OSTERREICHISCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN MATHEMATISCH-NATURWISSENSCHAFTLICHE KLASSE DENKSCHRIFTEN, 116. BAND, 9. ABHANDLUNG WOLFGANG KAUNZNER . .. UBER EINE ENTWICKLUNG IN DER DIMENSIONSRECHNUNG WIEN 1979 IN KOMMISSION BEl SPRINGER-VERLAG, WIEN/NEW YORK DRUCK: ERNST BECVAR, A-llS0 WIEN ISBN-13: 978-3-211-86481-4 e-ISBN-13: 978-3-7091-5512-7 DOl: 10.1007/978-3-7091-5512-7 ISSN 0379-0207 Veroffentlichungen der Kommission fur Geschichte der Mathematik und der NatunvissenschaJten, Heft 27 Eadem sunt quorum unum potest substitui alteri salva veritate. (Leibniz, Opera Philosophica, ed. Erdmann, Pars prior, Berlin 1840, S. 94) Herrn Professor Dr. Otto Volk, Wurzburg, in dankbarer Verehrung gewidmet EINLEITUNG Nachdem die Eins ais Zahl unter Zahien seit SIMON STEVIN anerkannt war, scheint man die Homogenitat im Aufbau algebraischer Gieichungen - bis dahin meist uber die konstante Einheit 0 oder d [= dragma] gewahrt - neu aufgefaEt zu haben. Fur Theoretiker durfte dies mit AniaE gewesen sein, sich nicht nur um die Eins ais Einheit zu bemuhen, sondern auch um Einheitensysteme; so erfoigte die Bezeichnung der imaginaren Einheit ais i durch LEONHARD EULER und schlieBlich der Obergang zu hoher-komplexen Zahisystemen vor allem durch WILLIAM ROWAN HAMILTON. Fur Praktiker durfte dies den Weg freigemacht haben, sich auch anderen Einheiten zu widmen und eine Gleichung nicht nur auf ihre Quantitat, sondern auch auf ihre Qualitat hin zu untersuchen. Die Bezeichnung "Dimension" im physikalischen Sprachgebrauch wurde von JEAN BAPTISTE JOSEPH FOURIER imJahre 1822 in der "Theorie Analytique de la Chaleur" erstmais angewandt, Ieider synonym mit dem Begriff "Dimensionsexponent". In Ietzter Zeit mehren sich Bestrebungen, der Problematik in der Dimensionsiehre der Physik durch gezielte mathematische Methoden zu begegnen. Man entwickelte das II Theorem, den Satz von den dimensionsiosen Potenzprodukten. Er wurde die Basis sowohl fur eine heute mogliche Betrachtungsweise aus dem Blickwinkel der Dimensionsanalyse heraus uber die Forderung der Dimensionshomogenitat, ais auch fur sinnvolle Modell untersuchungen, wie sie in der Ahnlichkeitstheorie ihre Darstellung finden. VORWORT Bis weit in die Neuzeit hinein war die politische Aufteilung in Kleinstaaten und die hierdurch bedingte Unterschiedlichkeit in den jeweiligen MaReinheiten fUr Geld, Lange, Flache, Raum und Masse unumstaBliche Tatsache. "Besonders bemerkbar war es in Frank reich, wo nicht nur verschiedene Provinzen verschiedene MaBe hatten, sondern einzelne Stadte in ein und derselben Provinz. Das Feststellen der Einheit der MaRe oder die Gebrauchs einfuhrwlg eines allgemeinen MaBes fur die ganze Menschheit wurde hier fruher, und viel leicht mit einer graBeren Klarheit eingesehen, als in den anderen Landern Europas1)." Allein das Vorhaben, die in einem Lande gemessenen GraBen in die im entgegengesetzten Teile Europas gultigen uber aIle durch den Zo11 zwischenliegenden umzurechnen, gab schon einer Schar von Menschen Arbeit und Brot. Ein Blick in die Arithmetikbucher bis ins 19. Jahr hundert hinein zeigt, daB diese Umrechnungsbeziehungen in Tabellenform mitunter sehr ausfUhrlich behandelt wurden. ' Die Erkenntnisse aus der Mathematik und auch aus der Physik und Technik besaBen eine gewisse Eigenstandigkeit; das heiRt, der Entdecker und seine Anhanger empfanden sie als zahlenmaBig richtig und den Einheiten nach - so weit formulierbar und soferne man dieses Wort schon verwenden darf - offenbar in Ordnung, insgesamt also fehlerfrei. Die Gegner lehnten neue - meist in Worten ausgedruckte - Formeln oder Ergebnisse indessen einfach durchweg und rundweg abo Die Auffassung vom Raume durch ISAAC NEWTON (1643-1727) einerseits, und wie sie andererseits von CHRISTIAAN HUYGENS (1629-1695) und GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ (1646-1716) vertreten wurde2), ist nur eines von vielen Beispielen. Hieraus wird etwa verstandlich, daB die Formeln der FeldmeBkunst der ramischen Agrimensoren bei uns bis ins spate Mittelalter hinein und daruber hinaus neben der mittler weile uber die Araber seit dem 12. Jahrhundert bekannt gewordenen Geometrie EUKLIDS (365 ?-300?) Verwendung fanden. Es handelte sich in der FeldmeBkunst ja ohnedies meist nur darum, zu Zahlenwerten zu gelangen. So hatte man seinerzeit den Flacheninhalt des + gleichseitigen Dreieckes in Worten sinngemaB angegeben als A = ( a2 a) (2 3). Es wurden also Flachen und Langen addiert. "Das widerspricht vallig dem Dimensionsprinzip der klassischen Mathematik, deren Hohe Heron zeitlich sehr nahe steht4)." Aufgrund der solchen Ausdrucken eigenen Beharrlichkeit arbeiteten die Autoren und Feldmesser auch weiterhin mit dieser Regel. Hieraus wird aber auch verstandlich, daB fruhe geometrische oder feld messerische Druckwerke hohe Auflagen erleben konnten, denn es bm ja wenig Neues hinzu. Eine Abhandlung uber das Feldmessen von BERNHARD CANTZLER etwa wurde in den Jahren 1622 und 1641, mit Zusatzen im Jahre 1750 in Nurnberg in der 5. Auflage heraus gebracht5). Die praktische Mathematik der Renaissance lieferte die Proportion auch als v.: ,) BOBYNIN, Elementare Geometrie. In: CANTOR, MORITZ: Vorlesungen uber Geschichte der Mathematik, Band 4, Leipzig 1908, S. 319-402; bier S. 362. 2) JAMMER, MAX: Das Problem des Raumes, Vorwort von ALBERT EINSTEIN, Darmstadt 1960, S. XIV. 3) Aream autem eiusdem trianguli hoc modo invenie.<: vnum laws in se ipsum ducatur et producto latus eiusdem addatur, et medietas aggregati ostendit quaesitum lesen wir in Clm 26639, f. 1 v, geschrieben um 1489. 4) TROPFKE, JOHANNES: Geschichte der Elementar-Mathematik, Band 3, Berlin lmd Leipzig 31937, S.67. 5) DOPPELMAYR, JOHANN GABRIEL: Historische Nachricht von den Nurnbergischen Mathematicis und Kunstlern, Niirnberg 1730, S. 103, Anm. k. Die Ausgabe von 1750 befmdet sich unter der Signatur philos 1315 in der Staatsbibliothek Regensburg. Die Lebensdaten CANTZLERS konnten nicht ermittelt werden. 2 148 Regel, durch deren Anwendung eine Aussage qualitativ uberdacht werden muBte; etwa: "Aptatur autem ad mercimonia regula utilis sic, quod primo loco numerus rei locatur, pretium huius in secundo, de quo quaeritur in 3°, ita, quod tertius primo correspondat in specie mensurae et pondere". Die Algebra bot in der Lehre von den Potenzen der Unbekann ten die Moglichkeit der Vertiefung solcher Dberlegungen; so lesen wir: "Item equare non est aliud, nisi denominationes equales in suis quantitatibus facere per additionem vel sub tractionem illius, in quo non sunt equales, sed dispares, scilicet subtrahendo minorem a maiore in similibus denominationibus 6)." Sinn der hiesigen Dberlegung solI sein: 1 a) die historische Entwicklung eines Teiles der Dimensionsrechnung; das heiBt, der Rechnung in Dimensionen; b) ein kurzer AbriB des Werdeganges der heute als Ahnlichkeitstheorie und Dimen sionsanalyse abgehandelten Disziplinen; 2) der systematische Aufbau in der Dimensionsrechnung, wie er sich vor aHem im vorigen Jahrhundert vo11zog. GESCHICHTLICHER DBERBLICK Damit sich diese Disziplinen herausbilden konnten, muBten zunachst die mathemati schen Methoden weit genug gediehen sein. VerhaltnismaBig bald drang die Mathematik wohl auch in geometrische, naturwissenschaftliche, kaufmannische und technische, lange Zeit spater aber erst in andere Wissensgebiete ein, welche mit ihr seinerzeit keinerlei Bezie hungen hatten. Am Anfang herrschte auch in der Mathematik das Wort. Schon vor der Mitte des 2. Jahrtausends vor der Zeitwende lassen sich im agyptischen Papyrus Rhind Gleichungs ansatze nachweisen, in denen die algebraische Unbekannte als "Haufen" zu ubersetzen ware7). Der Schreiber AHMES8) benutzte auch flir die abstrakte Einheit ein besonderes Wort9). 1m Berliner Papyrus 661910) etwa aus der namlichen Zeit, der 12. Dynastie, begegnen zwei Unbekannte, ausgedriickt als "Haufen 1" und "anderer Haufen" oder "die erste GroBe" und "die andere GroBe"ll). Die Griechen kleideten ihr sicherlich zum Teil aus praktischer Lehre iibernommenes Wissen - urn auch das Irrationale zu erfassen - in exaktes geometrisches Gewand12). Die altbabylonische Losung der quadratischen Gleichungen durften die Satze EUKLID II, 4, 5, 6 sein13). Fur die Griechen bedeutete die Eins keine Zahl, wohl aber den Ursprung aller Zahlen 14). In den beiden folgenden Jahrtausenden anderte sich weder bei den orientali schen noch bei den Gelehrten der westlichen Welt - mit Ausnahme der christlichen Schola- 6) Beide Zitate entstammen der ehedem Regensburger, jetzt Miinchener Handschrift elm 26639 von ca. 1489, f. 9v bzw. f.28r• 7) TROPFKE4, Band 2, Berlin lll1d Leipzig 31933, S. 9 und 50; TROPFKE4, S. 23£; PEET, T. ERIC: The Rhind Mathematical Papyrus, London 1923, S.61, macht auf die im Englischen wahrscheinlich sinngemaBe Wieder gabe fur das agyptische Fachwort als "a heap" in der Folgebedeutlll1g "quantity" aufmerksam. Man sehe auch VOGEL, KURT: Vorgriechische Mathematik I, Vorgeschichte und Agypten, Paderbom 1958, S. 54. 8) TROPFKE7, S. 9; VOGEL7, S.27. 9) TROPFKE', S. 71. 10) TROPFKE7, S. 50; Literaturhinweis bei VOGEL7, S. 27, Anm. 4. 11) VOGEL, KURT: Die Algebra der Agypter des mittleren Reiches. In: Archeion 12, Rom 1930, S. 126- 162; hier S. 151; auch TROPFKE', S. 50 mit Anm. 269; femer TRoPFKE4, S. 24; die neuere Lesart "die erste GroBe" lll1d "die andere GroBe" fmdet sich bei VOGEL7, S. 57. 12) TROPFKE4, S. 25. 13) TROPFKE4, S. 25. 14) TROPFKE7, S.71. Hier unterrichtet GERICKE, HELMUTH: Geschichte des Zahlbegriffs. B.I-Hochschul taschenbucher 172/172 a, Mannheim/Wien/Z iirich 1970, S. 29 £, mit dem ausdriicklichen Hinweis auf ARISTOTELES, Metaph. 1088a6: "Die Eins ist keine Zahl." 149 stiker - diese Ansicht15). Erst SIMON STEVIN (1548-1620) erkannte - von PETRUS RAMUS (1515-1572) offenbar beeinfluBt16) - erstmals die Eins als Zahl ausdriicklich an17). HERON VON ALEXANDRIEN (1. Jahrhundert n. ehr.) verwendete die Bezeichnung "etwas anderes", wenn er in der Proportion das 4. Glied suchte18). Mit dem Obergang von der rhetorischen zur synkopierten algebraischen Ausdrucks weise19) treten bei DIOPHANT VON ALEXANDRIA (urn 250) Bezeichnungen fur Einheiten au£ Konstante GroBen driickte DIOPHANT nicht durch die einfachen Zahlen allein aus, sondem fugte den Zahlenwerten die Benennung "Einheiten" - {loovcX8€~, abgekurzt {loG - hinzu20). Entsprechend wurden Namen fur die ersten sechs Potenzen der Unbekannten - er kennt auch mehrere Unbekannte21) - und fur deren Kehrwerte verwendet, wobei vor allem 8UVct{loL~ fur x2 und xu~o~ fur x3 wahrscheinlich am geHiufigsten sind22). Auch hier handelte es sich bei der Schreibweise urn Abkurzungen von Wortem. Die otiginale Schreibart aus der Zeit DIOPHANTS kennt man durch den Papyrus Michigan 62023). In diesem Fragment werden bis zu vier Unbekannte nebeneinander benutzt24). Der Inder BRAHMAGUPTA (geb. 598) z. B. unterschied mehrere Unbekannte durch Farb worter, hier wahrscheinlich chinesischen Vorlagen folgend25). Der Schritt zur Symbolik in der Algebra vollzog sich offenbar im 13. oder 14.Jahr hundert, nachdem in der in Italien geschriebenen ehedem Admonter Handschrift 612, jetzt MS Lyell 52 der Bodleian Library in Oxford, als derzeit fruhester bekannter Nachweis in unserem Sprachraum - namlich vor 1380 - c, r und d fiir x und die Einheit aufgefunden X2, werden konnten26). Eine ganze Reihe von Bedingungen wurde femer geschaffen, die der mittelalterlichen Mathematik noch nicht eigen gewesen waren: durch die Losung der Mathematik von der Philosophie, durch die Verwendung der indisch-arabischen Ziffem und durch die Erfindung des Buchdrucks wesentlich begiiustigt, konnten sich im 15. und 16. Jahrhundert die ersten mathematischen Fachgebiete Algebra, Arithmetik und Trigonometrie zu bisher nicht ge kannter Hohe entwickeln und der Mathematiker trat als Berufszweig auf: einmal auf den Universitaten, nachdem dort eigene Lehrstuhle fur Mathematik geschaffen worden waren27), zum anderen als Rechenmeister in privaten oder stadtischen Rechenschulen. Urn 1550 war in Deutschland der Hohepunkt dieser Entwicklung bereits uberschritten. 15) ThOPFKE', S.72f. 16) GERICKE14, S. 31. 1') TROPFKE', S. 73; GERICKE14, S. 31. 18) TROPFKE4, S. 26. 19) TROPFKE', S. 4. 20) TROPFKE', S. 5. 21) VOGEL, KURT: Eine neue QueUe aItester griechischer Algebra. In: Zeitschrift far mathematisch-natur- wissenschaJtlichen Unterricht aller Schulgattungen, Jahrgang 62, Leipzig 1931, S. 266-271; hier S. 267. s. 22) TROPFKE7, 5£ 23) ThOPFKE', S. 5, Anm. 3; TROPFKE4, S. 26; VOGEL21, S. 266-271. 24) TROPFKE', S. 50£; VOGEL21, S. 266£ 25) TROPFKE', S.12 mit Anm.28. Als einschlagige Darstellung ment COLEBROOKE, HENRY THOMAS: Algebra, with Arithmetic and Mensuration, from the Sanscrit of Brahmegupta and Bhascara, London 1817, vor allem S.227-233. 26) Die Handschrift ist im 2. Biicherkatalog des PETER VON ARBON vom Jahre 1380 bereits aufgefiihrt. Man sehe auch MOSER-MERSKY, GERLINDE: Mittelalterliche Bibliothekskataloge Osterreichs, Band 3, Steiermark, Graz/Wien!Koln 1961, S. 34-63; hier S. 61; WICHNER, P.J.: Zwei Biicherverzeichnisse des 14. Jahrhunderts in der Admonter Stiftsbibliothek. In: Beihefte zum CentralblattfaT Bibliothekswesen, Band 1, Heft 4, Leipzig 1889, S. 34; LA MARE, ALBINIA DE: Catalogue of the Collection of Medieval Manuscripts bequeathed to the Bodleian Library, Oxford, by James P. R. Lyell, Oxford 1971, S. 143-146; KAUNZNER, WOLFGANG: Uber einenfriihen Nachweis zur symbolischen Algebra. In: Osterreichische Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse, Denkschriften, Band 116, Abhandlung 5, Wien 1975; erganzend TROPFKE7, S. 7f. 27) VOGEL, KURT: Die Practica des Algorismus Ratisbonensis. Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Band 50, Miinchen 1954, S. 231. 150 Die Fortschritte in der Mathematik waren unverkennbar. Die Grundrechenarten, angewandt auf polynomiale Ausdriicke28), und das Losen von quadratischen Gleichungen waren in Fachkreisen allgemein bekannt geworden. GIEUS VAN DEN HOECKE hatte im Glei chungsansatz auch negative Koeffizienten zugelassen29). MICHAEL STIFEL (1487?-1567) hatte der bisher oft umstandlichen - manchmal auch unklaren - Darstellungsweise der alge braischen, speziell der guadratischen Gleichung eine ubersichtliche universelle Form ge geben30). Die italienisd~en Mathematiker hatten mit der Losung der kubischen Gleichung in der Algebra neue Akzente gesetzt. Die algebraische Symbolik war zwar sehr geschickt angelegt - erinnert sei an die Leistungen der Cossisten -, lieB aber dem einzelnen ziem lichen Spielraum offen; dies machte sich beim Anschreiben hoherer Potenzen der Unbekann ten sehr deutlich bemerkbar; so bearbeiteten die Mathematiker im 16.Jahrhundert gleiche Beispiele in noch oft unterschiedlicher Schreibart31). FRANlfOIS VIETE (1540-1603) fiihrte Buchstaben anstelle von Zahlen ein32). JOHANNES KEPLER (1571-1630) verwendete die deutschen Worter Gleichheit - nicht mehr im Sinne von Gleichung - und Ungleichheit33). Vorwiegend durch die Mathematiker der Barock zeit und LEONHARD EULER (1707-1783) erfolgte die N ormierung der symbolischen alge braischen Schreibweise 34 ). Das Augenmerk konnte nun von der Formalisierung des auBeren Rechenganges weg gelenkt werden unter anderem auf Vorhaben, welche der internationalen Verstandigung dienten - trotz des Bestrebens, verstarkt auch wissenschaftliche Bucher in der Landessprache erscheinen zu lassen; denn eine wirre Vielfalt von einzelstaatlichen und einzelstadtischen MaRbezeichnungen war der Vertiefung der gegenseitigen Beziehungen in Handel und Wissenschaft nicht forderlich gewesen. "In Deutschland war die Verwirrung wohl am schlimmsten 35)." 1a) Der Gedanke, die gebrauchlichen MaRe zu normieren, durfte mit der Oberlegung ein hergegangen sein, reproduzierbare Einheiten zu schaffe n. Der Mensch als MaR aller Dinge wird auch hier den ersten Etalon abgegeben haben: FuB, Elle, Klafter, Doppelschritt usw. sind MaRangaben, die sich in der Oberlieferung weit zuruckverfolgen lassen. Das hierdurch bedingte Durcheinander erweckte wohl bald Bestrebungen, wenigstens im Bereich einzelner Landesteile einheitlich zu arbeiten. Mythologie und Gegenwartsdenken haben antike Volker bewogen, groBartige Bauwerke zu schaffen. Ohne Vereinbarungen in der Wahl der Langen maRe ware dies nicht moglich gewesen. Die Magna Charta setzte im Jahre 1215 in England einheitliche MaRe und Gewichte fest36). "Wahrscheinlich hatte Agricola seine Bucher uber 28) Etwa im Algorithmus de additis et diminutis in der Handschrift C 80 der Sachsischen Landesbibliothek Dresden, f. 288r £ 29) VAN DEN HOECKE, GIELIS: Ben sondeTlinghe boeck in dye edel conste Arithmetica, Antwerpen 1537. Man sehe hierzu auch SMEUR, A.J. E. M.: De zestiende-eeuwse nederlandse Rekenboeken, 's-Gravenhage 1960, S.12, 15£ und Ofter. Die Lebensdaten VAN DEN HOECKES sind nicht bekannt. 30) STIFEL, MICHAEL: ATithmetica integra, Niirnberg 1544, f.22r. 31) Obwohl STIFEL in der Arithmetica integra die bei den Cossisten iibliche Schreibweise fiir die Potenzen der Unbekannten angewandt hatte, wollte er auch eine wahrscheinlich dem Laien naherliegende Bezeichnung einfiihren, namlich "sum", "sumsum" usw. Hierzu STIFEL, MICHAEL: Deutsche Arithmetica, Niirnberg 1545. 32) TROPFKE7, S. 53; TROPFKE4, S. 27; VIETE, FRANyOIS: Binfuhrung in die Neue Algebra, iibersetzt und er lautert von KAroN REICH und HELMUTH GERICKE, Miinchen 1973, S. 9 und 52. 33) KEPLER,JOHANNES: AujJzug aujJ deT vralten Messe-Kunst Archimedis, Linz 1616, Edition Frisch, Frankfurt und Erlangen 1864, S. 568. Man sehe hierzu GOTZE, ALFRED: Anfmge einer mathematischen Fachsprache in Keplers Deutsch. In: Germanische Studien, Heft 1, Berlin 1919, S. 82£ 34) TROPFKE7, S. 9. 35) V. ALBERTI, HANS-JOACHIM: MajJ und Gewicht, Berlin 1957, S. 56. 36) v. ALBERTI35, S. 55 und 94£ 151 MaBe und Gewichte nicht geschrieben, wenn er die Herbeifiihrung allgemeingiiltiger MaB und Gewichtsnormen nicht fiir dringend erforderlich gehalten hatte37)." In Sachsen besagt eine Verordnung von 1558, iiberall das Dresdener Scheffel- und SchankmaB anzuwenden38). KEPLER untersuchte 1626 das Ulmer MaBsystem und schlug vor, mehrere der bisher iiblichen MaBe in einem geeichten Eimer zu vergleichen: "Zwen Schuch mein tieffe, ein ele mein Quer, ein geeichter aimer macht mich lehr, dan sind mir vierthalbcentner bliben, vol Donau wasser wege ich sieben, doch lieber mich mit kernen euch und vier und sechzig mal abstreich, so bistu neinzig ime reich, gos mich Hans Braun 162739)." Die Bemiihungen darum, fiir das LangenmaB eine natiirliche Grundeinheit zu wahlen, sind ebenfalls sehr alt. MeBstrecken auf der Erde boten sich von selbst an. So solI im 9. Jahr hundert am arabischen Meerbusen der Erdgrad mittels der beriihmten -leider nicht reprodu zierbaren - "schwarzen Elle" vermessen worden sein40). WILLEBRORD SNELLIUS (1580-1626) vermaB imJahre 1615 den Bogen Alkmaar-Bergen op Zoom in Holland41). 1664 schlug HUYGENS die Lange des Sekundenpendels als Grundeinheit vor. Neun Jahre spater erweiterte er seine Empfehlung dahingehend, ein Drittel der Lange des einfachen Sekundenpendels eines mittleren Sonnentages einem natiirlichen MaBsystem gewissermaBen als "ZeitfuB", als "pes horarius", zugrunde zu legen. 1672/73 jedoch wurde die Ortsabhangig keit dieser GroBe bereits nachgewiesen und sie erhiclt keine Bedeutung42). GABRIEL MOUTON (1618-1694) brachte 1670 in der "Nova Mensurarum Geometricarum Idea" als Anhang zu seinen in Lyon erschienenen "Obscrvationes Diametrorum Solis et Lunae Apparentium"43) folgenden Vorschlag zur Vereinheitlichung der LangenmaBe: Man fiihre als MaBeinheit die "virgula geometrica" ein, welche gleich ist dem 600000. Teil des Erdmeridiangrades. Die Anzahl del' Schwingungen eines so lang en - Freilich auch orts abhangigen - Pendels wahrend einer halben Stunde bestimmte er zu 3959i. Del' spateren Unterteilung des metrischen Systems auf Zehnerbasis wurde hier wohl der Weg gewiesen 44) ; denn in MOUTONS Darstellung soIl sich sowohl erstmals die Idee eines natiirlichen Grund maBes finden, als auch die dezimale Bezeichnung. "Milliare Geometricum" heiBt die Minute eines Meridiangl'ades mit den Untereinheiten Centuria, Decuria, Virga, Virgula, Decima, Centesima, Millesima 45). Mittels Triangulation - den Gedanken von SNELLIUS mit Erfolg anwendend - vermaB der franzosische Astronom JEAN PICARD (1620-1682) in den Jahren 1669/70 den Erdgrad und bestimmte ihn zu 57060 Toisen 46). "Schon Picard soIl die Vermuthung ausgesprochen haben, die Erde sei keine vollkommene Kugel47)." 37) v. ALBERTI3S, S. 55. GEORGIUS AGRICOLA (1494-1555) in seiner Sehrift De mensuris et ponderibus, Basel 1533, Signatur Hist. pol. 266 in der Staatsbibliothek Regensburg; hierzu aueh v. ALBERTI3S, S.30. 38) v. ALBERTI3s, S. 60. 39) Entnommen v. ALBERTI3s, S. 58f. Es sei auf dort aufgefiihrte weitere Literatur verwiesen. 40) v. ALBERTI3s, S. 110. v. ALBERTI3s, S. 31, gibt die Lange der "sehwarzen Elle" mit 0,5196 m an; in einer noeh nieht veroffentliehten Untersuehung von GERICKE-VOGEL fmdet sieh 0,5404 m. 41) v. ALBERTI3S, S. 11I. 42) WOLF, RUDOLF: Gesehichte der Astronomie. Geschichte der WissenschaJten in Deutschland, Band 16, Mlinehen 1877, S. 624; v. ALBERTI3s, S. 113f. Einzelheiten beiHuYGENS, CHRISTIAAN: Horologivm Oscillatorivm, Paris 1673. In: Oeuvres Completes de Christiaan Huygens, Band 18, La Haye 1934, etwa S. 97 und 35I. 43) Dieses Bueh seheint auBerst selten zu sein. reh danke hier Herm Dr. HEINZ-JURGEN HESS von der Niedersaehsisehen Landesbibliothek Hannover, daB er mir die notigen Daten zukommen lieB. Im Exemplar in Hannover finden sieh Eintragungen von HUYGENS' Hand. Ein Brief MOUTON'S an HUYGENS ist abgedruekt in: Oeuvres Completes de Christiaan Huygens, Band 5, La Haye 1893, S. 325£ HUYGENS42, S. 353 etwa, erwalmt MOUTON. 44) v. ALBERTI3S, S. 114. 4S) Hierzu auch WOLF42, S. 623£, Anm. 4. 46) Hierzu WOh42, S. 385 und 613. 1 Toise = 1,94903 m. PICARD, JEAN: Mesure de la Terre, Paris 1671, S. 15, 21 und 23. 47) WOLF42, S. 613. 152 Der Ruf nach Realisierung eines Vorschlages blieb nicht aus. Hier trat 1703 GUILLAUME a AMONTONS (1663-1705) hervor mit seinem Traktat "Le Thermometre reduit une mesure fixe et certaine, et Ie moyen d'y rapporter les observations faites avec les anciens Thermo metres"48). Die franzosische Regierung ordnete 1735 Gradvermessungen mittels der Langen einheit Toise zuerst in Peru und dann in Lappland an, wobei man unter anderem die Ab plattung der Erde aufzeigte49); Vermessungen an anderen Orten folgten 50). 1m Jahre 1790 legte CHARLES MAURICE TALLEYRAND-PERIGORD (1754-1838) der Pariser Nationalversammlung ein Projekt zur Einfuhrung eines einheitlichen MaB- und Gewichts systems vor51). Die Normallange soUte die des Sekundenpendels unter der geographischen Breite 45° werden - zwar ortsabhangig, aber jederzeit reproduzierbar. Die Franzosische Akademie der Wissenschaften, mit der Bearbeitung der Anfrage betraut, empfahl in ihrem a "Rapport fait l' Academie des Sciences, par Mm. Borda, Lagrange, Lavoisier, Tillet et Condorcet, Ie 27 Octobre 1790" 52) in der Lehre vom Messen fUr die MaBeinheiten die Zehnerunterteilung, analog der Praxis in der Arithmetik. GABRIEL MOUTON als Vater dieses a Gedankens wird nicht erwahnt. Vom 19. Marz 1791 datiert der "Rapport fait l' Academie des Sciences, Sur Ie choix d'une unite de Mesures. Par Mm. Borda, Lagrange, Laplace, Monge et Condorcet"53). Hier schlagt man Z. B. fUr die Einheit der Lange eine naturliche Ent fernung vor, die nicht von anderen GroBen abhangt wie etwa die Lange des Sekunden pendels54), namlich den 10000000. Teil des Erdquadranten 55). 1m Jahre 1797 berief man - offensichtlich durch die Wirren der Revolution stark verzogert - in Paris eine internationale Kommission ein, urn die Vorzuge des metrischen Systems auch anderen Nationen zuteil werden zu lassen 56). Es dauerte trotzdem noch sehr lange, bis die meisten zivilisierten Staaten sich del' Meterkonvention anschlossen 57). Der Blick konnte nun, nachdem man in den zustandigen Kreisen eine einheitliche MaB bezeichnung geschaffen hatte, auf del'en praktische Nutzanwendung hin gelenkt werden. Eine gegluckte Synthese aus den Ergebnissen der experimentellen Physik, den wissen schaftlichen Resultaten der Mathematik - hier vor allem Algebra und Analysis -, und dem Gespul' fur die sinnvolle ontologische Struktul' durfte an der Wende vom 18. zum 19. Jahr hundel't derBegriffsbildung in del' physisch el'klarbal'en welt neue Impulse gegeben haben. Die Warmelehl'e mit ihren untel'schiedlichen Deutungen del' spateren kalorimetrischen Ein heit ubte offenbar nachhaltigen EinfluB auf die weitere Entwicklung aus und es kam eine groBe Zeit fur die Physik-Mathematikel', vorwiegend Franzosen. Begrunder der Dimensionsrech nung, wie wil' diese Disziplin bezeichnen wollen, ist JEAN BAPTISTE JOSEPH FOURIER (1768- 1830) in seiner "Theol'ie analytique de la Chaleur" von 182258). "Den Begriff del' Dimension 48) Memoires de Mathematique et de Physique, Tirez des Registres de I' Academie Royale des Sciences. De l' Annee 1703, Paris 1705, S. 50-56; hier S. 51. Hinweis bei BOBYNIN" S. 362. 49) V. ALBERTI35, S. 114£ Ausfiihrungen des an der peruanischen Expedition teilnehmenden PIERRE Bou GUER (1698-1758) sind auch in den Abhandlungen der Franzosischen Akademie der Wissenschaften nieder gelegt. Man vergleiche hierzu WOLF42, S. 478,616 lmd 617, Anm. 5. Die Notiz bei BOBYNIN" S. 362, Anm. 7, ist ungenau. 50) V. ALBERTI3S, S. 116; WOLF42, S. 618-621. 51) V. ALBERTI3S, S. 89; BOBYNIN" S. 363. 52) Histoire de l'Academie Royale des Sciences. Annee 1788, Paris 1791, S. 1-6, vor allem S. 5£ 53) Histoire52, S. 7-16. 54) Histoire52, S. 9£ 55) Histoire52, S.lO und 14f. Man sehe hierzu auch v. ALBERTI3S, S. 120; BOBYNIN', S. 363£; WOLF42, S.621-625. 56) BOBYNIN1, S. 368. 57) Eine Tabelle der Beitritte bei v. ALBERTI3S, S. 132. 58) Band 1, Paris 1822. Neu aufgelegt von DARBOUX, GASTON: Oeuvres de Fourier, Band 1, Paris 1888. Man sehe etwa: LANDOLT, MAX: GroJ3e, MaJ3zahl und Einheit, Band 1, Ziirich 21952, S. 51; GORTLER, HENRY: Dimensionsanalyse, Berlin/Heidelberg/New York 1975, S. 155£