RICHARD DEDEKIND Ober die Theorie der ganzen algebraischen Zahlen RICHARD OE OE KIND Ober die Theorie der ganzen algebraischen Zahlen Mit einem Geleitwort von B. VAN DER WAERDEN FRIEDR. VIEWEG Be SOHN . BRAUNSCHWEIG 1964 Die vorliegende Ausgabe ist ein Nachdruok des Elften Supplements von DIlÜCHLETs Vorlesungen fiber Zahlentheorie,4. Auflage, in den Fa88ungen XLVI bis XLIX nebst den Erläuterungen von E. Noether, entnommen aus Riohard. Dedekind, Gesammelte ma.thema.tiBohe Werke, Dritter Band, Bra.unschweig 1932 ISBN 978-3-322-97993-3 ISBN 978-3-322-98606-1 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-98606-1 Alle Rechte vorbehalten von Friedr. Vieweg & Sohn, Verlag, Braunschweig Softcover reprint ofthe hardcover 1st edition 1964 Geleitwort Zur Rechtfertigung dieser Edition von Dedekinds berühmtem elften Supplement zu Dirichlets "Vorlesungen über Zahlentheorie" kann ich keine besseren Worte finden als die von Dedekind selbst am Schluß seines Vorworts zur zweiten Auflage dieser "Vo rlesungen" (1871): "Endlich habe ich mich bemüht, überall, wo es mir möglich war, auf die Quellen zu verweisen, um den Leser zum Studium der Original werke zu veranlassen und in ihm ein Bild von den Fortschritten der Wissenschaft zu erwecken, deren ebenso tiefe wie erhabene Wahrheiten einen Schatz bilden, welcher die unvergängliche Frucht eines wahrhaft edelen Wett kampfes der europäischen Völker ist." Das elfte Supplement, das zuerst in der dritten Auflage erschien, war eine Neufassung eines bedeutenden Abschnittes (§§ 159-170) des zehnten Supplementes der zweiten Auflage. Über diesen Abschnitt schreibt Dedekind im Vorwort zur zweiten Auflage: "Endlich habe ich in dieses Supplement eine allgemeine Theorie der Ideale aufgenommen, um auf den Hauptgegenstand des ganzen Buches von einem höheren Standpunkte aus ein neues Licht zu werfen; hierbei habe ich mich freilich auf die Darstellung der Grundlagen beschränken müssen, doch hoffe ich, daß das Streben nach charakteristischen Grund begriffen, welches in anderen Teilen der Mathematik mit so schönen Erfolgen gekrönt ist, mir nicht ganz mißglückt sein möge." Schon vor Dedekind hatte Kronecker eine Idealtheorie der algebraischen Zahlkörper entwickelt, aber die Dedekindsche Theorie ist unabhängig von der Kroneckerschen entstanden. Dedekind fährt nämlich fort: "Die Untersuchungen in diesem von Kummer geschaffenen Gebiete, welche Kronecker vor vierzehn Jahren angestellt hat, sind bis jetzt nicht veröffentlicht, und ich vermag nach den damaligen brieflichen Mit teilungen dieses ausgezeichneten Mathematikers nicht zu beurteilen, in welchen Beziehungen seine Prinzipien zu den meinigen stehen." Die Dedekindsche Idealtheorie in ihrer ursprünglichen Form ist in §§ 159- 163 des zehnten Supplementes der zweiten Auflage von Dirichlets Zahlentheorie zum ersten Male dargestellt. Dieser Abschnitt ist als Abhandlung XLVII in die vorliegende Publikation aufgenommen. In der französisch geschriebenen Abhandlung XLVIII vom .Jahre 1877 hat Dedekind die Theorie nach seinen eigenen Worten "ausführlicher und in etwas veränderter Form dargestellt". Die französische Abhandlung enthält viele Beispiele und hat dadurch mehr den Charakter einer elementaren Einführung. Der Aufbau des elften Supplementes der dritten Auflage ist aus der französischen Abhandlung übernommen. Ferner enthält die dritte Auflage ein Stück allgemeine Idealtheorie, nämlich die eindeutige Zerlegung der Ideale einer Ordnung in "einartige Ideale". Dieses Stück ist als Abhandlung XLIX in die vorliegende Publikation aufgenommen. Ein Beweis, den Deilekind für die dritte Auflage kassiert hatte, wurde von Emmy Noether im Nachlaß gefunden und an der betreffenden Stelle wieder eingefügt. Im elften Supplement der vierten Auflage (1894) hat Dedekind die Theo rie ganz neu aufgebaut. Bei der Edition des dritten Eandes der gesam melten mathematischen Werke von Dedekind hat Emmy Noether die Fassung der vierten Auflage vollständig aufgenommen, während von den früheren Fassungen nur jeweils das dort nicht übernommene ge bracht wurde. Diese vorzügliche Anordnung wurde in dieser Publikation beibehalten. Die Erläuterungen von Emmy Noether findet man am Schluß der Abhandlung XLIX. Über die Entstehungsgeschichte des Supplementes zur 2. Auflage ist mir nicht mehr bekannt als das wenige, was Dedekind in seiner Abhandlung XV "Über den Zusammenhang zwischen der Theorie der Ideale und der Theorie der höheren Kongruenzen" (Abh. Ges. Wiss. Göttingen 23, 1878) mitteilt, nämlich: "Die neuen Prinzipien, durch welche ich zu einer ausnahmelosen und strengen Theorie der Ideale gelangt bin, habe ich zuerst vor sieben Jahren in der zweiten Auflage der Vorlesungen über Zahlentheorie von Dirichlet (§§ 159-170) entwickelt und neuerdings in dem Bulletin des sciences mathematiques et astronomiques (t. XI, p. 278; t. I (2e serie), p.17, 69, 144, 207) ausführlicher und in etwas veränderter Form dargestellt. Mit demselben Gegenstand hatte ich mich schon vorher, durch die große Entdeckung Kummers angeregt, eine lange Reihe von Jahren hin durch beschäftigt, wobei ich von einer ganz anderen Grundlage, nämlich von der Theorie der höheren Kongruenzen ausging; allein obgleich diese Untersuchungen mich dem erstrebten Ziele sehr nahe brachten, so konnte ich mich zu ihrer Veröffentlichung doch nicht entschließen, weil die so entstandene Theorie hauptsächlich an zwei Unvollkommenheiten leidet. Die eine besteht darin, daß die Untersuchung eines Gebietes von ganzen algebraischen Zahlen sich zunächst auf die Betrachtung einer bestimmten Zahl und der ihr entsprechenden Gleichung gründet, welche als Kongruenz aufgefaßt wird, und daß die so erhaltenen Definitionen der idealen Zahlen (oder vielmehr der Teilbarkeit durch die idealen Zahlen) zufolge dieser bestimmt gewählten Darstellungsform nicht von vornherein den Charakter der Invarianz erkennen lassen, welcher in Wahrheit diesen Begriff zukommt; die zweite Unvollkommenheit dieser Begründungsart besteht darin, daß bisweilen eigentümliche Ausnahme fälle auftreten, welche eine besondere Behandlung verlangen. Meine neuere Theorie dagegen gründet sich ausschließlich auf solche Begriffe, wie die des Körpers, der ganzen Zahl, des Ideals, zu deren Definition es gar keiner bestimmten Darstellungsform der Zahlen bedarf, und wie hierdurch der erstgenannte Mangel von selbst wegfällt, so bewährt sich die Kraft dieser äußerst einfachen Begriffe auch darin, daß bei dem Be weise der allgemeinen Gesetze der Teilbarkeit eine Unterscheidung mehrerer Fälle gar niemals mehr auftritt". Über die Entstehung der definitiven Fassung des elften Supplementes in der vierten Auflage von 1894 und über die Beziehung der Dedekindschen Begründungen zur Kroneckerschen. die im Frühjahr 1888 endlich publi ziert wurde, weiß man viel mehr. Dedekind selbst hat nämlich in einer Abhandlung "Über die Begründung der Idealtheorie" (Nachr. Ges. Wiss. Göttingen 1895, S. 106-113 = Werke 11. S.50-58) zu diesen Fragen Stellung genommen. Das elfte Supplement von Dfdekind hat in seinen drei Fassungen eine nachhaltige Wirkung ausgeübt. Es markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der Zahlentheorie und der Algebra. Der 1897 in Bel. 4 des Jahresberichtes der D.M.V. erschienene "Zahlbericht" von Hilbert zeigt, wie sich die Theorie der algebraischen Zahlkörper auf dem von Dedekind geschaffenen Fundament in kurzer Zeit zu einer erstaunlichen Höhe entwickelt hat. Für Emmy Noether war das elfte Supplement eine unerschöpfliche Quelle von Anregungen und Methoden. Bei jeder Ge legenheit pflegte sie zu s-:tgen "Es steht schon bei Dedekind". Evarl~ste Galois und Richard Derlekind sind es, die der modernen Algebra ihre Struktur gegeben haben. Das tragende Skelett dieser Struktur stammt von ihnen. Zürich. 1. November 1963 B. L. vun der Waerden Inhaltsverzeichnis XLVI. noor die Theorie der ganzen algebralsehen Zahlen (Supplement XI von Diriehleta! Vorlesungen über Zahlentheorie, •. Aun., S ••3 f-667 (1894).) Seite § 159. Theorie der komplexen ganzen Zahlen von Gauß .•.•.•••••.•..•. 2 § 160. Zahlenkörper . . . . • . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . • • • . . . . . . . • . . 20 § 161. Permutation eines Körpers ..... : .. . .... . . . .. . . .. .. .. . . .. • .. .. 24 § 162. Resultanten von Permutationen ..................•.•....•.... 29 § 163. Multipla und Divisoren von Permutationen .................... 30 § 164. Irreduzible Systeme. Endliche Körper...... .................•. 33 § 165. Permutationen endlicher Körper.... .. . ... .•..... .•..•...... .. 41 § 166. Gruppen von Permutationen ................................. 50 § 167. Spuren, Normen, Diskriminanten ............................. 53 § 168. Moduln.................................................... 60 § 169. Teilbarkeit der Moduln ...................................... 62 § 170. Produkte und Quotienten von Moduln. Ordnungen .... . . . . . . . . . . 67 § 171. Kongruenzen und Zahlklassen ................................ 74 § 172. Endliche Moduln ........................................... 80 § 173. Ganze algebraische Zahlen ................................... 90 § 174. Teilbarkeit der ganzen Zahlen. . .... .... .. . ..... ... . .. .... . ... 98 § 175. System der ganzen Zahlen eines endlichen Körpers ... : .......... 101 § 176. Zerlegung in unzerlegbare Faktoren. Ideale Zahlen .............. 107 § 177. Ideale. Teilbarkeit und Multiplikation ......................... 116 § 178. Relative Primideale ......................................... 121 § 179. Primideale .....................................•........... 126 § 180. Normen der Ideale. Kongruenzen .......................... , .. 130. § 181. Idealklassen und deren Komposition .......................... 139 § 182. Zerlegbare Formen und deren Komposition .................... 146 § 183. Einheiten eines endlichen Körpers ............................ 156 § 184. Anzahl der Idealklassen ..................................... 169 § 185. Beispiel aus der Kreist.eilung ................................. 178 § 186. Quadratische Körper ........................................ 200 § 187. Moduln in quadratischen Körpern ............................ 206 XI, VII. Über die Komposition der binären quadratischen }'ormeß (SuJlplement X von Dirichlets Vorlesungen über Zahlentheorie, 2. Aufl., S.423-462 (1871).) § 159. Endliche Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 223 § 160. Ganze algebraische Zahlen ................................... 236 § 161. Theorie der Moduln ......................................... 242 § 162. Ganze Zahlen eines endlichen Körpers ......................... 245 § 163. Theorie der Ideale eines endlichen Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 251 XLVßI. Sur Ja Theorie des Nombres entlers aJgebrlques (Parlfl, Gauthier-Ylllars, 1877, S. 1-121. Bulletin des 8elenecs matht\matlqucs et utro nomlques, Ire serie, t. XI, 2e sPrle, t. I., 1876, 1877.) Seite Introduction ...............................•....•...•.....•....... 263 Section I. Theoremes auxiliaires de 1110 theorie des modules ............• 273 Section H. Le germe de 111. theorie des idea.ux .....•....•.........•..•. 274 § 5. Les nombres rat.ionneJs entiers .......................... 274 § 6. Les nombres complexes entiers de Gauss . . . . . . . . . . . . . . . . .. 276 § 7. Le domaine 0 des nombres x + y v' - 5 '. . .. .. . .. .. .. . ... 278 § 8. Röle du nombre 2 dans le domaine 0 .................... 281 § 9. Röle des nombres 3 et 7 dans le domainc 0 •••••....•••..• 284 § 10. Lois de 111. divisibilite dan!< le domaine 0 ....•.......•.... 286 § 11. Ideaux dans le domaine 0 •••...••••••••••••.••••••••••• 288 § 12. Divisibilite et multiplication deR ideaux danR le domaine 0 • 291 XLIX. 'Ober die Theorie der ganzen algebrai8ehen Zahlen (Supplement XI VOll Dirichl"tsVorlc.ungcn über Zahlentheorie, 3. AuO., S.515-530 (187\1).) § 170. Multiplikation der Ideale .................................... 297 § 171. Relative und absolute Primi deale .................... ' ......•. 298 § 172. Hilfssätze ................................................. _ 303 § 173. Gesetze der Teilbarkeit ..................... '.' ...\ . ........•.. 308 Erläuterungen zu den vorstehenden Abhandlungen XLVI-XLIX ....... 313 Dedeklnd 1 XLVI Über die Theorie der ganzen algebraischen Zahlen 9159 Der Begriff der ganzen Zahl hat in diesem Jahrhundert eine Erweiterung erfahren, durch welche der Zahlentheorie wesentlich neue Bahnen eröffnet sind; den ersten und wichtigsten Schritt auf diesem Gebiete hat Gauß*) getan, und wir wollen zunächst die Theorie der Ton ihm eingeführten ganzen komplexen Zahlen wenig stens in ihren wichtigsten Grundzügen darstellen. weil hierdurch das Verständnis der später folgenden Untersnchungen über die allgemeinsten ganzen algebraischen Zahlen gewiß erleichtert wird. Bisher haben wir unter ganzen Zahlen ausschließlich die Zahlen 0, +1, +2, +3, +4 ... verstanden, nämlich alle diejenigen Zahlen, welche durch wiederholte Addition und Subtraktion aus der Zahl 1 entstehen; diese Zahlen reproduzieren sich durch Addition, Subtraktion und Multiplikation, oder mit anderen Worten, die Summen. Differenzen und Produkte von je zwei ganzen Zahlen sind wieder ganze Zahlen. Dagegen führt die vierte Grundoperation. die Division, auf den umfassenderen Be griff der rationalen Zahlen, unter welchem Namen die Quotien ten**) von irgend zwei ganzen Zahlen verstanden werden; offenbar reproduzieren sich diese rationalen Zahlen durch alle vier Grund operationen. Jedes System von reellen oder komplexen Zahlen, welches diese fundamentale Eigenschaft der Reproduktion besitzt, wollen wir künftig einen Zahlkörper oder kurz einen Körper nennen; der In begriff R aller rationalen Zahlen ist daher ein Körper, und zwar bildet er das einfachste Beispiel eines solchen. Dieser Körper R der rationalen Zahlen besteht nun aus ganzen und gebrochenen, d. h. nicht ganzen Zahlen; die ersteren wollen wir in Zukunft rationale ganze Zahlen nennen, um sie von den neu einzuführenden ganzen Zahlen zu uuterscheiden. *) "I'heoria residuorum biquadraticorum. 11. 1832. - Vgl. die Ab a handlungen von Dirichlet: Recher'ches Bur les formes quadratiques a coefficients et indeterminees complexes (Crelles Journal, Bd. 24) und Untersuchungen über die Theorie der complexen Zahlen (Abh. d. Ber liner Akad. 1841). **) Dem Begriffe eines Quotienten gemäß wird es hier und im folgenden als selbstverständlich angesehen, daß der Divisor oder Nenner eine von Null verschie dene Zahl ist. 3 V- = Wir wenden uns nun, indem wir zur Abkürzung 1 i setzen, zu der Betrachtung desjenigen Körpers J, welcher aus allen komplexen Zahlen ro von der Form x+ yi besteht, wo x und Y willkürliche rationale Zahlen bedeuten, die wir die Koordinaten der Zahl ro nennen wollen. Diese Zahlen ro bilden in der Tat einen Körper; denn wenn + + (X = Xl yli und ß = Xs ysi irgend zwei solche Zahlen sind, so gehören auch ihre Summe, Diffe renz, ihr Produkt und Quotient, d. h. die Zahlen a + ß = (Xl + x2) + (Yt + Y2) i = + + aß (XlX2 - YIY2) (xtYs y1xs)i + + !:.. = Xl Xi Yl Y2 '!L!~ XI Y2 i ß xi + y~ x~ + y~ demselben System J an. Dieser Körper J, welcher offenbar auch alle rationalen Zahlen enthält, soll ein Körper zweiten Grades oder ein qnadratischer Körper heißen, weil alle seine Zahlen ro durch wiederholte Anwendung der vier Grundoperationen aus der einen Zahl i entstehen, welche eine Wurzel der mit rationalen Koeffi zienten behafteten quadratischen Gleichung i2+1=O ist. Diese Gleichung hat die Zahl - i zur zweiten Wurzel; ist nun + ro = X yi auf die angegebene Weise aus i entstanden, also eine Zahl des Körpers J, so wird aus der Zahl - i durch dieselben Operationen die mit ro konjugierte Zahl X - yi entstehen, die ebenfalls dem Körper J angehört, und welche wir immer mit ro' be zeichnen wollen. Dann ist umgekehrt die mit ro' konjugierte Zahl = (ro')' ro, und man überzeugt sich leicht, daß für je zwei Zahlen a, ß des Körpers J die folgenden Gesetze gelten: (a + ß)' = a' + ß' = (aß)' a' ß' (~)' ~:. = Unter der Norm einer Zahl ro verstehen wir das Produkt roro' aus den beiden konjugierten Zahlen ro und ro', und wir bezeichnen diese Norm durch das Symbol N(ro); es wird daher N(x + yi) = (x + yi)(x - yi) = XS + y, 1*