Description:KINDLER: Roman von Joseph Roth, erschienen 1934. – Der Roman, zwischen Mai und November 1933 im Exil in Frankreich und der Schweiz entstanden, läßt sich der mit Hiob beginnenden und später u. a. mit Das falsche Gewicht oder Die Legende vom heiligen Trinker fortgesetzten Werkreihe einordnen, mit der Roth, nach den Gegenwartsromanen der zwanziger Jahre, in legendenhaften Erzählformen sich einer »metaphysischen« Thematik zugewandt hat, der Frage nach dem Bösen in der Welt und seinen Gegenkräften. Hinter der Tendenz zu mythisierender Darstellung wird allerdings eine indirekte Diagnose der Zeit und ihrer Krise sichtbar.Vom Schuldigwerden des Menschen und seiner wunderbaren Läuterung erzählt der Lebensroman des Nikolaus Tarabas. Der Sohn einer begüterten Familie, als Student in Petersburg in revolutionäre Umtriebe verwickelt, vom Vater des Hauses verwiesen und deshalb aus Rußland nach Amerika ausgewandert, läßt sich in der »steinernen Stadt« New York von einer Zigeunerin die Zukunft weissagen: »Sie sind sehr unglücklich, Herr! Ich lese in Ihrer Hand, daß Sie ein Mörder sind und ein Heiliger. Ein unglücklicheres Schicksal gibt es nicht auf dieser Welt. Sie werden sündigen und büßen – alles noch auf Erden.« Tarabas, noch verwirrt von der Prophezeiung, gerät mit einem Wirt in Streit und flieht in der irrigen Annahme, an ihm zum Mörder geworden zu sein. Als die Morgenblätter den Ausbruch des Krieges zwischen Österreich und Rußland melden, beschließt Tarabas, mit dem nächsten Schiff zurückzukehren und sich zur russischen Armee zu melden. Tarabas wütet lustvoll-anarchisch gegen Dinge und Menschen, raubt und mordet; nur für Momente wird ihm bewußt, daß er seit der Weissagung als ein Verwandelter lebt. »Doch verflogen diese Sekunden der Besinnung, und Tarabas versank aufs neue im Rausch des Blutes, das rings um ihn floß und das er fließen ließ, im Geruch der Kadaver, im Dunst der Brände und in seiner Liebe zum Verderben.« Als in Rußland die Revolution ausbricht und sich die von ihm befehligte Kompanie durch die bolschewistische Agitation eines jungen, rothaarigen Juden auflöst, geht Tarabas in seine Heimat zurück, die inzwischen Teil eines »neuen Landes« geworden ist. Dort avanciert er sofort zum Oberst und terrorisiert das Städtchen Koropta mit seiner Willkürherrschaft; sein Hauptquartier schlägt er im Wirtshaus des Juden Nathan Kristianpoller auf. Als einer seiner Soldaten, der aufrührerische Ramsin, im Wirtshaus Schießübungen auf obszöne Motive veranstaltet, die er an die Wand gemalt hat, geschieht ein »Wunder«: Plötzlich löst sich ein Stück des Kalkanstriches, ein Mutter-Gottes-Bildnis kommt zum Vorschein. Die erregte Menge der Zuschauer verdächtigt sofort die Juden der Stadt, das Marienbild durch Übertünchung vorsätzlich entehrt zu haben. So kommt es, als »mörderische Folge eines blinden Glaubens«, zu einem Pogrom gegen die aus dem Bethaus kommenden Juden; der volltrunkene Tarabas versäumt es, den Exzeß zu verhindern. Seine letzte große Schuld lädt er auf sich, als er den Bethausdiener Schemarjah (den Vater des bolschewistischen Agitators) schwer mißhandelt, indem er dem frommen Juden in kalter, teuflischer Wut den rothaarigen Bart – für ihn ein Menetekel des Unglücks – ausreißt.Danach aber beginnt die innere Umkehr des Tarabas; der »Prüfung« folgt nun die »Erfüllung«. Der Oberst quittiert den Dienst und begibt sich ziellos auf Wanderschaft. Demütig und fromm geworden, besucht er als Landstreicher, ohne sich zu erkennen zu geben, noch einmal sein Elternhaus. Todkrank erbittet und erlangt er vom Juden Schemarjah Vergebung für seine Untat; Tarabas stirbt jetzt ruhigen Herzens. Ein pessimistisch angelegter Epilog macht freilich klar, daß Tarabas' Lebensexempel die Menschen nicht empfänglicher werden läßt für das Wunderbare, das in einer solchen Wendung liegt.Roth hat in seinem Roman literarische Vorlagen und stoffliche Quellen unterschiedlichster Herkunft verarbeitet. Wie er in einem Brief an Stefan Zweig vom 22. Mai 1933 mitteilte, sollte ihm Flauberts La légende de Saint Julien l’hospitalier als Erzählmuster dienen; auch erwähnte er hier eine (bisher nicht ermittelte) ukrainische Zeitung, in der er den Stoff bereits »ganz vollendet« vorgefunden habe. Deutlich sind aber auch die Anlehnungen an Dostoevskij, der das Thema von »Schuld und Sühne« in geradezu paradigmatischer Weise gestaltet und in den Brüdern Karamasow auch das Mißhandlungsmotiv vorgeprägt hat. Andere Motive wie jenes der hinter einer Mauertünche plötzlich erscheinenden Mariendarstellung hat Roth tatsächlichen Ereignissen in seiner Heimatstadt Brody nachgebildet. Darüber hinaus hat Roth im Tarabas verschiedene, vielfach auf eigene Werke zurückweisende Themen- und Motivkomplexe verarbeitet. Dazu gehören die in spiegelbildlicher Verdoppelung auftretende Vater-Sohn-Problematik, die ironische Entlarvung militaristischer Gesinnung und der regressiv-antizivilisatorisch befrachtete, im galizisch-ukrainischen Grenzgebiet lokalisierte und in Amerika sein Gegenbild findende Heimat-Mythos. Es ist die Häufung und Verflechtung der Motive und thematischen Linien, dazu auch eine häufig leitmotivisch angewandte Dingsymbolik, die als erzähltechnische Besonderheit dieses Romans, in ihrer Übersteigerung und mangelnden Ökonomie zugleich auch als seine Schwäche gelten können; Roth selbst hat den Tarabas als nicht geglückt angesehen, und die Geschichte seiner Rezeption spiegelt die Verständnisschwierigkeiten, die aus der Mehrschichtigkeit der Darstellung resultieren.Von Anfang an kontrovers diskutiert wurde bislang vor allem die Frage nach dem Gegenwartsbezug des Romans. Zeitgenössische Rezensionen haben kritisiert, daß er »den geschichtlichen Vorgängen unserer Zeit nur eine untergeordnete Rolle zubilligt«; es sei »kein Buch unserer Zeit und für unsere Zeit« (W. Türk). Roth selbst dagegen hat in seinem Brief an S. Zweig bemerkt, sein Roman weise durchaus eine aktuelle Dimension auf; er spiele »fern von Deutschland, aber mit deutlicher Beziehung dazu«. Tatsächlich deutet alles darauf hin, daß Tarabas als verdeckter Beitrag zu einem damals äußerst aktuellen Thema, der Judenverfolgung im Dritten Reich, verstanden werden muß; nicht zufällig wird Ramsin, der Anführer des Pogroms, mit Zügen Hitlers ausgestattet, und die Ähnlichkeit der in Koropta umlaufenden rassistischen Vorurteilsklischees mit jenen der nationalsozialistischen Propraganda ist unübersehbar. Mit der von Roth angedeuteten Beziehung zu Deutschland »kann nur das Motiv des Judenhasses gemeint sein, wie es in der Kernszene heraustritt: in jener Tat, die Tarabas später wie eine Mordtat schlimmster Art bereut« (P. Stöcklein). Dieser Judenhaß des aus allen Bindungen herausgefallenen, in den Aberglauben verstrickten Menschen ist mit Religionshaß verknüpft, er kann nur durch innere Umkehr überwunden werden.Überhöht werden diese aktuellen Bezüge durch den parabolischen Charakter der Legende: hinter dem geschichtlich konkreten Bösen des Antisemitismus wird ein radikal Böses sichtbar, ein nihilistisch und blasphemisch Böses, dem allein das »Heilige« entgegentreten kann, als Utopie einer Wiederherstellung göttlicher Ordnung, die sich in einer voraussetzungslosen Menschenliebe und erlösenden Versöhnung der Menschen untereinander zu erkennen gibt. Einen genaueren Ort der in den Jahren des Exils zwischen ostjüdischem Väterglauben und demonstrativem Katholizismus oszillierenden Haltung Roths gibt auch Tarabas nicht preis, doch kann der Roman als Ausdruck einer mythisch-religiösen Seinsdeutung des Menschen gelesen werden; das titelgebende Psalmenwort vom Gast auf dieser Erde wird so zur Chiffre für die unaufhebbare Weltfremdheit des Menschen.E.Fi.Dr. Ernst Fischer