum Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland 18 ■■DOKUMENTATION Dekoder: Senzows beendeter Hungerstreik 20 ■■CHRONIK 9. – 23. Oktober 2018 21 Leibniz-Institut für Leibniz-Institut für Zentrum für Osteuropa- und Deutsche Gesellschaft für Deutsches Forschungsstelle Osteuropa Agrarentwicklung in Ost- und Südosteuropa- internationale Studien Osteuropakunde Polen-Institut an der Universität Bremen Transformationsökonomien forschung (ZOiS) gGmbH Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen UKRAINE-ANALYSEN NR. 207, 26.10.2018 2 ANALYSE Die Autokephaliebestrebung als Spiegelbild des Kampfs um die Unabhängigkeit von Russland Von Martin-Paul Buchholz (Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz) Zusammenfassung Seit dem Euromaidan und den Folgeereignissen wie der Annexion der Krim durch Russland und dem Kon- flikt im Donbass versucht die ukrainische Regierung, den Einfluss Russlands zu unterbinden. Mit dem rus- sisch-ukrainischen Konflikt wird nun auch die Frage der Religion stark politisiert und die Versuche, sich weiter von Russland abzugrenzen, erreichen die religiöse Ebene. Mit der jüngsten Entscheidung des Öku- menischen Patriarchats von Konstantinopel, der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche die Autokephalie verleihen zu wollen, scheint die kirchliche Unabhängigkeit vom Moskauer Patriarchat nur noch eine Frage der Zeit. Das birgt einerseits die Chance, innerukrainische Kirchenkonflikte zu beenden, sorgt aber gleichzeitig für neue Spannungen im Verhältnis zu Russland. Innen- und außenpolitische Aspekte der Argumentation, dass ein unabhängiger ukraini- Seit April dieses Jahres wird in der Ukraine intensiv scher Staat eine unabhängige Kirche benötige. Dies über eine Ukrainische Autokephale Kirche diskutiert. wurde bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gefordert, Autokephale Kirchen sind orthodoxe Kirchen, die unab- als sich unter den Bedingungen des Ersten Weltkrie- hängig sind. Im Vordergrund steht dabei die Annahme ges für kurze Zeit ein erster ukrainischer Staat konsti- eines Einflusses Moskaus auf die Orthodoxe Kirche in tuiert hatte. Es war die Geburtsstunde der Ukraini- der Ukraine, der unterbunden werden soll. schen Autokephalen Orthodoxen Kirche (UAOK), die Autokephale Kirchen unterstehen nicht dem Patri- 1918 entstand und – nachdem sie in der Sowjetunion archen eines anderen Landes, sondern haben ihr eigenes verboten und zu Beginn der 1990er Jahre wieder aktiv Oberhaupt und sind offiziell von den anderen orthodo- wurde – heute eine der drei orthodoxen Kirchen in der xen Kirchen als eigenständig anerkannt. Das Streben Ukraine ist. nach Autokephalie und die Verleihung der Autokepha- In den 1990er Jahren wiederholten sich die Bemü- lie sind im Prinzip kirchliche Angelegenheiten, in wel- hungen um eine unabhängige ukrainische Kirche. che eine Einmischung der Politik nicht vorgesehen ist, Gleich nach der Unabhängigkeit der Ukraine, im zumal die Trennung von Staat und Kirche auch in der Jahre 1991, hatte der erste ukrainische Präsident Leo- ukrainischen Verfassung festgeschrieben ist. nid Krawtschuk die Bemühungen um eine unabhängige Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hat ukrainische Kirche unterstützt, was damals aber ledig- nun im April den Ökumenischen Patriarchen von Kon- lich zu einer weiteren Kirchenspaltung geführt hatte, da stantinopel, Bartholomäus I., welcher als »Primus inter das Projekt nicht von allen Bischöfen unterstützt wor- Pares« den Ehrenvorsitz unter den orthodoxen Patriar- den war. Aus der damaligen Abspaltung entstand das chen hat, um die Gewährung eines Tomos (kirchlicher Kiewer Patriarchat. Auch der dritte ukrainische Prä- Erlass) zur Autokephalie für die orthodoxe Kirche in der sident Viktor Juschtschenko hatte den Versuch unter- Ukraine gebeten und damit eine Kette von Ereignissen nommen, eine ukrainische Nationalkirche zu etablie- und Reaktionen sowohl auf kirchlicher als auch auf poli- ren, war aber ebenfalls gescheitert. tischer Ebene ausgelöst. Er betonte, die Autokephalie sei Die aktuelle Politisierung der Autokephalie-Bestre- für sein Land ebenso wichtig wie der Schutz der Sprache, bungen hängt mit dem ukrainisch-russischen Kon- die Stärkung der Armee und das Streben nach einer EU- flikt zusammen. Der ukrainische Präsident enthob das und NATO-Mitgliedschaft. Bei einer Abstimmung am Bestreben nach Autokephalie seines eigentlich religiö- 19. April sprach sich dann auch das ukrainische Parla- sen Charakters, indem er es nationalpolitisch interpre- ment mit großer Mehrheit für eine autokephale Kirche tierte und gar nicht erst verhehlte, dass es sich um Geo- in der Ukraine aus und bekräftigte die Bitte des Präsi- politik handele. denten. Damit haben sich politische Institutionen ein- Poroschenko räumte ein, dass eine eigene Kirche deutig in den religiösen Bereich eingemischt. auch der Garant geistiger Freiheit sei, doch vor allem ver- In der Geschichte der Ukraine stand die Frage nach knüpfte er die Frage nach der Autokephalie von Beginn der Autokephalie schon mehrfach auf der politischen an mit der Frage der ukrainischen Unabhängigkeit. So Agenda und jedes Mal stand das Streben nach Unab- betonte er immer wieder, wie wichtig eine unabhän- hängigkeit von Russland dabei im Vordergrund, mit gige orthodoxe Kirche für den unabhängigen Staat sei. UKRAINE-ANALYSEN NR. 207, 26.10.2018 3 Er bezeichnete diese sogar als Säule sowohl der ukrai- das Sprachrohr Moskaus in der Ukraine zu sein. Gleich- nischen Nation als auch der ukrainischen nationalen zeitig ist der Einfluss des Moskauer Patriarchates auf die Sicherheit. Russland verliere – so Poroschenko wört- UOK-MP begrenzt. Bereits seit 1990 bestimmt in Kiew lich – nun seinen letzten Einflusshebel auf seine frü- ein eigenes Bischofskonzil über die Belange der Kirche. here Kolonie. Aus kirchlicher Perspektive geht es bei Die 1990 vom Moskauer Patriarchat ausgearbeitete Kir- der Autokephalie weniger um nationale Sicherheit als chensatzung wurde 2007 ohne Rücksprache mit dem vielmehr darum, eine Einheit der orthodoxen Gläubi- Patriarchat geändert. Die UOK-MP unterstützte 2013 gen in der Ukraine wiederherzustellen – eine mehr als und 2014 in ihren offiziellen Stellungnahmen die von schwierige Herausforderung. der ROK und der russischen Politik dämonisierte Euro- papolitik der Ukraine, schloss sich also nicht der Posi- Die konfessionelle Situation in der Ukraine tion aus Moskau an. In der Ukraine existieren seit der Mitte der 1990er Jahre Festzuhalten bleibt aber auch, dass ein Kurswech- drei orthodoxe ukrainische Kirchen. Es ist gerade die sel innerhalb der UOK-MP stattgefunden hat. Hatte größte Kirche, nämlich die Ukrainisch-Orthodoxe Kir- das frühere Oberhaupt Metropolit Wolodymyr (Sabo- che (UOK-MP), welche mit dem Moskauer Patriar- dan, 1992–2014) die Frage der Autokephalie in seiner chat zumindest strukturell verbunden ist. Sie weist zah- Amtszeit offengelassen und diese in seinem geistlichen lenmäßig die meisten Gemeinden (mehr als 12.000) Testament gar als Krönung aller Bemühungen bezeich- und Klöster auf. Offiziell gehört sie zwar zum Mos- net und das Ukrainische als Liturgiesprache erlaubt, so kauer Patriarchat, dessen Oberhaupt der russische Patri- nahm sein Nachfolger Metropolit Onufrij (Beresowskyj, arch Kyrill I. ist, aber seit 1990 ist sie in ihrer Verwal- seit 2014) eine konservative Haltung ein. Onufrij lehnt tung selbstständig und auch ihr Oberhaupt wird in der die momentanen Bestrebungen nach einer autokepha- Ukraine von den dortigen Bischöfen gewählt. Vor 1990 len Kirche ab und fordert eine Rückkehr zum Kirchen- existierte in der sowjetischen Ukraine ein ukrainisches slawischen als Liturgiesprache. Dennoch sollte Onufrij Exarchat (Verwaltungsbereich) der Russisch-Orthodo- weniger als prorussisch oder gar antiukrainisch, son- xen Kirche (ROK), welches dann die oben erwähnten dern insgesamt als konservativ und wenig sensibel für Rechte erhielt und in Ukrainisch-Orthodoxe Kirche die aktuelle Situation in der Ukraine bezeichnet werden. umbenannt wurde. Vor allem die fehlende Kritik des Moskauer Patri- Die anderen beiden orthodoxen Kirchen waren aus archates an der aktuellen Politik Russlands gegenüber dem Bestreben heraus entstanden, sich vom Moskauer der Ukraine wirkte sich negativ auf die UOK-MP aus Patriarchat zu lösen, wurden von der Weltorthodoxie und machte diese zusätzlich unbeliebt. Auch wenn aber bis vor kurzem noch nicht anerkannt. einige Metropoliten und Priester prorussische Einstel- Die zweite große orthodoxe Kirche ist die Ukrai- lungen vertreten, haben sich seit 2014 auch im Klerus nisch-Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats (UOK- der UOK-MP neue Formen des nationalen Bewusstseins KP). Diese ging 1992 aus einer Abspaltung von der entwickelt. So gibt es durchaus proukrainische Vertre- Ukrainisch-Orthodoxen Kirche hervor und verfügt mit ter der UOK-MP, die z. B. die Rückgabe der Krim an etwas mehr als 5.000 Kirchengemeinden zwar nur halb die Ukraine fordern. Dennoch bekam die UOK-MP die so viele die die UOK-MP. Jedoch zählt sich die Mehrheit Folgen des Konflikts unmittelbar zu spüren: viele ihrer der orthodoxen Gläubigen heute zum Kiewer Patriar- Gemeinden wandten sich dem Kiewer Patriarchat zu. chat zugehörig (s. Grafik 3 auf S. 7 und Grafik 4 auf S. 8). Schon einmal war vor dem Hintergrund des Kon- Die dritte orthodoxe Kirche ist die erwähnte Ukrai- fliktes zwischen Russland und der Ukraine versucht nische Autokephale Kirche, die im Vergleich zu den bei- worden, die UOK-MP vom Moskauer Patriarchat zu den anderen orthodoxen Kirchen jedoch nur wenige trennen und klarzustellen, dass das Kirchenoberhaupt Gemeinden besitzt. ein Problem sei, da es in Russland residiere. Abgeord- Zwischen den Anhängern der einzelnen Kirchen nete des ukrainischen Parlaments hatten mit Gesetzent- kam es seit den 1990er Jahren immer wieder zu – teils würfen versucht, die UOK-MP zu marginalisieren (siehe gewalttätigen – Auseinandersetzungen um Kirchenbe- Ukraine-Analysen 187, <http://www.laender-analysen. sitz oder den Wechsel von Gemeinden von einer ortho- de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen187.pdf>). Bis heute doxen Kirche zur anderen. Diese Konflikte würden mit hat das Parlament jedoch nicht über die Entwürfe einer Vereinigung der orthodoxen Kirchen wegfallen. abgestimmt. Wie russisch ist die UOK-MP? Moskau vs. Konstantinopel Im Kontext des russisch-ukrainischen Konfliktes beob- Obwohl sich der Patriarch von Konstantinopel, Bar- achtet man die UOK-MP kritisch und unterstellt ihr, tholomäus I., bis vor kurzem geweigert hatte, neben der UKRAINE-ANALYSEN NR. 207, 26.10.2018 4 UOK-MP eine weitere orthodoxe Kirche in der Ukraine che wurde aufgehoben. Damit ist der Schritt für Gesprä- anzuerkennen – Delegationen des Kiewer Patriarchats che auf Augenhöhe gegeben. Mit einer historischen und hatten seit den 1990er Jahren immer wieder versucht kirchenrechtlichen Argumentation enthob die Synode beim Patriarchen vorzusprechen, jedoch ohne Erfolg – das Moskauer Patriarchat von jeder Zuständigkeit die versprach er nun, sich der Frage einer autokephalen Kir- Kiewer Kirche betreffende Belange: Die Übertragung che in der Ukraine anzunehmen. Der Protest aus Mos- der Zuständigkeit für die Kiewer Metropolie 1686 an kau folgte umgehend. das Moskauer Patriarchat wurde als widerrechtlich ein- Am 31. August kam es zu einem Treffen zwischen gestuft. Zuständig sei allein das Ökumenische Patriar- Bartholomäus I. und Kyrill I., welches aber keine Ergeb- chat von Konstantinopel. nisse in der Autokephalie-Frage brachte. Die Frage, wer Während in der Ukraine diese Entscheidung selbst berechtigt sei, die Autokephalie für eine ukrainische bei nichtgläubigen gefeiert wurde und Präsident Poro- orthodoxe Kirche zu verleihen, blieb strittig. Sowohl schenko vom Sieg des Guten über das Böse sprach, der Patriarch von Konstantinopel als auch der Moskauer hagelte es Kritik aus Moskau. Patriarch nahmen dieses Recht für sich in Anspruch. Über die Frage, wie man den Status der Autokepha- Reaktionen aus Russland lie erlangen kann, sollte ursprünglich auf dem Panor- Der Pressesprecher des Kremls, Dmitri Peskow, erklärte thoxen Konzil 2016 auf Kreta entschieden werden, doch noch im September, dass man im Kreml beunruhigt sei im Vorfeld konnte kein Konsens erreicht werden und über eine mögliche Gewährung der Autokephalie der schließlich sagte u. a. die ROK das Treffen ab. Beide Ukrainisch-Orthodoxen Kirche. Man trete in Moskau Patriarchate stehen nicht erst seitdem in einem ange- für die Erhaltung der Einheit der orthodoxen Welt ein, spannten Verhältnis, was unter anderem damit zusam- erwarte eine Berücksichtigung der Interessen der Rus- menhängt, dass das Moskauer Patriarchat als größte sisch-Orthodoxen Kirche, würde sich jedoch nicht ein- der orthodoxen Kirchen den Ehrenvorsitz von Bartho- mischen. Nach der Entscheidung aus Konstantinopel lomäus I. in der orthodoxen Welt nur widerwillig aner- machte jedoch der russische Außenminister die USA kennt. Die Kiewer Metropolie, deren Oberhäupter seit für die Spaltung in der Orthodoxie verantwortlich. Die 1686 offiziell vom Moskauer Patriarchat eingesetzt wer- Autokephaliebestrebungen würden von Washington den – worauf sich auch der Anspruch der ROK gründet, unterstützt. Das Moskauer Patriarchat wertet die Ereig- für Kirchenfragen in der Ukraine zuständig zu sein – nisse als Einmischung in ihr kanonisches Territorium. war davor dem Patriarchat von Konstantinopel unter- Festzuhalten bleibt, dass der Verlust der UOK-MP stellt gewesen. einen Prestigeverlust für die ROK darstellt, welche bis- Die Ankündigung des Ökumenischen Patriarchen, her von den Gemeindezahlen die größte aller ortho- dass er sich der der Autokephalie-Frage annehmen doxen Kirchen war. Mit der Autokephalie droht der werde, wurde bei dem Treffen vom russischen Patriar- UOK-MP jedoch der Verlust von bis zu zwei Drittel der chen hingenommen, welcher im Anschluss sogar angab, Kirchengemeinden in der Ukraine, die wiederum einen das Gespräch sei gut verlaufen. Kaum war die russi- beachtlichen Teil der gesamten Kirchengemeinden unter sche Delegation wieder in Moskau eingetroffen, ließ Obhut des Moskauer Patriarchats stellen. das Moskauer Patriarchat verkünden, dass man über- Aus Protest über die Entscheidungen des Ökumeni- lege, die Beziehungen zum Ökumenischen Patriarchat schen Patriarchen beschloss der Heilige Synod der ROK einzustellen, sollte sich dieses in der Ukraine einmischen. am 15. Oktober den Bruch mit dem Ökumenischen Am 7. September entsandte Bartholomäus I. zwei Patriarchat. Damit sind alle Kontakte eingestellt und Exarchen (Vertreter des Patriarchen) nach Kiew, welche die Gläubigen der beiden Kirchen können nicht mehr vor Ort mit den Vorbereitungen für eine autokephale zusammen die Kommunion empfangen. Kirche in der Ukraine betraut wurden. Entsendungen dieser Art sind üblich, wenn es vor Ort keine kanonische Die Folgen Kirche gibt. In diesem Fall war sie ungewöhnlich, da es Der Prozess zur Erlangung eines Tomos und damit zur mit der UOK-MP bereits eine kanonische Kirche gab. Bildung einer vereinigten Ukrainischen Autokephalen Am 11. Oktober wurden auf der Synode des Ökumeni- Kirche ist mit den jüngsten Entscheidungen in Kon- schen Patriarchats in einer Art Fünf-Punkte-Programm stantinopel weiter vorangeschritten. Abgeschlossen wer- Beschlüsse gefasst, welche unter anderem die bis dahin den kann dieser Prozess aber erst, wenn die UOK-KP, unkanonischen orthodoxen Kirchen in der Ukraine offi- die UAOK und die Bischöfe der UOK-MP, die für eine ziell für kanonisch erklärten. Die Exkommunizierung Autokephale Kirche sind, sich in einem vereinigten Kon- geistlicher Hierarchen der bis dahin als nichtkanonisch zil versammeln und einen gemeinsamen neuen Vorste- geltenden Kirchen durch die Russisch-Orthodoxe Kir- her wählen. Einige Kirchenvertreter halten dies schon UKRAINE-ANALYSEN NR. 207, 26.10.2018 5 Ende 2018 für möglich. Wie und wer das Konzil orga- eine Marginalisierung kirchlicher Verbindungen zum nisiert ist aber nach wie vor unklar. Vorher sind noch Moskauer Patriarchat. Bei einem Erfolg seines Vorge- einige Fragen zu klären. Abgesehen von kirchenrecht- hens könnte er davon bei den Präsidentschaftswahlen lichen Aspekten (z. B. die Frage, wer den Tomos wie im März 2019 profitieren. Dass das Streben nach Auto- übergibt) ist nicht geklärt, wie die neue Kirche zukünf- kephalie in erster Linie nicht unbedingt ein Bedürfnis tig heißen und ob es überhaupt ein Patriarchat werden der gesamten Bevölkerung ist – auch wenn mehr Gläu- soll. Poroschenko hatte im Parlament als neuen Namen bige für die Autokephalie sind als dagegen – sondern »Ukrainisch-Orthodoxe Kirche« verkündet. Die UOK- vor allem ein politisches Unterfangen, zeigen die Umfra- MP müsste sich dann umbenennen. Ob dies geschieht, gen des Rasumkow-Zentrums (s. Grafik 1 auf S. 6 und bleibt offen. Grafik 2 auf S. 7). Die Zugehörigkeit zu einer bestimm- Ebenso offen bleibt, ob es zu einer Spaltung der ten der orthodoxen Kirchen steht bei den Gläubigen UOK-MP kommt. Eine Petition an den Ökumenischen nicht im Vordergrund. Die meisten Ukrainer besuchen Patriarchen, eine vereinigte ukrainische Kirche zu unter- schlicht die Kirche in ihrer Nähe. So ist auch der schein- stützen, hatten nur 10 der 90 Bischöfe der UOK-MP bare Widerspruch zu erklären, dass die UOK-MP zwar unterstützt, nur zwei davon hatten sich öffentlich dazu mit Abstand die meisten Gemeinden besitzt, aber bei bekannt. Jeder Gemeinde ist jedoch offengestellt, sich Umfragen die UOK-KP vorne liegt, wenn es darum geht, der neuen Kirche anzuschließen, wenn die Mehrheit welcher Kirche man sich zugehörig fühlte. dafür plädiert, unabhängig von der Entscheidung des Die Vereinigung der orthodoxen Kirchen der jeweiligen Bischofs. Ukraine könnte bisherige immer wieder aufflammende Poroschenko betonte wiederholt, dass es für jeden Konflikte zwischen den einzelnen Kirchen um Kirchen- Gläubigen auch weiterhin möglich sein soll, bei seiner nutzung und -besitz beenden. Auch theologisch könnten Kirche zu bleiben – auch wenn diese weiterhin mit der von dieser Kirche neue Impulse ausgehen. Die Instru- ROK verbunden bleiben wolle. Gleichfalls garantiere mentalisierung der Politik und der Konflikt zwischen der Staat den Schutz der Rechte eines jeden Priesters dem Ökumenischen und dem Moskauer Patriarchat und Gläubigen, sich von der UOK-MP und den Mos- erscheinen dagegen weniger positiv. kauer Strukturen zu lösen und sich dem neuen Kirchen- In jedem Fall wird eine neue vereinte Autokephale modell anzuschließen. Die Vereinigung aller in einer Ukrainisch-Orthodoxe Kirche die Politiker in Moskau autokephalen Kirche sei ein Weg des Friedens und des ebenso verärgern wie das Moskauer Patriarchat. Der Verständnisses. Sollte beobachtet werden, wie Kirchen Anspruch des Moskauer Patriarchats, die Ukraine als und Klöster mit Gewalt besetzt würden, so sei dies vom historisches Einflussgebiet und Russland, die Ukraine Kreml mit dem Ziel organisiert, in der Ukraine einen und Belarus als religiös kulturelle Einheit zu betrach- Religionskrieg zu entfachen. ten, in welcher keine Separierungen vorgesehen sind, wird energisch zurückgewiesen. Die bisher größte und Fazit bis vor kurzem einige UOK-MP wird an Bedeutung Poroschenko bezweckt mit seinem Vorgehen zweierlei. verlieren. Den russischen Einfluss und die Aggressio- Zum einen eine international kirchliche Anerkennung nen auf und gegen die Ukraine wird man mit der Ent- einer ukrainischen Nationalkirche, und zum anderen scheidung wohl ebenso wenig vermeiden. Über den Autor Martin-Paul Buchholz hat Kulturgeschichte Ost- und Ostmitteleuropas und Soziologie an der Universität Bremen studiert. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz im Projekt »Religionsfrieden«. Lesetipps • Katrin Boeckh, Oleh Turij (Hrsg.): Religiöse Pluralität als Faktor des Politischen. München 2015, ISBN: 978-3-86688-504-2 • Thomas Bremer, Sophia Senyk: Kann die Geschichte den Konflikt um die ukrainische Autokephalie lösen? <https://noek. info/hintergrund/784-kann-die-geschichte-den-konflikt-um-die-ukrainische-autokephalie-loesen?idU=1&idU=1> • Thomas Bremer: Zur kirchlichen Situation in der Ukraine, Ukraine-Analysen Nr. 43, 09.09.2008, S. 21–24, <http:// www.laender-analysen.de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen43.pdf> UKRAINE-ANALYSEN NR. 207, 26.10.2018 6 DOKUMENTATION Bekanntmachung des Ökumenischen Patriarchats über die Entscheidung, der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche die Autokephalie zu verleihen Announcement Presided by His All-Holiness, the Ecumenical Patriarch, the Holy and Sacred Synod convened for its regular session from October 9 to 11, 2018, in order to examine and discuss items on its agenda. The Holy Synod discussed in particular and at length the ecclesiastical matter of Ukraine, in the presence of His Excellency Archbishop Daniel of Pamphilon and His Grace Bishop Hilarion of Edmonton, Patriarchal Exarchs to Ukraine, and following extensive deliberations decreed: 1) To renew the decision already made that the Ecumenical Patriarchate proceed to the granting of Autocephaly to the Church of Ukraine. 2) To reestablish, at this moment, the Stavropegion of the Ecumenical Patriarch in Kyiv, one of its many Stavrope- gia in Ukraine that existed there always. 3) To accept and review the petitions of appeal of Filaret Denisenko, Makariy Maletych and their followers, who found themselves in schism not for dogmatic reasons, in accordance with the canonical prerogatives of the Patriarch of Constantinople to receive such petitions by hierarchs and other clergy from all of the Autocephalous Churches. Thus, the above-mentioned have been canonically reinstated to their hierarchical or priestly rank, and their faith- ful have been restored to communion with the Church. 4) To revoke the legal binding of the Synodal Letter of the year 1686, issued for the circumstances of that time, which granted the right through oikonomia to the Patriarch of Moscow to ordain the Metropolitan of Kyiv, elected by the Clergy-Laity Assembly of his eparchy, who would commemorate the Ecumenical Patriarch as the First hierarch at any celebration, proclaiming and affirming his canonical dependence to the Mother Church of Constantinople. 5) To appeal to all sides involved that they avoid appropriation of Churches, Monasteries and other properties, as well as every other act of violence and retaliation, so that the peace and love of Christ may prevail. At the Ecumenical Patriarchate, the 11th of October, 2018 From the Chief Secretariat of the Holy and Sacred Synod Quelle: Website des Ökumenischen Patriarchats, 11.10.2018, <https://www.patriarchate.org/announcements/-/asset_publisher/ MF6geT6kmaDE/content/communiq-1?_101_INSTANCE_MF6geT6kmaDE_languageId=en_US> TABELLEN UND GRAFIKEN ZUM TEXT Die Orthodoxe Kirche in der Ukraine: Umfragen und Statistik Grafik 1: Was halten Sie von der Idee, eine lokale Autokephale Orthodoxe Kirche in der Ich unter- stütze es Ukraine zu gründen? (in %) nicht Es ist mir 19,2 % egal 33,5 % Schwer Ich unter- zu beant- Quelle: Razumkov-Zentrum, 06.09.2018, <http://razumkov.org.ua/ stütze es worten napryamki/sotsiolohichni-doslidzhennia/stavlennia-hromadian- 35,4 % 11,9 % ukrainy-do-stvorennia-pomisnoi-avtokefalnoi-pravoslavnoi- tserkvy> UKRAINE-ANALYSEN NR. 207, 26.10.2018 7 Grafik 2: Was halten Sie von der Idee, eine lokale Autokephale Orthodoxe Kirche in der Ukraine zu gründen? (aufgeschlüsselt nach Regionen, in %) Ich unterstütze es Ich unterstütze es nicht Es ist mir egal Schwer zu beantworten Insgesamt 35,4 19,2 33,5 11,9 Osten 14,3 32,1 43,0 10,7 Süden 16,1 18,2 44,6 21,1 Zentrum 40,7 14,9 32,4 12,0 Westen 60,5 12,3 19,0 8,2 0 % 10 % 20 % 30 % 40 % 50 % 60 % 70 % 80 % 90 % 100 % Quelle: Razumkov-Zentrum, 06.09.2018, <http://razumkov.org.ua/napryamki/sotsiolohichni-doslidzhennia/stavlennia-hromadian-ukrainy- do-stvorennia-pomisnoi-avtokefalnoi-pravoslavnoi-tserkvy> Grafik 3: Anzahl der orthodoxen Kirchengemeinden in der Ukraine (Stand 2017) Ukrainisch-Orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchat 12.328 65,3 % Ukrainisch-Orthodoxe 27,1 % Kirche Kiewer Patriarchat 5.114 6,3 % 1,3 % Ukrainische Andere orthodoxe Autokephale Orthodoxe Kirchen Kirche 242 1.195 Gesamtzahl der orthodoxen Kirchengemeinden: 18.879 Quelle: Ministerium für Kultur der Ukraine, Anordnung Nr. 260 vom 29.03.2017, <http://www.irs.in.ua/index.php?option=com_content&view= article&id=1829%3A1&catid=51%3Astats&Itemid=79&lang=ru> UKRAINE-ANALYSEN NR. 207, 26.10.2018 8 Grafik 4: Zu welcher Kirche zählen Sie sich? (Anteil der Gläubigen, die sich als orthodox bezeichnen, in %) Ukrainisch-Orthodoxe Kirche Kiewer Patriarchat Ukrainisch-Orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchat Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche Orthodox (ohne nähere Angabe) Ich weiß es nicht 2018 42,6 19,1 0,4 34,8 2,8 2017 38,8 17,4 1,5 35,7 1,2 2016 38,1 23,0 2,7 32,3 3,1 2013 25,9 27,7 1,2 40,8 3,5 2010 22,1 34,5 1,3 37,9 2,3 0 % 10 % 20 % 30 % 40 % 50 % 60 % 70 % 80 % 90 % 100 % Quelle: Razumkov-Zentrum, Merkmale der religiösen und kirchlichen Selbsteinschätzungen der Ukrainer, Trends 2010–2018, S. 16, <http:// razumkov.org.ua/uploads/article/2018_Religiya.pdf> Grafik 5: Vertrauen in das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche, Patriarch Kyrill I (in %) Vertrauen (Summe der Antworten »vertrauen« und »eher vertrauen«) Kein Vertrauen (Summe der Antworten »ich vertraue ihm nicht« und »eher kein Vertrauen«) Kenne ich nicht Schwer zu beantworten 2018 15,3 44,6 22,8 17,4 2017 14,8 42,0 20,4 22,8 2016 19,1 42,2 15,7 23,0 2013 38,2 25,3 14,5 21,9 2010 44,4 21,6 10,1 23,9 0 % 10 % 20 % 30 % 40 % 50 % 60 % 70 % 80 % 90 % 100 % Quelle: Razumkov-Zentrum, Merkmale der religiösen und kirchlichen Selbsteinschätzungen der Ukrainer, Trends 2010–2018, S. 8, <http:// razumkov.org.ua/uploads/article/2018_Religiya.pdf> UKRAINE-ANALYSEN NR. 207, 26.10.2018 9 ANALYSE Die russisch-ukrainischen Spannungen im Asowschen Meer Von Krzysztof Nieczypor (Zentrum für Osteuropastudien – OSW, Warschau) Zusammenfassung Der Bau und die im Mai 2018 erfolgte Eröffnung der Krim-Brücke, die Russland mit dem Territorium der von Russland annektierten Krim verbindet, haben zu einer Verschlechterung der russisch-ukrainischen Bezie- hungen im Asowschen Meer beigetragen. Seit April 2018 hat Russland immer wieder die Durchfahrt von Handelsschiffen durch die Straße von Kertsch blockiert und damit den Betrieb der ukrainischen Häfen im Asowschen Meer stark beeinträchtigt. Das hat Auswirkungen auf die ukrainische Wirtschaft: Der Export von Waren, die einen signifikanten Teil zum Staatsbudget beitragen, wird zunehmend schwieriger. Laut Schät- zungen des Infrastrukturministeriums belaufen sich die Verluste durch die Einschränkungen der Schiffs- fahrt auf 20–40 Millionen US-Dollar im Jahr. Die Aktivitäten Russlands im Asowschen Meer und in der Straße von Kertsch scheinen Moskaus Ambitio- nen, das Gewässer vollständig zu kontrollieren, zu bestätigen. Die verstärkte Konzentration russischer Streit- kräfte in der Nähe der Krim-Brücke zeigt, dass diese von strategischer Bedeutung für die Russische Föderation ist. Der Zugang zum Asowschen Meer und die Kontrolle der Straße von Kertsch ermöglichen es Russland, die Ukraine wirtschaftlich zu erpressen. Die von Russland eingeleitet Maßnahmen sind dauerhaft angelegt und zie- len darauf ab, die schwierige wirtschaftliche Situation in der Ukraine zu verschärfen. Auf diese Art versucht die russische Führung, die öffentliche Meinung im von der Ukraine kontrollierten südlichen Teil des Donbass’ zu beeinflussen und die Bewohner davon zu überzeugen, dass jede weitere Konfrontation mit Russland sinnlos wäre. Kontrollen durch den Grenzschutz des FSB heimdienstes FSB stoppten und inspizierten Handels- Die zunehmenden Spannungen zwischen Russland und schiffe, die aus ukrainischen Häfen kamen oder diese der Ukraine im Asowschen Meer und in der Straße von anlaufen wollten. Einige Schiffe wurden mehr als 24 Stun- Kertsch sind eine weitere Stufe im russisch-ukrainischen den festgehalten, manche wiederholt kontrolliert. Die rus- Konflikt, der mit der Annexion der Krim durch Russ- sischen Behörden erklärten, dies seien Sicherheitsmaßnah- land seinen Anfang nahm. Ende März 2018 stoppten men zum Schutz vor terroristischen Gefahren. Mitte Mai ukrainische Grenztruppen den unter russischer Flagge 2018 erhöhte Russland den Druck und kündigte Militär- segelnden Fischkutter »Nord«. Die Besatzungsmitglie- übungen an. Die Übungen fanden im Asowschen Meer der wurden wegen illegalen Grenzübertritts verhaftet. auf einer Fläche von 2000m2 statt, einschließlich ukrai- Russland warf daraufhin der Ukraine »staatlich geför- nischer Hoheitsgewässer in der Nähe von Berdjansk, die derte Piraterie« vor1 . Die Ukraine habe kein Recht, das komplett gesperrt wurden. Obwohl die Militärübungen Schiff zu stoppen, da es eine Vereinbarung zwischen bei- inzwischen offiziell eingestellt wurden, dauern die Inspek- den Staaten über die gemeinsame Nutzung der Straße tionen durch die russischen Sicherheitsdienste an. von Kertsch und des Asowschen Meers gebe. Diese war In den vergangenen Monaten wurden zusammenge- 2003 unterzeichnet und im April 2004 von den Par- nommen etwa 150 Schiffe2 ukrainischer und internatio- lamenten in beiden Ländern ratifiziert worden. Das naler Reedereien festgehalten, die ukrainische Seehäfen Abkommen legt fest, dass beide Seiten das Bassin als Bin- anlaufen wollten. Die durch die russischen Kontrollen nengewässer sehen und sich ukrainische und russische verursachten Verluste werden, abhängig von der Größe Handels- und Kriegsschiffe darin frei bewegen dürfen. der Schiffe und der Dauer der Inspektionen, auf 5.000– Die Vereinbarung enthielt die Absichtserklärung, dass 15.000 US-Dollar pro Tag veranschlagt. Einige Reedereien eine Grenze im Asowschen Meer und in der Straße von zogen daraus bereits Konsequenzen und steuern inzwi- Kertsch gezogen werden soll. Allerdings haben entspre- schen keine Häfen mehr im Asowschen Meer an, sondern chende Verhandlungen, die seit 2003 laufen, zu keinem weichen auf Schwarzmeerhäfen aus. Die Maßnahmen des Ergebnis geführt, da Russland den Prozess blockiert. FSB verursachen auch unmittelbar finanzielle Verluste für Russland drohte als Reaktion auf die Festnahme des ukrainische Häfen, die ihren Betrieb notgedrungen unter- russischen Fischkutters damit, für ukrainische Schiffe die brechen müssen. Durch den einbrechenden Handelsver- Durchfahrt durch die Straße von Kertsch zu blockieren, kehr musste der Hafen von Mariupol Anfang Juni seinen was den Betrieb der ukrainischen Handelshäfen in Berd- Betrieb für einige Tage komplett einstellen. Als Reaktion jansk, Mariupol und Henitschesk spürbar stören würde. auf die russischen Aktionen ordnete die Ukraine Militär- Diese Drohung wurde Ende April 2018 wahrgemacht: übungen an der Küste des Asowschen Meeres von Juni bis Wassergrenzschutzeinheiten des russischen Inlandsge- September 2018 an. Auf diese Weise wollte die ukraini- UKRAINE-ANALYSEN NR. 207, 26.10.2018 10 sche Seite den Grenzschutz des FSB von den ukrainischen kehrs in der Straße von Kertsch auf etwa 20 Millionen Seehäfen fernhalten und an weiteren Kontrollen hindern. US-Dollar jährlich belaufen, während die indirekten Verluste (zum Beispiel durch den Verlust von Arbeits- Eine Brücke von besonderer Bedeutung plätzen in den Häfen) auf 40 Millionen US-Dollar pro Die Brücke über die Straße von Kertsch stellt ein wei- Jahr beziffert werden. Trotz der Tatsache, dass wegen teres Problem für den Betrieb der ukrainischen Häfen des Konflikts in der Ostukraine der Warentransport in im Asowschen Meer dar. Der Bau der Brücke und ihre ukrainischen Häfen im Asowschen Meer um 50 Prozent Inbetriebnahme im Mai 2018 haben den Verkehr von eingebrochen ist (von 17.663 Millionen Tonnen 2013 auf Handelsschiffen merklich gestört. Schon das Aufstel- 8.912 Millionen Tonnen 2017), leisten die Einnahmen len der Brückenbögen im August und September 2017 aus diesem Wirtschaftszweig nach wie vor einen wich- hatte den Schiffsverkehr durch die Meerenge komplett tigen Beitrag zum ukrainischen Staatshaushalt.4 lahmgelegt, was der Ukraine nach eigenen Angaben Neben dem Verlust der Kontrolle über die Straße Verluste von rund 190 Millionen US-Dollar einbrachte.3 von Kertsch wurde die Ukraine auch der Möglichkeit Außerdem limitiert der Brückenbau – entgegen Russ- beraubt, Transitgebühren für die Durchfahrt von Han- lands früherer Erklärungen – die Größe der Schiffe, die dels- und Kriegsschiffen zu erheben. Die dadurch ent- durch die Meerenge fahren können. Aktuell können Schiffe, standenen Einbußen werden auf mehrere Millionen US- die höher als 33 Meter oder länger als 160 Meter sind, die Dollar jährlich geschätzt. Im Mai 2017 reichte Kiew am Meerenge nicht passieren. So ist die Route für hochsee- Ständigen Schiedshof in Den Haag Klage gegen Russ- taugliche Schiffe des Typs Panamax nicht mehr befahrbar, land ein, weil es das Recht des ukrainischen Staats ver- was finanzielle Verluste für den ukrainischen Industriesek- letze, die Ressourcen im Asowschen Meer, in der Straße tor mit sich brachte. Nach Angaben der Hafenverwaltung von Kertsch und im Schwarzen Meer zu nutzen. Gegen- Mariupol waren noch 2016 ein knappes Viertel (23 Prozent) stand des Verfahrens ist der Entzug der Möglichkeit zur der Schiffe, die den Hafen anliefen, vom Typ Panamax und Nutzung der Küsteninfrastruktur und Meeresressour- generierten 43 Prozent des gesamten Güteraufkommens. cen sowie die unerlaubte Nutzung dieser durch Russland. Die Notwendigkeit, mehrere kleinere Schiffe anstatt Die Klage verweist auf die illegale Tätigkeit russi- eines großen zu mieten, hat die Transportkosten erhöht scher Unternehmen in Gebieten, die zu ukrainischem und damit die Attraktivität der ukrainischen Häfen und Territorium gehören; einschließlich des Baus einer Brü- ihrer Exporte verringert (durch höhere Versicherungskos- cke in der Straße von Kertsch (siehe auch K. Nieczy- ten für Schiffe und Fracht aufgrund des höheren Risikos por: For justice and compensation. Ukraine takes Rus- in einer instabilen Region, in der militärische Manöver sia to the international courts, OSW Commentary, drohen). Es sei darauf hingewiesen, dass diese Einschrän- 11.06.2018, <https://www.osw.waw.pl/en/publikacje/ kungen den Betrieb der russischen Häfen im östlichen osw-commentary/2018-06-11/justice-and-compensation- Teil des Asowschen Meeres nicht betreffen. Dort beträgt ukraine-takes-russia-to-international>). die durchschnittliche Wassertiefe fünf Meter, was eine natürliche Beschränkung für die dort fahrenden Schiffe Außerordentliche Sicherheitsmaßnahmen bedeutet. Die Wassertiefe in den Häfen von Berdjansk Die Brücke, Verbindung der Krim-Halbinsel mit dem rus- und Mariupol beträgt hingegen mehr als acht Meter, sischen Festland, wurde mit speziellen Sicherheitsmaßnah- was die Löschung von Schiffen mit einer deutlich größe- men bedacht, die ihre strategische Bedeutung bekräftigen. ren Tonnage ermöglicht. Die Hafenverwaltung Mariu- Eine Sondereinheit, bestehend aus Vertretern verschiede- pol schätzt, dass durch die mit dem Bau der Brücke ner Ministerien, soll die Sicherheit im Straßen- und Schie- verbundenen Einschränkungen allein der Handel mit nenverkehr gewährleisten und das Stromnetz und die Gas- Gütern der Metallindustrie um 1,5 Millionen Tonnen pipeline durch die Straße von Kertsch sichern. Die Task jährlich schrumpft, was einem Verlust von rund 9,5 Mil- Force versucht ein umfassendes Sicherheitssystem zu entwi- lionen US-Dollar entspricht. Die Hüttenwerke der Met- ckeln, inklusive Maßnahmen gegen terroristische Angriffe invest Gruppe des Oligarchen Rinat Achmetow mussten von Land, See und Luft. Zum Beispiel soll in Zukunft ein ihre Waren mit der Eisenbahn in die Schwarzmeerhäfen neues System namens »Pinguin« die Brücke schützen, des- Mykolajiw und Odessa transportieren, um ihre interna- sen Unterwasserdrohnen Taucher und Sprengstoffe erken- tionalen Aufträge erfüllen zu können. Der Umsatz des nen und das akustische Impulse im Wasser aussendet, die Hafens Berdjansk ging 2017 um 37 Prozent zurück, was verhindern, dass sich Personen der Brücke nähern. Russ- zu Verlusten in vielen lokalen Betrieben führte, die von land führt die terroristische Bedrohung durch ukrainische Schiffstransporten abhängig sind. Das ukrainische Infra- Saboteure als Grund an für die umfangreiche und kost- strukturministerium schätzt, dass sich die finanziellen spielige Investition in den Schutz der Infrastruktur in der Verluste infolge der Einschränkungen des Schiffsver- Straße von Kertsch. Mit dem unmittelbaren Schutz der
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