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Tragik und Metatragik: Euripides' Bakchen und die moderne Literaturwissenschaft PDF

376 Pages·2014·23.168 MB·German
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Gyburg Radke Tragik und Metatragik w DE G Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte Herausgegeben von Gustav-Adolf Lehmann, Heinz-Günther Nesselrath und Otto Zwierlein Band 66 Walter de Gruyter · Berlin · New York 2003 Tragik und Metatragik Euripides' Bakchen und die moderne Literaturwissenschaft von Gyburg Radke Walter de Gruyter · Berlin · New York 2003 ® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN 3-11-018022-7 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut- schen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. © Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikro- verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin Für Sebastian Vorwort Die Handlung der letzten Tragödie, die Euripides geschrieben hat, ist er- schreckend grausam. Die ultima vox des Dichters verkündet nicht das Bild einer vollkommenen Versöhnung und harmonisch-idyllischen Welt. Der junge König von Theben, Pentheus, wird in den Bakchen in einer orgiastisch anmutenden Szene von einer ganzen Schar von rasenden Mänaden, darun- ter Agaue, seiner eigenen Mutter, in Stücke gerissen. Im Glauben, einen jungen Löwen erlegt zu haben, kehrt Agaue in einem Triumphzug, das Haupt ihres Sohnes in den Händen, in die Stadt zurück. Der Eindruck, den diese Szenerie auf den Zuschauer macht, ist (auch heute noch) gewaltig. Euripides zeichnet, so hat es den Anschein, ein Bild der Zerstörung, buch- stäblich: des Fragmentarischen, der Irrationalität der Welt, der Sinnlosigkeit menschlichen Daseins, der schuldlosen Verstrickung in Schuld, einer außer Kontrolle geratenen, sich selbst zeugenden und fortschreibenden Dynamik der Destruktion, der Auflösung und Neuknüpfung von rational nicht durchschaubaren Vernetzungen und komplexen Zusammenhängen. Man könnte sich in die Moderne, vielleicht sogar in die Postmoderne versetzt fühlen. Das Drama aber ist antik. Beginnt die Moderne also schon im 5. Jahrhundert vor Christus? - So hat man oft geurteilt und Euripides als den rationalistischen oder auch: antirationalistischen Aufklärer der Antike, als Zerstörer oder Überwinder der Klassik bezeichnet. Das Bild der Mutter, die, ohne es zu erkennen, den abgeschlagenen Kopf ihres Sohnes vor sich herträgt, ist zu drastisch, zu suggestiv, als daß man diese Vorstellung mit der griechischen Antike und dem klassisch-antiken Schönheitsideal verbin- den wollte. Aber ist die Handlung dieser Tragödie oder ihre Aussage wirk- lich so inhuman, so existentialistisch hoffnungslos und will Anlaß bieten zu sentimentalem Weltenschmerz? Ist sie wirklich ein Skandalon für den Un- terricht in den humanities, für die Vermitdung eines nicht nur humanisti- schen, sondern auch humanen Bildungsideals? — Dann aber wäre der große Erfolg, den die Bakchen im universitären Unterricht und in der (außerwis- senschaftlichen) Theaterpraxis bis heute (und gerade heute wieder) haben, nicht zu erklären. Sie werden als Exempel verwendet, um etwas typisch Griechisches aufzuzeigen — und, ich denke, das geschieht zu Recht. Denn wie ich in diesem Buch zu zeigen versuchen möchte, sind die Bakchen als ganzes Werk nicht ein Schaubild von Brutalität und grausamer Härte, son- dern sie sind ein Schulbeispiel einer klassischen Mitleidtragödie. Sie erzie- hen den Zuschauer (oder Leser) dazu, Humanität zu entwickeln, sie för- VIII Tragik und Metatragik dem, so könnte man heute vielleicht sagen, seine emotionale Intelligenz und soziale Kompetenz. Es macht die besondere Qualität der literarischen Kunst des Euripides aus, daß er den Zuschauer sich nicht selbst in das grausame Geschehen einfühlen läßt; er bindet dessen Aufmerksamkeit nicht an für sich stehende, dramatische visuelle Eindrücke, die ihren Wert in sich selbst haben und die ihn in ihren Bann ziehen, sondern er benutzt diese Medien, um den Blick des Zuschauers auf die Ursachen, die zu diesen schrecklichen Konsequenzen führen, zu lenken. Die Folge dieser Konzen- tration ist, daß der Zuschauer Mitleid entwickelt, daß er wünscht, das dro- hende Unheil möge der tragische Held noch einmal von sich abwenden können. Mit dieser These möchte ich denjenigen Deutungen widersprechen, die die Bakchen und Euripides mit den dunklen Seiten der Moderne, mit ihrer Negativität und ihren Verlusten in Verbindung bringen wollen; und ich denke, es gibt viele Gründe, die diese Auffassung stützen können. Die These, die ich damit vertrete, ist nicht an sich antimodern, sie fällt nicht hinter die Ergebnisse E.R. Dodds' zurück und auch nicht hinter die gegen- wärtig vorherrschenden Interpretationen, die der 'Entdeckung der dunklen Antike' Einseitigkeit nachweisen konnten, sondern baut auf ihnen auf. Aber sie wirkt ungewohnt. Daß diese These ungewohnt klingt, daß sie Unglauben erweckt und daß der Handlungsverlauf der Bakchen irrational, destruktiv-pessimistisch er- scheint, hängt nicht unwesentlich mit bestimmten Strömungen in der mo- dernen Literaturwissenschaft zusammen, die die Literarizität eines Werkes über die Analyse der Erzählstruktur und der dramatischen Performanz zu erschließen versuchen. Sie konzentrieren sich also auf das, was man sehen kann, und auf den Akt des Sehens selbst, — und das, was man sehen kann und was die Inszenierung des Dramas bietet, ist tatsächlich auf beeindru- ckende Weise grausig, zieht den Betrachter mit Macht in seinen Bann und läßt ihn unentschieden zwischen der Erzeugung und dem Bruch der Illu- sion, dies alles könnte wirklich sein. Diese Suggestion ist beeindruckend, hat aber nur wenig Tröstendes an sich. Wenn man an den Bakchen diese Seite ins Zentrum rückt, wenn man sie nur ansieht, wenn man sie nur in ihrer optischen Präsenz auf der Bühne wahrnimmt, dann entsteht das hoff- nungslose Bild einer unmenschlichen Welt, von bezauberndem, verwirren- dem, Freiheit suggerierendem Schein, von einer absolut determinierten und ernüchternd grausamen, erbarmungslosen Realität. Wenn man diese Tragö- die dagegen nicht nur mit den Augen zu erschließen versucht und nicht nur das Sichtbare analysiert und den Akt des Sehens und Zuschauens reflek- tiert, sondern wenn man das, was man sieht, als Zeichen für Handlungsent- scheidungen und Motivationen denkt, dann ist das Bild, das entsteht, ein anderes: dann erkennt man, was im anderen Fall als undurchsichtiges Ver- hängnis und Ausdruck einer unwirtlichen, zerstörerischen Welt erscheint, Vorwort IX als bestimmte Folge bestimmter Handlungsentscheidungen, bestimmter Feliler, bestimmter Charaktertendenzen, bestimmter Neigungen und sub- jektiver Perspektiven; kurz: man versteht das, was geschieht, und man ver- steht, daß man mit diesem Helden mitleiden muß, daß man mit ihm mit- bangen und hoffen kann, es gelänge ihm, der sich abzeichnenden Katastro- phe noch zu entgehen. Das ist die eigentümliche Humanität der Bakchen. So eindrucksvoll und in vielerlei Hinsicht 'Augen öffnend' auch die 'visuellen' Interpretationen, die "Lesarten mit den Augen' sind, so viel sie auch dazu beigetragen haben, veraltete und immer noch kolportierte Vorurteile über die Naivität antiker Literatur und über die Simplizität der Erzähl- und Inszenierungsstrategien der klassischen griechischen Tragödie als Vorurteile zu endarven und mit den Mitteln der Illusionskunst' zu 'entzaubern' - sie drängen sich zu sehr und zu leicht in den Vordergrund, sie sind zu suggestiv, zu plausibel, zu glatt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß zu den zentralen Deu- tungskategorien die Ambivalenz und sich in Balance haltende, unvermittelt zugleich behauptete Gegensätze und Widersprüche gehören. Dies aber muß sich nicht widersprechen. Denn wir leben auch im nor- malen Alltag mit einer Vielzahl ambivalenter und wechselseitig wider- sprüchlicher Vorstellungen und geben diese selbst dann nicht (immer) auf, wenn wir darauf aufmerksam werden. Ich habe bei der Lektüre und Beschäftigung mit dieser und anderen eu- ripideischen Tragödien gelernt, daß man auch der Überzeugungskraft der eigenen Reflexionen auf die Ambivalenzen von Schein und Wirklichkeit nur allzu leicht unterliegen, daß die strukturale Analyse des unmittelbaren visu- ellen Eindrucks diesem nicht die Qualität des Suggestiven und Vereinnah- menden nimmt. Nur dadurch, daß man hinter die Kulissen einer Inszenie- rung blickt, hat man ein literarisches Werk und sein inhaltliches Kompositi- onsprinzip noch nicht verstanden. Man lernt dadurch sicher etwas über den Theaterbetrieb, über Rezeptionssteuerungsmechanismen, darüber, wie Wir- kungen erzielt, verstärkt und abgeschwächt werden, aber man erfährt nichts über das, was inszeniert wird. Diese Faktoren sind nicht hinreichend dafür, um ein Drama kognitiv und emotional verstehen zu können. Die theater- wissenschaftliche Analyse ist kein autarker Schlüssel zum Verständnis einer Tragödie. Sie kann notwendige Informationen hinzubringen und den per- formativen Faktor eines Dramas dem Leser und lesenden Wissenschaftler in Erinnerung rufen, ihre Kompetenzen dürfen sich aber nicht verselbstän- digen. Vieles an den Bakeben wirkt auf den ersten Blick irrational-widersprüch- lich oder in seiner Ambivalenz eindeutig, also evidentermaßen als etwas, dem jede Rationalität fehlt oder das jede rationale Überlegung ad absurdum führt; aber der zweite Gedanke kann sich von diesem unmittelbaren Ein- druck zu emanzipieren versuchen und wird auf diese Weise andere Dirnen- χ Tragik und Metatiagik sionen erschließen und die eröffneten neuen Pfade, die die moderne For- schung betreten und befestigt hat, für sich nutzbar machen. Die Häkchen sind ein literarisches Werk, das man verstehen kann, und sie sind kein exis- tentialistisches Werk, sondern ein Werk, das von den Bedingungen von Humanität handelt und das Humanität verwirklicht, das Mitleid erweckt und 'kognitiv' kultiviert. Man muß also an diesem Stück nicht verzweifeln - und man muß auch vor ihm weder als humanistisch geprägter klassischer Philologe noch als moderner klassischer Philologe zurückschrecken. Die Häkchen sind im posi- tiven Sinn modern: sie sind ein literarisch komplexes und mit Bewußtsein durchkomponiertes Drama, das die Mittel des Theaters und der Gattung Tragödie gekonnt für seine Ziele nutzbar macht; und die Häkchen sind im positiven Sinn nicht-modern: in dieser Tragödie werden keine absoluten Dichotomien und Gegensätze aufgebaut und in ihrer radikalen Gegensätz- lichkeit mit allen Folgen präsentiert und 'ausgehalten': diese Welt ist nicht absolut schlecht, absolut zerstörerisch, absolut unbarmherzig, absolut dem Untergang geweiht, sie ist aber auch - natürlich - keine Idylle. Euripides differenziert solche dichotomischen Vorstellungen. Wenn Ausdifferenzie- rung also ein Signum der Postmoderne ist, dann trifft dieses (positiv ge- meinte) Prädikat auch auf die Bakchen zu und macht sie für uns (noch) interessanter. Dafür, daß dieses Buch entstehen konnte, bin ich vielen in verschiede- ner Weise Dank schuldig. Zuerst in fachlicher Hinsicht: an erster Stelle möchte ich meinem akademischen Lehrer Arbogast Schmitt herzlich dan- ken, sowohl für die Hinführung zur aristotelischen Literaturtheorie in ih- rem qualitativen Wert und ihrer Relevanz, wie sie sich durch Einordnung der Poetik in den Zusammenhang von aristotelischer Psychologie und Ethik erschließen lassen, als auch für seine stete Bereitschaft zu um das richtige Verständnis des Textes ringenden philologischen Diskussionen und zu je- der Form des freundschaftlichen symphilosophein. Aber auch den Philologen, die die Anwendung moderner Konzeptionen und literaturwissenschaftli- cher Methoden praktizieren und damit den Horizont der Euripidesphilolo- gie insgesamt und meiner Studien im besonderen erweitert haben, gilt mein Dank für die vielfältigen Anregungen und Denkanstöße, die sie mir gege- ben haben: Stellvertretend möchte ich dem (viel zu früh verstorbenen) strukturalistischen Interpreten Charles Segal danken und außerdem Albert Henrichs, der die Forschung insbesondere auf dem Gebiet der Rezep- tionsforschung zum modernen Dionysosbild und dessen Verhältnis zum antiken Mythos und Ritus bereichert hat und mit dem zusammenzuarbeiten ich in naher Zukunft die Chance und Freude haben werde. Meine Auseinandersetzung mit den modernen, vor allem strukturalisti- schen und metatheatralischen Deutungen der Häkchen ist keine kategoriale

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