Tempus. Besprochene und erzählte Welt. 3.Auflage. Harald Weinrich: Tempus. Besprq,_chene und erzählte Welt. Die Lingurstik hat sich in den letzten Jahren zur Textlinguistik weiterentwickelt. Die Tempus Signale der Sprache werden daher in dieserri Buch als textuelle Anweisungen analysiert, mit denen ein Sprecher für einen Hörer die Kommunikation steuert. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die französische Sprache: abweichende Tempus-Strukturen anderer Sprachen, insbesondere der deutschen und englischen Sprache, werden jedoch ausführlich berücksichtigt. Der Autor zeigt dabei an einigen charakteristischen Beispielen, wie die tinguistische Textanalyse auch die Grundlage einer literarischen Textinterpretation bilden kann. Harald Weinrich ist Professor für Linguistik an der Universität Bielefeld. Harald W einrich Tempus Besprochene und erzählte Welt Dritte Auflage Verlag W. Kohlhammer Stuttgart Berlin Köln Mainz Meinem Lehrer Heinrich Lausberg dankbar gewidmet CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek \Veinrich, llarald Tempus. Besprochene u. erzählte \Velt. 3. Aufl. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer 1977. ISBN 3-17-004187-8 Dritte Auflage 1977 Zweite, völlig neubearbeitete Auflage 1971 Alle Rechte vorbehalten © 1964 Verlag \V. Kohlhammer Gmbll Stuttgart Berlin Köln Mainz Verlagsort: Stuttgart Umschlag: hace Gesamtherstellung: \V. Kohlhammer Gmbll Grafischer Großbetrieb Stuttgart Printed in Germany Inhalt I. Tempus im Text 7 1. Tempus und Zeit 7 2. Textlinguistik 8 3. Eine Vorüberlegung: Obstinate Zeichen 11 4. Tempus-Distribution . . . . . . . . 14 5. Zwei Tempus-Gruppen: Besprechen und Erzählen 18 6. Von der Freiheit des Erzählers 21 II. Besprochene Welt - Erzählte Welt 28 1. Syntax und Kommunikation . . 28 2. Die Sprechhaltung . . . . . . 33 3. Die Tempora in den Gattungen 38 4. Besprochene Welt . . . . . 42 5. Erzählte Welt . . . . . . 46 6. Tempus in der Kindersprache 50 III. Die Sprechperspektive 55 1. Textzeit . . . . . . 55 2. Das Futur (am Beispiel der französischen Sprache) 59 3. Das Perfekt im Deutschen . . . . . 64 4. Das Perfect im Englischen . . . . . 69 5. Thornton Wilder: The Ides of March 71 6. Das Passe compose im Französischen 77 7. Das Passato prossimo im Italienischen 79 8. Das Perfecto compuesto im Spanischen 82 9. Erzählung, Vergangenheit, Wahrheit 86 IV. Die Reliefgebung . . . . . . . 91 1. Reliefgebung in der Erzählung 91 2. Das erzählerische Tempo im Roman 96 3. Baudelaire, Le vieux saltimbanque 100 4. Vom Tempus des Todes ..... 104 V. Tempus und Reliefgebung in der Novellistik 108 1. Maupassant . . . . . . . 108 2. Pirandello . . . . . . . . 116 3. Unamuno, Darfo, Echegaray 119 4. Hemingway . . . . . . . 124 5. Die Rahmenerzählung (Boccaccio) 132 6. Erzählen im Mittelalter . . . . 136 7. Rahmen und Relief in der modernen Novellistik 139 5 VI. Relief im Satz . . . . . . . . . . 143 1. Hauptsatz und Nebensatz? . . . . . 143 2. Die Stellung des Verbs im deutschen Satz 148 3. Stilistik der Verbstellung im Deutschen 157 VII. Tempus-Übergänge 164 1. Obergangs-Wahrscheinlichkeiten . . . 164 2. Tempus im Dialog . . . . . . . . 172 3. Descartes, Rousseau und die Tempus-Folge (Consecutio temporum) . . . . . . . . 183 VIII. Tempus-Metaphorik . . . . . . . . 190 1. Tempus-Übergang und Tempus-Metapher 190 2. Eingeschränkte Gültigkeit: das Conditionnel als Tempus- Metapher ................... . 195 3. Weitere Nuancen der Tempus-Metaphorik: das Imparfait 202 4. Bedingung und Folge . . . . . 205 5. Wirklichkeit und Unwirklichkeit 208 6. Anmerkungen zum Konjunktiv . 214 7. Ein Blick auf die Sprachgeschichte 217 IX. Tempus-Kombinatorik 222 1. Tempus und Person . . 222 2. Tempus und Adverb 226 3. Kombinierte Übergänge 234 4. Semi-finite Verben 244 X. Eine »Krise des Erzählens"? 252 1. Tempus in der altfranzösischen Sprache 252 2. Zeugnisse des Sprachbewußtseins in der französischen Klassik 256 3. Die Zeit der Zeitungen . . . . . . 263 4. Albert Camus: L'Etranger . . . . . . . . . . . . 266 5. Mündliches Erz:ihlen im Französischen . . . . . . . 273 6. Eine Parallele: Tempus in den süddeutschen Mundarten 281 XI. Andere Sprachen - andere Tempora? 288 1. Tempus im Griechischen . . . . . . . 288 2. Tempus im Lateinischen . . . . . . . . 293 3. Spengler, Whorf und die Hopi-Indianer 300 4. Für eine neue Beschreibungsmethode 307 5. Eine Koinzidenz 311 Anmerkungen 316 Bibliographie 335 Bibliographie zu den Rezensionen der Erstauflage (1964) 340 Namenregister 344 Sachregister 346 6 ERSTES KAPITEL Tempus im Text 1. Tempus und Zeit Am Anfang war das Wort chr6nos (wovo~). Es bezeichnete bei den Griechen die Zeit ebenso wie gewisse Formen der Sprache, der »Zeit wörter«.1 Desgleichen konnten in der lateinischen Sprache mit dem Wort tempus sowohl das außersprachliche Phänomen Zeit als auch die sprachlichen Formen bezeichnet werden, die wir noch heute mit einem Latinismus Tempus-Formen nennen. In vielen europäischen Sprachen gilt diese Gleichsetzung noch im heutigen Sprachgebrauch: frz. temps, it. tempo, span. tiempo wie auch die zugehörigen Adjektive stehen gleichermaßen für Zeit und Tempus. Andere Sprachen können jedoch in den Bezeichnungen unterscheiden, so beispielsweise das Deutsche mit Zeit und Tempus sowie das Englische mit den Wörtern time und tense. Während die deutsche Sprache diese Unterscheidung auch in den Ad jektiven zeitlich und temporal aufrechterhält, läßt die englische Sprache in dem Adjektiv temporal beide Begriffe wieder zusammenfallen. Die Namen der einzelnen Tempora bestätigen die skizzierte Homo nymie. In den Tempus-Nomenklaturen der verschiedenen Sprachen tauchen mit suggestiver Beharrlid1keit Namen auf, die entweder die Vergangenheit, die Gegenwart oder die Zukunft direkt bezeichnen (vgl. frz. Passe, Present, Futur; engl. Past, Present, Future) oder doch wenig stens indirekt auf diese »Zeitstufen« verweisen, wie etwa lat. Perfec tum >vollendet<, engl. Preterit >vorübergegangen<, frz. Plus-que-parfait >mehr als vollendet<, dt. Exakt-Futur >ZU Ende geführte Zukunft< usw. Und wer immer nach der ersten eine weitere Sprache lernt, findet in deren Grammatik wieder die Erklärungen bestätigt, die er sehr früh mit seiner ersten Grammatik aufgenommen hat. Es mag ja nun sein, »daß etwas Wahres daran ist«. Für eine lingui stische Untersuchung der syntaktischen Klasse Tempus ist es jedoch nicht ratsam, mit so massiven Vorentscheidungen an die Arbeit zu gehen. Natürlich ist auch diese Untersuchung nicht »Voraussetzungslos«; ohne das Apriori gewisser linguistischer Vorgaben - man mag sie Axiome, Prinzipien oder Grundbegriffe nennen - käme überhaupt niemand auf den Gedanken, nach Tempora zu fragen.2 Insbesondere wollen wir als Vorgabe ein ungefähres Vorwissen davon zulassen, welche sprachlichen Formen als Tempora gelten sollen. Es sind - am Beispiel der französi schen Sprache - solche Formen wie die folgenden Morpheme, die das 7 Lexem / Jat/ >chant-< in einer jeweils besonderen Weise determinieren: /Jate/, /Jata/,/aJate/. /Jat(;})ra/, /Jat(a)re/, aber auch /Jat/ als Ver bindung des Lexems mit einem Null-Morphem(<:/>). Wir sind gewohnt, diese Verbformen als Imparfait, Passe simple, Passe compose, Futur, Conditionnel und Present zu bezeichnen. Diese Liste soll aber im Moment nur den Wert eines Beispiels und Musters haben; es interessiert im Augenblick auch nicht die Frage nach der Abgrenzung der Tempus Formen insgesamt von anderen mehr oder weniger verwandten syn taktischen Formen wie Imperativ und Konjunktiv (vgl. Kap. IX). Bei allen Tempus-Formen soll jedoch die methodische Regel gelten, daß bei der eingehenden Funktionsbeschreibung, die auf den weiteren Seiten dieses Buches von ihnen gegeben wird, keine Argumente e nomine, d. h. aus dem bloßen Namen der Verbform (»wie der Name schon sagt«) zugelassen werden sollen. Das gilt auch für den Gattungsnamen Tem pus, den wir ebenfalls, wenn ich einmal so formulieren darf, als ein Wort unbekannter Etymologie ansehen wollen. Diese Konvention wird dann erlauben, fast ohne eine neue Terminologie auszukommen. Einige wenige neue Termini sind allerdings unerläßlich; sie beziehen sich jedoch ausschließlich auf Tempus-Gruppierungen und Tempus-Kombi nationen als Ausdruck einer bestimmten Tempus-Theorie. Die einzel nen Tempora werden hingegen so bezeichnet, wie sie in den Gramma tiken am geläufigsten bezeichnet werden, und zwar jeweils in der Grammatik, von deren Sprache die Rede ist. Beim Lateinischen sage ich also Imperfectum, beim Französischen Imparfait, beim Italienischen Imperfetto. Diese Regelung soll die mögliche Auffassung erschweren, es sei das eine Tempus Imperfectum in allen Sprachen identisch. Grund sätzlich muß jede Tempus-Funktion für jede Sprache neu bestimmt werden. Stehen in einer Nomenklatur mehrere Bezeichnungen zur Aus wahl, gebe ich derjenigen Bezeichnung den Vorzug, die sich am wenig sten zu einem Argument e nomine hergibt. Ich bevorzuge also die Be zeichnung Präteritum vor Vergangenheitsform, Perfecto simple vor Preterito perfecto und entsprechend bei den anderen Tempora. 2. Textlinguistik Eine Beschreibung der Tempus-Formen und ihrer Funktionen ist Teil der Grammatik einer Sprache, genauer der Syntax (zu der wir die Mor phologie rechnen wollen). Die Syntax ist jedoch nur dann ein adäquater Ort für die in Frage stehende Tempus-Theorie, wenn sie der Unter suchung den nötigen Spielraum läßt. Das ist dann nicht der Fall, wenn sich die Syntax in einer unüberlegten Vorentscheidung als »Satzlehre« versteht. John Lyons' Feststellung »the sentence is the largest unit of grammatical description« (frei nach Bloomfield) 3 beschreibt zwar ziem lich genau die Tatsächlichkeit eines bis vor wenigen Jahren allgemein 8