Parlavantza-Friedrich Täuschungsszenen in den Tragödien des Sophokles Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte Herausgegeben von Heinrich Dörrie und Paul Moraux Band2 Walter de Gruyter & Co. Berlin 1969 Täuschungsszenen in den Tragödien des Sophokles von Ursula Parlavantza-Friedrich Walter de Gruyter & Co. Berlin 1969 Archiv-Nr. 36 96 692 @ 1969 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung- J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J. Trübner - Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13 (Printed in Germaoy) Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Geneh migung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Graphische Betriebe Dr. F. P. Datterer & Cie., Nachfolger Sellier OHG, Freising Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Teil I: Einzeluntersuchungen Erstes Kapitel: Aias . . . . . 7 Zweites Kapitel: Trachinierinnen 25 Drittes Kapitel: Elektra 32 Viertes Kapitel: Philoktet 49 Fünftes Kapitel: Ödipus auf Kolonos 66 Teil II: Überblick über Leistung und Art von Täuschungsszenen bei Sophokles 1. Die Täuschung in ihren dramaturgischen Auswirkungen 73 a) Die Täuschung in Bezug zur Handlung . . . . . . . 73 b) Die auf eine Täuschung folgende Anagnorisis als betonter Ausgangspunkt der Handlung . . . . . . . . . . . . . 74 c) Die Täuschung als Mittel der Komplizierung des Handlungs- verlaufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 d) Die Täuschung in ihrem Verhältnis zur dramatischen µew- ßoi\11. . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 e) Gesprächssituationen in Täuschungsszenen 77 2. Die Rolle des Zuschauers in Täuschungsszenen . 83 a) Die gesteigerte Aktivität des Zuschauers in Täuschungs- szenen . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 a 1) Der Zuschauer als intellektuell Beteiligter 85 a 2) Der Zuschauer als emotional Beteiligter . 86 b) Tragische Ironie . . . . . . . . . . . . . . 87 VI Inhalt 3. Der Stil in Täuschungsszenen . . . . . . . . . . . . . . 91 a) Der Stil im Täuschungsdialog . . . . . . . . . . . . . 91 a 1) Die enge Bezogenheit der Gesprächspartner aufeinander 91 a 2) Die Überhöhung der geschaffenen Situation 91 a 3) Ambivalenz . . . . . 92 a 4) Ironische Umkehrung. 94 a 5) Rätselreden . . . . . 95 a 6) Chiffriertes Reden . . 95 b) Der Stil in der Täuschungsrhesis bzw. im Täuschungsbe- richt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 b 1) Die Verschiedenheit von Täuschungsrhesis bzw. Täu schungsbericht und Täuschungsdialog . . . . . . . 96 b 2) Die Funktionen der einzelnen Täuschungsrheseis bzw. -berichte . . . . . . . . . . . . . . . 96 b 3) Der Stil der Verhüllung und der Enthüllung 97 4. Menschendarstellung in Täuschungsszenen 99 a) Die Darstellung des Täuschungsopfers 99 b) Die Darstellung des Täuschenden 100 Zusammenfassung 102 Literaturverzeichnis . 107 Register . . . . . . 111 Erstes Kapitel: Aias Im Prologgespräch des Aias berichtet Athene dem Odysseus, daß Aias die Odysseus unerklärliche Tat in einer von ihr, der Göttin, zum Schutz der Argiver bewirkten Umnachtung begangen hat. Aber es bleibt nicht bei diesem Bericht vom Wahn, der Aias befallen hat. In den Dialog Athene-Odysseus wird ein zweiter Dialog eingeblendet (89-117). Die Gesprächspartner sind jetzt Athene und der wahn sinnige und von der Göttin getäuschte Aias. Innerhalb des Dramas begründet Athene das Hervorrufen des Aias damit, daß sie Odysseus den kranken Helden zeigen will, damit der den Argivem von dem, was er erlebt hat, berichten kann. Nach dem Willen Athenes ist also Odysseus als Zeuge des Gesprächs an wesend. Für Aias allerdings ist er unsichtbar, wie auch Athene ihm unsichtbar bleibt8• Der in seiner Verblendung sich rühmende, hohn lachende Aias muß in dieser Szene ohne direktes Gegenüber gedacht werden, ein Anblick, der die Erschütterung, welche das Gespräch bewirkt, noch vertieft. Nach der Einblende setzt sich der Dialog Athene-Odysseus fort. In dieser Fortführung wird das Fazit aus dem gezogen, was Odysseus gerade erlebt hat. Diese kurze in einen größeren Dialog eingeschaltete Täuschungs szene erfüllt mehr Funktionen als nur die im Drama genannte, dem Odysseus das soeben Berichtete zu verdeutlichen, damit er es um so besser weitergeben kann. Sie ist in sich von großer Wirkung und ist, womit sie ihre Aufgabe als Prologszene vielseitig erfüllt, Kernpunkt mehrerer sich an ihr entwickelnder Momente. Mit der Szene führt der Dichter den Helden des Geschehens in das Drama ein. Der Zuschauer wird gleich mit der verhängnisvollen Situa tion des Aias bekanntgemacht. Der Held ist objektiv verblendet, wird nicht nur in diesem Täuschungsdialog hintergangen. Der Wahn hat 8 301-04 berichtet Tekmessa dem Chor von dem nächtlichen Sprechen des Aias, das ihr nicht wie ein Gespräch zweier Partner vorkam, sondern wie ein Sprechen mit einem Schatten. Auch bleibt Athene dem Odysseus während ihres Gesprächs unsichtbar (15; vgl. das Scholion zu 14). 8 Einzeluntersuchungen ihn wie eine Krankheit befallen. Er ist der ihn täuschenden Göttin ausgeliefert. Die erschrockene Abwehr des Odysseus, Zeuge vom Wahn sinn des Aias zu werden, hat der Tatsache des Wahns im Voraus Gewicht gegeben. Diese kleine Szene veranschaulicht das vorher schon Berichtete. Innerhalb des Dramas tut sie es nach dem Willen der Göttin für Odys seus. Darüber hinaus spricht mit ihr der Dichter den Zuschauer an. Ihm wird die Situation des Helden erlebbar, er wird gefühlsmäßig am Geschehen beteiligt, seine Sympathien beginnen sich auf den Helden zu konzentrieren, er wird befähigt, das bereits Geschehene und das nach der Lage der Dinge zu Erwartende in seiner Bedeutung zu sehen. Der Dialog Athene-Aias soll also nicht nur unterrichten, sondern auch stimmen, ein Beispiel dafür, daß der Prolog nicht nur Informations charakter hat, sondern daß eine seiner Aufgaben die der Einstimmung des Zuschauers ist. Der Dichter läßt Athene Wert darauf legen, daß Odysseus den verblendeten Aias zu Gesicht bekommt, auch wenn Odysseus sich gegen ihr Vorhaben sträubt. Die Anwesenheit des Odysseus als Zeuge der Täuschungsszene eröffnet zwei Möglichkeiten: ein neues Motiv entwickelt sich, und ein Grund für das, was im Drama geschieht, wird angedeutet. Das Motiv vom Mitleid des Odysseus mit dem entstellten Helden wird später im Drama wirksam werden. Es ist notwendig zur im zweiten Handlungsbogen stattfindenden Rehabilitierung des Aias. Hier im unmittelbaren Anschluß an die erlebte Täuschungsszene kann dieses Motiv von der Menschlichkeit des Odysseus zum erstenmal an klingen. Allein das Gespräch über das Tun und den Zustand des Helden würde es nicht auf so natürliche und für den Zuschauer miterlebbare Art hervorgerufen haben. Außerdem gibt das von Odysseus nach dieser erschütternden Er fahrung ausgedrückte Mitleid dem Dichter die Möglichkeit, in Athenes lehrhaften Worten an den einsichtigen Odysseus den Grund für den Fall des Aias, wenn auch nur indirekt, anzudeuten: Aias wird zu denen zu rechnen sein, die gegen die Götter nicht die angemessene Sprache führen und die sich in ihrer Kraft und in ihrem Wohlergehen allzu sicher fühlen. Dies ist ein Aspekt, unter dem der Zuschauer das folgende Geschehen betrachten soll. Innerhalb der Szene ist das Getäuschtwerden des Aias von großer pathetischer Wirkung, darüber hinaus ist der Einfall, Aias im Prolog als Getäuschten vorzuführen, Ausgangspunkt der weiteren Entwick lung des Dramas. Der entscheidende Glückswechsel des Helden liegt vor dem Beginn des Dramas. Er ist damit gegeben, daß Aias in der von Athene über Aias 9 ihn verhängten Sinnestäuschung über die Herden der Achaier herge fallen ist, im Glauben, er räche sich an den Achaiern selbst. Der Täuschungsdialog malt diese Voraussetzung für das Dramengeschehen aus. Der Held verharrt noch in der Täuschung. Der Zuschauer erwartet folglich das Erwachen des Aias aus dem Wahn, die entscheidende Er kenntnis, die den Helden seinen Glückswechsel begreifen läßt und ihn zur Stellungnahme zu seiner Tat und jetzigen Situation zwingen wird. Diese Anagnorisis erschiene auch notwendig, wenn Aias vorher nicht in seiner Verblendung erlebt worden wäre. Dadurch aber, daß der Täuschungsdialog, indem er einen entstellten Helden zeigt, einen Begriff von der Art des Aias gibt, kann der Zuschauer im Voraus die Folgenschwere der zu erwartenden Anagnorisis ahnen. Diese notwendige Anagnorisis setzt nicht sofort ein, sondern kommt, bevor sie erlebt wird, im Drama zur Sprache. Reinhardt 9 macht darauf aufmerksam, daß, wie im Prolog der Bericht vom Wahn sinn des Aias der Darstellung des im Wahn Befangenen vorausgeht, auch der Darstellung des Erwachten der Bericht von seiner Anagnorisis vorausgeht. Der Chor erwartet vom Erwachen des Aias eine positive Änderung der Situation (263f., 279f.), denn er befürchtet die Gefahr von außen (die Rache der Atriden an Aias und seinen Leuten, die den Rächern ohne die Hilfe des Aias schutzlos ausgeliefert wären) und nicht von innen (aus dem Wesen des Aias). Tekmessas Befürchtung, daß aus dem Erwachen des Helden ein noch größeres Unglück ent stehen könnte, entspricht ihrer besseren Kenntnis vom Wesen des Aias. Die von Aias erlebte Anagnorisis wird im Bericht der Tekmessa allmählich an uns herangetragen, zunächst in einer kurzen Bemerkung (257ff.), dann in einer längeren Erzählung davon, wie das Rasen des Helden zur Besinnung umgeschlagen ist (305ff.). Dann erst erlebt der Zuschauer die Auswirkungen der Anagnorisis in den Klagen des Aias, die in seinen Selbstmordplan auslaufen. Hiermit ist der Dramenkurs bis zum Selbstmord des Helden fest gelegt und bliebe konstant, wenn nicht ein neues Element - wieder eine Täuschung - diese Linie unterbräche. Eine wichtige Frage bei Täuschungsszenen ist die nach der Stellung des Zuschauers zu dem Gesprochenen, denn er ist derjenige, in dessen Gedanken und Empfindungen sich erst der Hintergrund zu diesen Szenen bildet. Das erklärt sich folgendermaßen: in einer Täuschungs- 8 Sophokles, Frankfurt 31947, S. 26; M. Imhof, Bemerkungen zu den Prologen der Sophokleischen und Euripideischen Tragödien, Winterthur 1957, S. 14f., bemerkt, daß alle erschütternden Szenen der attischen Bühne durch einen Bericht vorbereitet werden. 10 Einzeluntersuchungen szene bleibt ein wesentliches Faktum, sogar das wesentlichste, näm lich die hinter dem in der Sprache Vorgegebenen liegende Dramen wirklichkeit, verborgen, denn die ganze Szene zielt darauf, eine Fiktion zu schaffen, das Täuschungsopfer in eine Illusion zu führen oder in einer Illusion zu bestärken. Diese Wirklichkeit kennt erstens der Trügende, der geschickt mit ihr schalten muß, und zweitens der Zu schauer, der in den meisten Fällen vorher von der Wahrheit unter richtet wird. Dieses Unterrichtetsein versetzt den Zuschauer in die Lage, Fiktion und Wirklichkeit gegeneinander abwägen zu können. Das Abwägen bleibt jedoch kein sachlicher Vorgang, denn es liegt dem Dichter auch daran, den Zuschauer emotional am Geschehen zu beteiligen, dadurch, daß er es ihn mit Sympathie für den Getrogenen oder für den Trügenden verfolgen läßt. In den meisten Fällen ist wie in der Täuschungsszene Athene-Aias der Getrogene derjenige, der die Sympathien des Zuschauers hat, dessen Empfindung dann die des ohnmächtigen Mitleids mit dem Trugopfer ist. Daher sind solche Szenen besonders dazu geeignet, der Tragödie zur Erreichung eines ihrer Ziele, der Erregung von Mitleid, zu verhelfen. Der Dichter ver sucht durch stilistische Mittel diese in der Situation angelegte Mög lichkeit einer Wirkung auf die Emotionen des Zuschauers zu steigern. Im Täuschungsdialog zwischen Athene und Aias besteht der Irrtum des Opfers schon. Es fehlt also die sonst bei Täuschungsfällen zu be obachtende sorgsam auf Glaubwürdigkeit bedachte Einführung des Trugopfers in den Trug. Die bestehende Täuschungssituation wird gleich von dem Trügenden ausgenützt. Athene ist von vorneherein die eindeutig überlegene, die die Täuschung ohne die geringste Gefahr der Entdeckung vollführt. Die Göttin versetzt sich in die von Aias angenommene Situation: er ist in ihren Worten der Held, der gerade gerechte Rache an den Atriden genommen hat, welche ihm die nach seiner Meinung ihm zu stehenden Waffen des Achill vorenthalten haben. Sie redet ihn, ihn in seinem Irrtum bestärkend, an: oö-ros, cre Tov TCXaSix µaAwTl6as xepas 6ecrµois &-rrev.SvvoVT1ar pocrµ0AeivK aAoo (71f.), dann erst nennt sie ihn beim Namen. Hier wird das Gespräch, das Athene mit Aias beginnen will, hinaus gezögert, und der Dialog Athene-Odysseus wird wiederaufgenommen. Odysseus bittet Athene, von ihrem Vorhaben, den wahnsinnigen Aias zu zeigen, abzusehen. Dieser Zwischendialog lenkt die gesteigerte Spannung des Zuschauers auf das Gespräch Athene-Aias. Vor allem aber ruft er eines in Erinnerung: die Szene Athene-Aias wird einen Zuschauer auf der Bühne haben, Athene wird ihr Opfer einem Gegen über präsentieren können, sie wird in ihrem Gespräch mit Aias in geheimem Einvernehmen mit Odysseus sein und wird über den Kopf