Monographien aus dem Gesamtgebiete der Psychiatrie Psychiatry Series Band 1 Herausgegeben von H. Hippius, Berlin . W. Janzarik, Mainz M. Müller, RüfenachtiBern Klaus Hartmann Theoretische und empirische Beiträge zur Verwahrlosungs fors chung Mit 12 Abbildungen und 33 Tabellen Springer-Verlag Berlin . Heidelberg . New Y ork 1970 Privatdozent Dr. med. KLAUS HARTMANN Chefarzt der Psychiatrisch-Psychologischen Abteilung im Hans-Zulliger-Haus Berlin-Tegel ISBN 978-3-540-04976-0 ISBN 978-3-662-00716-7 (eBook) DOI 10.1007/978-3-662-00716-7 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der übersetzung, des Nachdru<kes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwer- tung, vorbehalten. Bei Vervielfältigungen für gewerbliche Zwecke ist gemäß § 54 UrhG eine Vergütung an den Verlag zu zahlen, deren Höhe mit dem Verlag Zu vereinbaren ist. © by Springer-Verlag Berlin' Heidelberg 1970. Library of Congress Catalog Card Number 79-112597 Softcover reprint ofthe hardcover 1st edition 1970 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht Zu der Annahme, daß solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Titel-Nr. 3110 Herrn Professor Sheldon Glueck und Frau Dr. Eleanor Glueck in Erinnerung an das Colloquium im Hans-Zulliger-Haus in Berlin am 25. Juni 1968 Vorwort Zwei Bemerkungen seien dieser Arbeit vorausgeschickt. Die erste Vorbemerkung ist eine Erläuterung: Es soll gesagt werden, welchen Tei len der Monographie das besondere Interesse des Autors gilt. Wie ihr Titel zum Aus druck bringt, enthält die Arbeit theoretische und empirische Kapitel. Die empirischen Beiträge sind das Kapitel "Methodologie", das sich mit der Erhebung, Messung und Voraussage der Verwahrlosung befaßt, sowie das Kapitel "Untersuchungsergebnisse" , welches über eine Untersuchung von 1000 verwahrlosten männlichen Minderjährigen berichtet. Von diesen beiden empirischen Beiträgen ist dem Autor besonders an dem methodischen Teil gelegen, zumal die Untersuchungsresultate nur für eine bestimmte Population gelten, aber die Untersuchungsmethoden auch bei anderen Populationen angewandt werden können. Als theoretische Beiträge verstehen sich die Kapitel "Phänomenologie", "A.tiologie" und "Terminologie". Bei diesen drei Kapiteln liegt dem Autor besonders an dem terminologischen Exkurs, da in der Fachliteratur in bezug auf die Verwahrlosung erhebliche Zuordnungsschwierigkeiten bestehen - unter anderem vermutlich auch deshalb, weil sich keine Wissenschaft mit diesem Forschungs bereich so recht identifizieren will: Die körperlich begründbaren Geistes- und Gemüts leiden sind bisher die einzigen von der Psychiatrie als Krankheiten akzeptierten Seelenstörungen; der neurotischen Affektionen hat sich die Psychoanalyse angenom men; die Verwahrlosungsentwicklungen werden von der Psychiatrie im allgemeinen nicht als Krankheiten und von der Psychoanalyse in der Regel nicht als Neurosen anerkannt. Eben darum erschien es dem Autor wichtig, darüber zu diskutieren, wie das Verhältnis der Verwahrlosung zur Krankheit, zur Neurose, zur Psychopathie und anderen psychopathologischen Kategorien eigentlich beschaffen ist (obwohl ihm gerade geraten wurde, diesen kontroversen Teil der Arbeit auszulassen und separat im in einer Fachzeitschrift zu publizieren). Die zweite Vorbemerkung sei ein Wort des Dankes. Die Arbeit entstand im "Hans-Zulliger-Haus" (vormals "Grünes Haus"), einer Institution der Berliner Lan desjugendbehörde für die stationäre psychiatrische und psychologische Begutachtung sogenannter erziehungsschwieriger Jungen. Der Dank des Autors gilt zunächst der Landesjugendbehörde Berlin, vor allem Herrn Senator KORBER, Herrn Senatsdirektor MÜLLER, Herrn Senatsrat ZIMMERMANN und Herrn Leitenden Sozialdirektor Dr. Hop MANN, die die Forschungsarbeit des Hans-Zulliger-Hauses förderten und unterstützten. Das Hans-Zulliger-Haus ist seit seiner Einrichtung 1960 mit Forschungsarbeiten befaßt. Ein besonders intensiver Arbeitsabschnitt ist jedoch den Forschungsmitteln zu ver danken, die dem Hans-Zulliger-Haus 1966 und 1967 zur Verfügung gestellt wur den. Sein hauptsächlicher Publikationsertrag sind neben der vorliegenden Monogra phie die Arbeiten von Herrn Dipl.-Psych. EBERHARD "Merkmalssyndrome der Ver wahrlosung" und "Dimensionierung der Verwahrlosung", die in der "Praxis der VIII Vorwort Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie" erschienen sind. Diesem hervorragenden wissenschaftlichen Mitarbeiter hat die Forschungsarbeit des Hans-Zulliger-Hauses insgesamt wesentliche Beiträge zu verdanken. Der Dank des Autors gilt sodann auch allen anderen Mitarbeitern des Hans-Zulliger-Hauses: den ,Ärzten, Psychologen, Fürsorgern, Erziehern und Lehrern, die sich an der Erhebung der Befunde beteiligten sowie den Studenten, die als wissenschaftliche Hilfskräfte oder Praktikanten an den statistischen Arbeiten partizipierten. Ein besonderer Dank gebührt darüber hinaus Herrn ADAM für die Dokumentation der Daten, Frau FISCHER für die Betreuung des Manuskripts, den Herausgebern für die wissenschaftliche Beratung und dem Verlag für die Drucklegung der Arbeit. Die Diskussion über Verwahrlosungsprobleme ist heute besonders aktuell. Die vorliegende Arbeit möchte zur Diskussion beitragen, wobei sie sich - ihrem Unter suchungskollektiv entsprechend - vor allem auf die männliche Jugendverwahrlosung bezieht. Diese Diskussion wird sich erfahrungsgemäß auch mit weltanschaulichen Auseinandersetzungen verknüpfen. Mit Recht schrieb SUTTINGER im Handwörterbuch der Kriminologie: "Die Jugendkriminalität ist ein wissenschaftlich erfaßbares Phä nomen, dessen Untersuchung und Bewertung dadurch erschwert wird, daß es zugleich bevorzugtes Objekt weltanschaulicher, generations- bzw. epochaltypischer und recht lich-pädagogischer Urteile und Vorurteile ist." Berlin-Tegel, im April 1970 KLAUS HARTMANN Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 1 2. Phänomenologie 2 2.1 Die juristische Definition 3 2.2 Die etymologische Definition . 3 2.3 Psychopathologische Definitionsversuche 4 2.4 Ein phänomenologischer Definitionsversuch 5 2.5 Ein Beitrag von SHELDON und ELEANOR GLUECK 6 3. Ätiologie . 13 3.1 Psychologische Theorien 13 3.2 Soziologische Theorien 16 3.3 Biologische Theorien. 18 3.4 Kommentar 24 4. Terminologie 27 4.1 Verwahrlosung, Dissozialität, Kriminalität, Abnormität. 28 4.2 Verwahrlosung und Krankheit . 30 4.3 Verwahrlosung und "Krankheitseinheit" 32 4.4 Verwahrlosung und Psychopathie 37 4.5 Verwahrlosung und Neurose. 42 4.6 "Verwahrlosungserscheinungen " und" Verwahrlosungsstruktur" 44 5. Methodologie 45 5.1 Dokumentation der Verwahrlosung. 45 5.2 Quantifikation der Verwahrlosung . 55 5.3 Prädiktion der Verwahrlosung . 61 5.4 Eine Faktorenanalyse von Labilitätskriterien 74 6. Untersuchungsergebnisse 75 6.1 Ober die Untersuchungsmethode . 75 6.2 Ober Vergleichsbefunde 76 6.3 Ober andere Gruppenuntersuchungen 77 6.4 Familiäre Merkmale. 79 6.5 Körperliche Merkmale . 88 6.6 Intellektuelle Merkmale 92 X Inhaltsverzeichnis 6.7 Schulische Merkmale. 94 6.8 Kriminelle Merkmale 95 6.9 Psychologische Merkmale 101 7. Versuch einer Pathographie der Verwahrlosung. 119 8. Zusammenfassung 131 9. Summary 132 Literatur 133 Sachverzeichnis 141 Abbildungsverzeichnis 147 Tabellenverzeichnis 148 1. Einleitung Nach den Berichten des Statistischen Bundesamtes "öffentliche Jugendhilfe" be fanden sich in den Jahren 1964 - 1967 etwa 0,3010 - 0,4010 der bundesdeutschen Min derjährigen unter "Erziehungsbeistandschaft", in "Freiwilliger Erziehungshilfe" oder in "Fürsorgeerziehung" (vgl. Tab. 1). Der Prozentsatz steigt auf etwa 1% 1, wenn nur die 14- bis 19jährigen gezählt werden, die nach weiteren Erhebungen der zitier ten Berichte schätzungsweise 66% der genannten Maßnahmen in Anspruch nehmen (vgl. Abb. 10 des Berichtes "öffentliche Jugendhilfe" 1967). Das sind bemerkens werte Prozentzahlen: 0,4% bzw. 1010 entsprechen den Bevölkerungsanteilen an Epi leptikern (SELBACH) bzw. Schizophrenen (BLEULER). Tabelle 1. Statistik der "Öffentlichen Erziehung" in der Bundesrepublik in den Jahren 1964-1967 Modifiziert nach Abb. 8 der Berichte vom Statistischen Bundesamt "Öffentliche Jugendhilfe" (Fachserie K, Reihe 2, 1966 und 1967) Art der Maßnahme Minderjährige 1964 1965 1966 1967 Erziehungsbeistandschaft 12443 9983 9635 9059 Freiwillige Erziehungshilfe 24071 25618 26540 26465 Fürsorgeerziehung 25992 25025 23947 23200 Zusammen 63136 60626 60122 58724 auf 1000 Minderjährige 3,6 3,4 3,3 3,2 Es fragt sich, was hinter diesen Zahlen steht. Die Maßnahmen der "Erziehungs beistandschaft", der "Freiwilligen Erziehungshilfe" und der "Fürsorgeerziehung", die sich nach RIEDEL unter dem Begriff der "öffentlichen Erziehung" zusammen fassen lassen, sind zumeist Maßnahmen auf einen Notstand, der mit dem Begriff "Verwahrlosung" umschrieben wird. Während seine gen aue Definition, wie sich zeigen wird, Schwierigkeiten bereitet, ist seine ungefähre Bedeutung geläufig: Ver wahrlosung meint viele und verschiedene Weisen des Ungenügens und Versagens, 1 1967 zählte die Bundesrepublik 3947700 14- bis 19jährige (vgl. Bericht vom Statisti schen Bundesamt "Alter und Familienstand der Bevölkerung 1967", Fachserie A, Reihe 1, 1967). Im gleichen Jahr standen 58724 bundesdeutsche Minderjährige in "öffentlicher Er ziehung" (vgl. Tabelle 1). Wenn angenommen wird, daß hiervon 66%, also 38 758 Minder jährige, auf die Altersklasse der 14- bis 19jährigen entfallen, und diese 38758 Minder jährigen auf sämtliche 3 947 700 Minderjährigen der gleichen Altersklasse bezogen werden, ergibt sich, daß 1966 0,98010 aller 14- bis 19jährigen in "öffentlicher Erziehung" standen. 2 Phänomenologie vor allem ein soziales Ungenügen und Versagen, d. h. bei Kindern und Jugend lichen - jedenfalls zum Teil - den weiten Bereich der Verhaltensstörungen von den "Erziehungsschwierigkeiten" bis zur "Jugendkriminalität". Es handelt sich also um ein psychopathologisches Phänomen und offenbar um ein relativ häufiges psycho pathologisches Phänomen. Um so mehr muß es überraschen, daß die Verwahrlosung in der Psychopathologie nicht jene Beachtung gefunden hat, die ihre erhebliche Ver breitung und Sozialgefährlichkeit beanspruchen. In psychiatrischen Lehrbüchern, jedenfalls in deutschsprachigen psychiatrischen Lehr büchern, wird die Verwahrlosung häufig kaum erwähnt. Das gilt selbst für die "Allgemeine Psychopathologie" von ]ASPERS. Das Kapitel über asoziales und antisoziales Verhalten ist vergleichsweise kurz und überwiegend historisch gehalten, von Verwahrlosung ist lediglich in einer Fußnote die Rede. In anderen Darstellungen wird die Verwahrlosung nur beiläufig be schrieben, explizite oder implizite unter bestimmten psychopathologischen Syndromen oder Typen abgehandelt, obwohl die Verwahrlosung ein eigenes psychopathologisches Syndrom und der Verwahrloste einen eigenen psychopathologischen Typus abgeben. Das trifft beispielsweise auch auf das psychiatrische Lehrbuch von \Y1EITBRECHT zu, das die Psychopathen typologie von KURT SCHNEIDER übernimmt. Hier wird der Verwahrloste teils den Willensschwachen, teils den Gemütlosen und Geltungssüchtigen zugeordnet, als ob er nicht einen eigenen Typus konstituierte, welcher Willensschwäche, Gemütlosigkeit und Geltungssucht unter Umständen vereinigt. Diese relative Vernachlässigung der Verwahrlosung in der psychiatrischen Lehre hat vermutlich viele Gründe. Einerseits ist zu bedenken, daß sich die psychiatrische Lehre histo risch zunächst vorzugsweise mit den hirnorganischen und prozeßpsychotischen Erkrankun gen befaßte. Andererseits ist zu berücksichtigen, daß viele psychiatrische Schulen auch nur diejenigen psychologischen Aberrationen als Krankheiten akzeptieren, bei denen eine somatische Genese nachgewiesen war oder hypostasiert wurde. Außerdem mag die relative Vernachlässigung der Verwahrlosung in der psychiatrischen Lehre damit zusammenhängen, daß Verwahrloste prima vista tatsächlich nicht krank erscheinen. Das mag dazu geführt haben, daß sich der Arzt für sie nicht zuständig fühlte. "The physician was not concerned", beschreibt KANNER diese Einstellung. Die Verwahrlosung erschien zunächst mehr als eine Angelegenheit von Erziehern und Fürsorgern. Letztlich mögen moralische Vorurteile die Auseinandersetzung mit der Verwahrlosung behindert haben. Die vorliegende Arbeit soll die Psychopathologie der Verwahrlosung ergänzen. Sie enthält Beiträge zur Phänomenologie, Ätiologie, Terminologie und Methodologie der Verwahrlosungsforschung sowie die Beschreibung einer Untersuchung von 1059 verwahrlosten männlichen Minderjährigen. Die Untersuchung erfolgte z. T. mit Hilfe eigener Dokumentations- und Quantifikationsmethoden und informiert vor allem über die familiären, körperlichen, intellektuellen, schulischen, kriminellen und psychologischen Merkmale der Probanden. 2. Phänomenologie Zunächst werden verschiedene Definitionen der Verwahrlosung behandelt. Hier bei ist zwischen juristischen, etymologischen und psychopathologischen Definitions versuchen zu unterscheiden. Anschließend folgen Ausführungen über den Beitrag von SHELDON und ELEANOR GLUECK, dem für die Phänomenologie der Verwahr losung eine entscheidende Bedeutung zukommt.