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Thomas Plagwitz PDF

373 Pages·2003·1.89 MB·German
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1 Thomas Plagwitz Der Mann des Märchens Studien zum Phantastischen in Gottfried Kellers Realismus 1 EINLEITUNG 5 2 GRAS AUS DEM GRAB. DER GRÜNE HEINRICH. 13 2.1 FILET MIGNON. DAS MERETLEIN 13 2.2 WURZEL EMERENTIA. WIEDERHOLTE SPIEGELUNGEN 32 2.2.1 HEINRICH UND DAS MERETLEIN 32 2.2.2 HEINRICH UND DIE WEIBLEIN 57 2.2.3 HEINRICH UND DIE MÄNNLEIN 70 2.3 NUR EINE ÄUßERE KOMISCHE SCHNURRE. DER STEINRITTER 81 3.2.1 HEINRICH UND DORTCHEN 81 3.2.2 HEINRICH, DORTCHEN UND DAS MERETLEIN 112 3 LEICHEN IM KELLER. DIE NOVELLENZYKLEN 119 3.1 HUNGERKÜNSTLER. SPIEGEL, DAS KÄTZCHEN IN DIE LEUTE VON SELDWYLA 119 3.2 EIN HAUS, IN DEM ES SPUKT. MÄNNERTRÄUME IM SINNGEDICHT 156 2.3.1 ZU DEN GALATEA-LEGENDEN 162 2.3.2 REINHARTS ERZÄHLUNGEN 179 2.3.2.1 Wenn Christus der Erwin Altenauer wäre. Die Nero-Sage in Regine 180 2.3.2.2 Von Gottes Nase. Das Taufwunder in Don Correa 192 2.3.2.3 In Gottes Hand. Brandolfs Weinteufel in der Armen Baronin 203 2.3.3 DIE GEISTERSEHER DES OHEIMS 214 2.3.4 DER SPUK DES DRITTEN MANNS. ZUM SINNGEDICHT-SCHLUß 244 4 MÄNNER AUS DER ERDE. MARTIN SALANDER 283 4.1 TISCHRÜCKEN. EIN MÄRCHEN IM GANZ LOGISCHEN UND MODERNEN ROMAN 283 4.2 DURCH ABWESENHEIT GLÄNZEND. WIEDERHOLTE SPIEGELUNGEN 297 4.3 DAS UNGESCHRIEBENE MÄRCHEN. 323 3.4.1 KATASTROPHE UND MÄRCHEN VOM KAMPF ZWISCHEN FEUER UND WASSER 323 3.4.2 ARNOLD, MYRRHA UND DAS MERETLEIN 330 5 LITERATURVERZEICHNIS 357 5.1 PRIMÄRLITERATUR 357 5.2 SEKUNDÄRLITERATUR 359 1 Einleitung Gottfried Keller hat immer wieder Formen des Phantastischen in seine Ausprägung realistischer Literatur integriert. 1881, beim Abschied von den poetischen Entwürfen der fruchtbaren Berliner Frühzeit,1 zieht er sogar eine Lebenssumme mit Hilfe einer Parabel2 vom Fischer, der sein Herz, auf Rat des »Teufel[s]«, an der Angel einbüßt, aber »Menschenfische zu Tausenden mit dem Netze fing, und er war nun ihr Herr und schlug sie auf die Köpfe«. Dieses Modellbeispiel für Kellers »Parabelhafte[s und] Fabelmäßige[s]« oder »Reichsunmittelbarkeit der Poesie«3 ent- und verhüllt die innere Biographie eines »Menschenfi- scher[s]«4 mit Textur. Die beabsichtigte Verblüffung gilt als »ein er- schütterndes document humain, ein verzweifelter Aufschrei De profundis«.5 Freilich läßt sich auf dem »Meer des Lebens« (II, 937) nicht anders fischen als mit dem Herzen. Wie der Teufel hier rät, pflegen Kellers verliebte Mannsteufel selber mit dem Herzen bei der Sache zu sein, aber als geprellte arme Teufel zu enden.6 Nicht so der Empfänger des Rats. Er ruft nicht aus, sondern steht über einer Tiefe auf einem Wasserspiegel, der ihm durchlässig ist. Läßt sich die Wasserflächen- Grenze nicht überwinden, bedeutet dies Trauer wie in zahllosen Bildern eines unter Glas oder Eis eingeschlossenen Lebens seit der Winternacht- Nixe im zugefrorenen See, in der Erstfassung explizit frauengestaltige anima des lyrischen Ich.7 Wird die Wasserflächen-Grenze jedoch aufgehoben, droht Verschlingung, wie durch die Nixe in der Winternacht-Palinodie Seemärchen.8 Nur Kellers vorbildlichste Figuren können die Stellung auf dem Wasserspiegel behaupten und übergreifen: der Tell-Schiffer mit dem aus Wasser geballten Schwert in Heinrichs 1 Vgl. schon Huch (o. J.), 48f., näher und einschränkend zu den Sieben Legenden, Reichert (1963), zur vermeintlichen Lücke nach der Rückkehr aus Berlin Lauf- hütte (1973). 2 II, 1238; zunächst Fabel (SW XX, 201). Zitate wurden an bibliotheksfernem Ort auf Heselhaus (1963) normalisiert (römische Ziffer für die Band-, arabische für die Seitenzahl). Benutzt wurden außerdem SW, deren Problematik bekannt ist (gegen Carl Helbling Fränkel (1952), Fränkel (1959), Reichert (1963), 116, Anm. 20, 117, Anm. 21, 119f., Anm. 24, in seiner als Ergänzung zu SW gedach- ten Ausgabe der ersten Handschrift von GL (siehe Anm. 642); gegen Fränkel Zeller (1972)) sowie DKV. Zur neueren Diskussion um HKA vgl. Zeller (1997). 3 Vgl. GB III/1, 57, vgl. GB III/2, 378. 4 Vgl. GB III/1, 47 (Heyse an Keller, kurz vor Parabel). 5 Reichert (1963), 105, vgl. Reichert (1963a), Kaiser (1981). 6 Vgl. den verliebten Teufel in Die Jungfrau und der Teufel und Die Jungfrau als Ritter. 7 Vgl. dazu Weber (1993). -- Die falschen Dichter scheitern daran, die Glasglocke zu lüften, unter der das Leben leuchtet, vgl. III, 483 (Heine) (siehe Anm. 1377). 8 Vgl. III, 240 (Ave Marie auf dem Vierwaldstätter-See), 203 (Walpurgis). 6 Heimatsträumen,9 Lessing mit dem Schifferhaken im Apotheker von Chamounix und der versierte Novellisten-Kater als Fischer mit Netz in Spiegel, das Kätzchen. Wie diese Dichterbilder sich mit ihrer Textur auf einer Grenzfläche behaupten, thematisiert auch Parabel, Summe nicht irgendeines, sondern eines Dichterlebens mit der ambivalenten Muse, einem »neckische[n] liebe[n] Gespenst« im eigenen Kopf,10 Kampf mit Schädelknacken11 als Ganzheit ineins mit dem Eingeständnis ihrer Unmöglichkeit. In Parabel bereitet ein Menschenfischer seinen Mitmenschenfischen mit seiner Textur Kopfzerbrechen. Parabel, die den Teufel als Pointe einführt, wenn auch an einem Anti-Tiberias, zerbricht nicht mehr parodistisch die Form, die in der »entgött[erten] Welt« (SW VI, 353) des 19. Jahrhunderts keinen Platz haben dürfte. Ein verpfuschtes Leben rächt sich nicht mehr im verpfuschten Kunstwerk. Das frühe Winternacht-Gedicht blieb eine mysteriöse Ballade. Seemärchen parodiert bereits die Märchenform mit dem Titel und die Ballade als Fortsetzung von Goethes Fischer,12 dessen 9 Siehe Anm. 295. Tell fungiert laut dem Schluß der Heimatsträume an einer Sack- gassen-Glasscheibe und dem Schlußgedicht Recht im Glücke! goldnes Los (I, 767f.) als wunschtraumhaftes Gegenbild zum wirklichen Heinrich. Die Position auf dem Wasserspiegel umschreibt Heinrichs Verspielen und Verfehlen des Glücks am Romananfang (vgl. I, 14) und in der Ölfinger-Antilegende (vgl. I, 325), ist ein Wunder Christi, das nicht gelingt, in Trauerweide (vgl. III, 305), gelang aber der Vatergeneration laut der Klingenberg-Sage (vgl. II, 625). 10 So Keller im Traumbuch von der »Phantasie« und ihrem ›spukhaften Wirken‹ in ihm, vgl. III, 888. Den großen Schau- und Festzug der Künstlerfastnacht im dritten Buch des Grünen Heinrich eröffnet ein Doppeldichter -- Hans Sachs in den Worten Goethes -- mit zwei gegensätzlichen Musen. Das »junge Weib mit voller Brust und rundem Leib« zeigt »›Der Menschen wunderliches Weben [...] / Unter dem Himmel allerlei Wesen‹« (I, 494).10 Das »alte Weiblein [...,] rumpfet, strumpfet, bucklet und krumb«, heißt »›[...] Historia,/ Mythologia, Fabula‹« (I, 494). Im Grünen Heinrich verkörpert der Doppeldichter mit der jung-alten Dop- pelmuse »ein wohlgelungenes Leben« (I, 494). Die jung-alte Doppelmuse spukt scheinbar gleich schon im Traumbuch des Noch-Lyrikers. Hier fungieren die jungen Frauen, die sich anfangs spiegelnd verdoppeln, zuletzt vereinfachen, indem »sie sich beide fast in mich hinein[duckten]« (III, 873), als animae. Sie locken ins kopfartige »Dachkämmerlein« (III, 872) eines Hausinnenraums in einem »Sackgäßchen« (III, 872) -- wie Kellers Geburtshaus, ein Uterusraum --, wo geschwelgt und geschlafen wird. Diesen brechen die ihrerseits aus Dachstübchen schlurfenden »alten Weiber« (III, 873) als mütterlicher Vaterersatz auf (gewöhnlich ödipal statt poetologisch gedeutet). Sie holen den Träumer, indem sie ihn am Kopf nehmen, daß er erwacht, daraus hervor. Eine solche »Todes«- (III, 65) Drohung birgt eine Geburtsverheißung, für einen Narziß, der »froh [sein soll], daß es so abgebrochen wurde« (III, 873; siehe Seite 87 und Anm. 244, 278, 296, 592, 686, 741, 1002, 1050, 1293). 11 So bei den Kämpfen der halben Helden im Grünen Heinrich, Heinrich und Mei- erlein (vgl. I, 161f., 667). 12 Ad verbum, vgl. HA I, 153f.: »Halb zog sie ihn, halb sank er hin/ und ward nicht mehr gesehn«. Keller setzt mit »Und« (III, 284) fort. Vgl. dazu Metwally (1985). 7 Nixe zur flatterhaften Frau entsublimiert wird, was das Unbehagen aber nur steigert. Die späteren Parodien des Phantastischen in Kellers Prosawerk werden hier untersucht. Bei der Frage, welche Texte Kellers agonale Synthesen leisten und Liminalität erlangen, kommt das meistzitierte Urteil über seinen Realis- mus in den Sinn. Laut Theodor Fontane ist Keller der »Mann des Märchens«,13 er gebe sein Bestes, wo er Märchen erzähle. Fontanes kritische Rezension der Leute von Seldwyla berührt deren Märchen jedoch nicht. Fontane richtet sich umfassender gegen die »Reichsunmittelbarkeit der Poesie«14, die Keller gewöhnlich nur gegen den Vorwurf des Ungewohnten, Unwahrscheinlichen, Unzeitgemäßen (vgl. GB III/1, 57), den »Terrorismus des äußerlich Zeitgemäßen« (vgl. GB III/1, 134 (zu Sieben Legenden)) beanspruchte. Eine beträchtliche Teilmenge von Kellers Putschisten-15 »Schnurrpfeifereien« (GB III/1, 465) umfaßt eine zugespitzte und dabei entharmonisierte Version des vermeintlichen Verklärungspostulats »Reichsunmittelbarkeit der Poesie«: das Phantastische als das gemeinsame zentrale 13 Fontane (1963), 265; siehe Seite 119. Vgl. wieder Wysling (1990), 450 (»Das Märchenhafte durchdringt Kellers ganzes Werk«). 14 Vom Unwahrscheinlichen abgesehen (vgl. Fleissner (1942)), Ritzler (1954), Pol- heim (1976)) werden hier Phänomene untersucht wie die ›Verklärung‹ im Poeti- schen Realismus, insbesondere Idyllik und humoristische Versöhnung (vgl. Preisendanz (1976), Rothenberg (1976)), das Groteske (wechselweise als Lachen, das einem im Halse stecken bleibt, bei Kayser (1957), 13--17, 113--118, 119f., der von einer »›realistisch‹ verhüllenden« »Oberfläche über dunkleren Tiefen« (Kay- ser (1957), 116) von Kellers Werk spricht, oder als »disarming of the demonic through laughter« eines realistischen Humoristen bei Jennings (1958), 18, vgl. Allemann (1959), 1f., Anm. 1, unter Betonung der »Kunst, das Skurrile ins Zarte und Anmutige unvermerkt hinüberzuführen« (Allemann (1959), 14), Pre- gel (1963), 338--341, Preisendanz (1989)), das Skurrile (vgl. Allemann (1959)) oder »Schnurren«-hafte (vgl. Loosli (1991), 44f., 350, als antiromantisch, von den Kammachern aufs Gesamtwerk ausgreifend) und die symbolische Überhö- hung (vgl. Ohl (1968), Anton (1970), Rothenberg (1976), Kaiser (1971), Kai- ser (1981), Kaiser (1981a)). Gehaltlich orientiert zahlreiche Studien zu Kellers Religionskritik, inbesondere im Anschluß an Feuerbach, vgl. Dünnebier (1913), Barth (1948), Arvon (1966), Wenger (1971), Fehr (1972), zu einzelnen Werken Goldammer (1958), Otto (1960), Otto (1989), Dürr (1996). 15 Statt des einmal in Aussicht gestellten terminus technicus (GB III/1, 456: »ich muß noch einmal auf einen technischen Ausdruck zu ihrer Bezeichnung denken«) bietet Keller nur eine Etymologie. Die Züricher Novellen leiten den Namen des Wiedertäufer-Führers »Enoch Schnurrenberger [...], des Vaters der Ursula« in der gleichnamigen Novelle, vom »Schnurrenberg [...], Berg des Snurro, des Schnurr- anten, Possenreißers« ab. Dieser Schnurrant ragt unter den lokalen »Propheten und Fanatiker[n], Maulwerker[n] und Spekulanten aller Art« als »ein grimmiger Possenreißer«, ja ein Putschist hervor. Laut dem Schlußwort der Züricher Novel- len »spukt«, »obgleich sie nicht mehr predigten«, »[i]hre Art [...] indes ab und zu immer noch um den Berg herum« (II, 932). 8 Gattungsmerkmal16 romantischer Gattungsformen wie Märchen, Legende, Sage oder Gespenstergeschichte.17 Auch in diesem Sinne kann Keller als der Mann des Märchens gelten. Mehr als jeder andere vergleichbare Vertreter des Poetischen Realismus hat er Gattungsformen aufgegriffen, die sich nicht in eine Definition des Bürgerlichen Realismus fügen, der sich »in der von ih[m] gedichteten, fiktiven Welt [...] an die Grenzen hält, die durch die ›natürliche‹ oder endliche Erfahrung in Zeit, Raum, Kausalität und durch die seelisch-psychologische Erfahrung des Menschen als ein Existieren in den Beschränkungen dieser Erfahrungswelt bestimmt werden«.18 16 Vgl. Lüthi (1979), 6, 10, etwas einschränkend Rosenfeld (1982), 10. Kellers Phantastik besetzt weitgehend die Ränder diesseits und jenseits des Phantasti- schen im Sinne von Todorov (1972), 40—54. Es handelt sich um entweder Phan- tastisches als »ganz freies Spiel« (GB IV, 177), sei es des Autors (wie in Spiegel, das Kätzchen, hier von den Sieben Legenden, vgl. Stackelberg (1948), 34, 52ff., 61, 62ff., 70ff., 98ff., 111, Wiesmann (1959), 1211f., Fehr (1965), 145, 148, Bentz (1979), 128, 297ff., 312f., 317f., Kaiser (1981), 417; gemeint ist das Spiel mit den Stoffen (zur Abwehr der »schulmeisterlichen Stoff- und Quellenfrage«), nicht durchweg mit dem Realitätsprinzip, das in Vitalis und Eugenia, der ersten Hälfte des Werks, völlig gewahrt ist), sei es, situations- und realitätsbezogen, sei- ner Binnenerzähler (Nero-Sage Reinharts, Maries Märchen und wahrscheinlich auch Märchen vom Kampf zwischen Feuer und Wasser). Oder es geht um ein Unheimliches, das (durch Traum, Rausch und Wahnsinn oder durch Zufall und Betrug, vgl. Todorov (1972), 44) wegexpliziert wird, »daß ja kein Zweifel üb- rigbl[eibt]« (II, 1088, von Hildeburgs Spukfingierung in den Geistersehern, wie Heinrichs Spukfingierung als Steinritter; weitere Beispiele sind dessen Heimats- träume, die Krankheitssymptome im Meretlein oder die bloß optischen Phäno- mene um das Flötenwunder im Grünen Heinrich, das Statuenwunder in Vitalis und das Taufwunder in Don Correa). 17 Kellers Begrifflichkeit ist hier unscharf. Während die Erzählung Marie Salanders einen geläufigen Sagentyp variiert, aber als »Märchen« (III, 537) bezeichnet wird, firmieren Spiegel, das Kätzchen. Ein Märchen und Sieben Legenden in den jeweiligen Einleitungen als ›Sagen‹ (vgl. II, 213, 532; vgl. I, 311 (»die Person Christi [...] eine Sage«), 315 (die Bibel als »Buch der Sage«), 1019 (»die Sage von der heiligen Elisabeth«), dagegen II, 996 (Nero-»Sage« als »Märchen«)), ein Terminus, den Keller insgesamt vorzieht (›Mythos‹). Was für die Ethnologie die terminologische Verwirrung im Bereich der ›Volksdichtung‹ im 19. Jahrhundert belegt, deutet andererseits darauf hin, daß Keller diese Gattungsformen als einen Zusammenhang in seinem Werk begriffen hat. Auch Kellers Begriff »wunder- lich« ist aufgrund dialektaler Prägung weit (vgl. GB III/2, 397). Die Reduzierung der poetischen Kategorie des Phantastischen auf ›Wunderlichkeit‹ in den hier behandelten Texten ist ihm dagegen ein originäres Anliegen. Der Begriff der ›Sage‹, auch im Sinne von fama (vgl. I, 394, III, 567), betont das Mündliche und Überindividuelle. Das Phantastische läßt so geradezu Realität ins »abgeschlossene Phantasieren [des Einzelnen] auf Papier« (I, 677) dringen. Keller lehnt jedoch volksromantische Vorstellungen ab. Der »›Volk[s]‹«-Geist (III, 918) sei oft nur Träger abgesunkenen Kulturguts. 18 Martini (1962), 13f. 9 Dagegen wurde schon wiederholt auf Randphänomene des Phantastischen auch bei Kellers prominentesten Zeitgenossen hingewiesen. Keller selbst verfährt umgekehrt: Er hebt das Phantastische kompositorisch hervor, zieht es dabei parodierend zurück, beides aber konsistent durch sein gesamtes Werk. Vischers Ästhetik des Realismus sucht das Schöne außerhalb des Mythischen, das nur noch »vorzüglich in komischer Behandlung«19 auf- gegriffen werden dürfe. Auch Keller greift das Phantastische nur auf, indem er es zugleich parodistisch auf »›natürliche‹ oder endliche Erfahrung« zurückführt,20 mit sichtlichem Vergnügen an der Fallhöhe burlesk-schwankhaft.21 Seit Vischer hat man diese Formen als bloße 19 Vischer (1975) (§466). 20 Das mystifizierende Spielen mit einem nicht auf das Innerweltliche hin durch- sichtigen Phantastischen lehnt Keller ab, vgl. seine frühe Kritik an Görres und Gotthelf III, 918, 928, und die an hochgeschätzten und befreundeten Autoren GB III/1, 26f. (Mörikes Maler Nolten), und 428 (Storms Renate), 474 (allgemein zu Storm). Umgekehrt stößt sich der »Freund und Richter« (GB III/1, 427, 474) Storm an Kellers ›Schnurrpfeifereien‹ (»historische Wahrheit deckt sich nicht mit der poetischen« (GB III/1, 425)), worauf ihm Keller den »ganz logisch[en] und modern[en]« (GB III/1, 465) Martin Salander in Aussicht stellte, angesichts dessen »man die kleinen Späßchen vielleicht zurückwünscht« (ebd.) und über den Storm so »verschnupft« (GB III/1, 502) schien, daß Keller die Korrespondenz einschlafen ließ. Okkultistische und spiritistische Modeströmungen erregen nicht nur beim bekannten Skandal um Lasalle am Abend vor dem Antritt des Staatsschreiberamts Kellers heftiges Mißfallen (vgl. GB II, 64, III/1, 474, III/2, 365). Rückwärtsgewandte Gegner von Atheismus und Materialismus verdammt er scherzhaft zum Spuken (vgl. GB I, 266f. (Wilhelm Schulz), II, 64, III, 488 (Heine)). Andererseits geraten ihm Materialisten und Atheisten immanent jensei- tig. Der Feuerbachjünger Gilgus gleicht den »Heilige[n] [...], welche den Schein großer Lasterhaftigkeit zur Schau trugen, um in der Verachtung um so ungestörter der göttlichen Inbrunst sich hinzugeben« (I, 1059; vgl. Vitalis). 21 In der Literatursatire Die Mißbrauchten Liebesbriefe holt diese niedere, um Geld, Essen und sinnliche Liebe kreisende Gattung Viggis künstlerische Höhenflüge unsanft auf den Boden zurück. Die literarischen Liebesbriefe, die Viggi seine Frau Gritli mit ihm zu wechseln zwingt, untergraben zwei sich verselbständigen- de Schwänke vom Geldleihen (vgl. II, 338, 342f.) bzw. vom hungrigen Schoren- hans (vgl. II, 343f.). Schließlich inspiriert Viggis Treiben die Seldwyler zur Pro- duktion eines ganzen Vorrats von »Schwänke[n]«, die »zuletzt zu einer Sammlung von selbständigem Werte« (II, 362) gedeiht. Dagegen fehlen Schwankmomente im zweiten Teil, der, nachdem der literatursa- tirische erste Viggi und Gritli auseinandergebracht hat, Gritli und Wilhelm zusammenführt. Viggis Naturbeobachtungen wurden lächerlich gemacht, indem sie auf das kaschierte Ökonomische durchsichtig gemacht wurden. »[V]or einem eingerammelten Pflock [...], auf welchen irgendein Kind eine tote Blindschleiche gehängt hatte«, notiert Viggi: »›Ist Merkur tot und hat seinen Stab mit toten Schlangen hier stecken lassen? Letztere Anspielung mehr für Handelsnovelle tauglich.‹« In den Mißbrauchten Liebesbriefen sind weder Gott noch Teufel tot. Ein Phantast war dem ersten Teil auch Wilhelm, der Besitzer von »drei oder vier Götterlehren« (II, 340): »Alle Götter und Göttinnen der Mythologien, welche er 10 Fingerübungen eingeordnet.22 Keller dagegen erhob seine »Gegenübung[en]« zu »Selbstbefreiung[en]«.23 Seine Parodien des Romantisch-Phantastischen fallen zwischen die Stühle von realistischer und Originalitätsästhetik. Das Phantastische begrenzt die Epoche. Während dem Phantastischen vor24 und nach der Epoche des Bürgerlichen Realismus25 und auch bei Kellers prominentesten Zeitgenossen eine Reihe von einschlägigen Arbeiten gewidmet ist,26 konzentriert sich bei Keller die Aufmerksamkeit auf Sieben Legenden.27 Aber gerade in diesen Werken verwandelt ein Hexer28 das traumatische der Mythologien, welche er gelesen, rief er ins Leben zurück und bevölkerte damit sich zur Kurzweil die Landschaft« (II, 339). Als am Ende Wilhelm und Gritli beim Waldspaziergang ein Paar werden, läßt deren Streich, sich hinter Bäumen zu verbergen, Wilhelm zu Unrecht befürchten, »abermals der Gegenstand einer Posse« (II, 388) Seldwylas zu sein. Nun handelt es sich um eine Epiphanie. Wilhelms Mythologien waren in einer Vorstufe Emil Vollmers Mythologisches Lexikon, mit dem der junge Keller auf sein scheiterndes Malerabenteuer nach München ausgezogen war. Daß zu Wilhelm, einem besseren Heinrich, der schlechtere nicht fehlt, verbürgt Viggi. Der Literat steht blind (II, 348: »Kurtalwino wache auf!«) vor der Präfiguration seines eigenen Künstlerleidens (Nu 21, 8f.), einem gekreuzigten Anti-Christ. Er trägt sein in der Tat »höchst wunderbares« (II, 348) »mißhandeltes Hütchen« (II, 351) -- »halb von Stroh« (II, 348; siehe Anm. 897), eine »noli me tangere«-»Hornbüchse« (II, 351) --, als geschwänzter (II, 348: »dessen Band ihm auf den Rücken fiel« wie das »Schlangenzunge«-»Rattenschwänzchen« (II, 354) von seinem (und Kellers) anima-Ebenbild, der kopffüßlerischen verfressenen Muse Kätter) »böse[r] Feind« (II, 334) vor Frauen: einer von Kellers armen Teufeln, dessen Kunst- und Kopfraum an der Realität zerbricht. 22 Vgl. Vischer (1881), 193. 23 III, 441, vom Apotheker von Chamounix. Ein Buch Romanzen. 24 Vgl. im einzelnen Engel (1995). 25 Vgl. Wünsch (1990), Wünsch (1991). 26 Nachdem schon Thomas Mann Fontanes Kritik an Kellers Stillosigkeit zu einem Vorzug auch von Fontanes Stil umgemünzt hatte (vgl. Mann (1968), 47), hat die neuere Fontane-Forschung gezeigt, daß auch jenseits des Stilistischen dem Realisten par excellence in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts phanta- stische Motive keineswegs fremd sind (vgl. zum Mythischen Böschenstein (1986), Winkler (1991); zum Übersinnlichen Chambers (1980), Rothe-Buddensieg (1974), 134--163, Warnke (1978), Subiotto (1985), zum sagenhaften Wasserfrauen-Motiv Schäfer (1962), Bange (1974), Ohl (1979), Bange (1981), Paulsen (1989)), Bovenschen (1989); zum Religiösem Schuster (1978). Beliebter Untersuchungsgegegenstand sind auch Storms einschlägige Werke, vgl. z. B. Artiss (1978), Krech (1992), Freund (1993). 27 Literaturberichte finden sich in den Einleitungen der einzelnen Kapitel. 28 Zur Etymologie der zaunreitenden, Grenzen übergreifenden ›Hexe‹ vgl. Klu- ge (1989), 308. Keller spielt mit der Etymologie von ›Hag‹ in der Geschichte des Albertus Zwiehan, der, als er »zwischen zwei Stühle [ge-]fallen« (I, 826) ohne einen Garten endet, zu schreiben beginnt (vgl. I, 796). Er entdeckt und versteckt sein Geheimnis in einer »eingeschaltete[n] Geschichte« (I, 781). -- Eine von Kel- lers selbststilisierenden Sottisen in seiner Korrespondenz mit dem als

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Zitate wurden an bibliotheksfernem Ort auf Heselhaus dem Titel und die Ballade als Fortsetzung von Goethes Fischer,12 dessen. 9. Siehe Anm. Zentrum oder am Ende und konfrontiert sie so mit den konventionell realistischen
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