HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON HANS FROMM, JOACHIM HEINZLE HANS-JOACHIM MÄHL UND KLAUS-DETLEF MÜLLER BAND 80 HEINZ KISCHKEL Tannhäusers heimliche Trauer Über die Bedingungen von Rationalität und Subjektivität im Mittelalter MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1998 Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kischkel, Heinz: Tannhäusers heimliche Trauer : über die Bedingungen von Rationalität und Subjektivität im Mittelalter / Heinz Kischkel. - Tübingen : Niemeyer, 1998 (Hermaea ; N.F., Bd. 80) ISBN 3-484-15080-7 ISSN 0440-7164 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Über- setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektro- nischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Buchbinder: Geiger, Ammerbuch Vorbemerkung Die vorliegende Studie schaut immer wieder über die Grenzen des eigenen Faches hinaus in fremde Disziplinen, z.B. in Soziologie und Psychoanalyse. Kunst- und Musikwissenschaft werden ebenso berührt wie philosophische Diskurse. Der Verfasser versteht dieses Vorgehen nicht als dogmatisches Erfordernis einer zeitgemäßen Germanistik, sondern eher als eine Frage des Temperaments. Mein Lehrer und Förderer Helmut Lomnitzer hat solche Ausflüge in fremde Reviere stets kritisch begleitet. Er hat mich während der Marburger Studienjahre in vielen geduldigen Diskussionen gelehrt, meine zentrifugalen Neigungen zu kanalisieren und damit für das Fach fruchtbar zu machen. Seinen ihn aus schwerer Krankheit erlösenden Tod im vergangenen Jahr habe ich, wie viele andere auch, als tragisch empfun- den. Heute bleibt mir nicht mehr, als ihm diese Arbeit in treuem Ange- denken zu widmen. Den Weg in die Veröffentlichung verdankt dieses Buch ganz wesentlich Joachim Heinzle, der viele der nachstehenden Diskussionen anregte und an anderen Stellen bereits entscheidende Beiträge dazu publiziert hat. Ihm und den anderen Herausgebern danke ich für die Aufnahme des Buches in der Reihe »Hermaea«, der DFG für den großzügig gewährten Druckkostenzu- schuß. Die musikwissenschaftlichen Abschnitte habe ich außer mit Herrn Lomnitzer auch mit dem Hamburger Musikwissenschaftler und Komponi- sten Gino Romero Ramirez, die Diskussion um den modernen Autorbegriff mit dem Hagener Schriftsteller Fritz Nagel, jetzt Rheinhausen, besprochen. Schließlich danke ich Frau Meike Rahner für die Anfertigung des hier repro- duzierten >Tannhäuser<-Fotos. Besonderen Dank schulde ich meinen Eltern für die geduldige und großzügige Finanzierung weiter Teile meines Studi- ums, besonders aber auch für ihre bleibende Anteilnahme an meinem nicht immer nur sonnigen Lebensweg. Daß meine Frau Christiane Dahl parallel zu dieser Arbeit ihre sinologische Studie zu chinesischen Unterweltvorstel- lungen erarbeiten und publizieren konnte und wir dennoch stets Zeit zu gei- stigem Austausch, wechselseitiger Motivation und emotionaler Unterstüt- zung fanden, gehört zu den besonderen Glücksfällen meines Lebens. Fachwissenschaftliche Leser mit anderem als dem angedeuteten Tempe- rament mögen die vielen Exkurse des Buches entschuldigen. In leichter V Abwandlung einer Vorbemerkung Max Plancks (»Das Weltbild der neuen Physik«, 1929) mögen sie sich damit trösten, daß der Zusammenhang der vorgetragenen Gedanken kaum leiden dürfte, wenn sie über diejenigen Stellen, welche ihnen je nach Einstellung allzu fachfremd oder allzu trivial erscheinen, kurz hinweggehen. Bochum, im Februar 1998 VI Inhalt Einleitung i I Zu Tannhäusers Hofzucht 1 Vorbemerkung 9 2 Überlieferung und Textkritik 12 3 Rationalität der Form und semantische Analyse 32 4 Exkurs: Ein zweites Tannhäuserbild? 43 5 Hofzucht und Zivilisationsprozeß 51 Exkurs: Zur Kritik der Elias-Duerr-Debatte 63 II Das Bußlied der Jenaer Liederhandschrift 1 Vorbemerkung 69 2 Zur Überlieferung 70 3 Zur Form 72 4 Zur Interpretation und Gattungsbestimmung 77 4.1 Zu Sieberts Verortung des Jenaer Stücks 77 4.2 Inhaltlich mit dem Bußlied verwandte Strophen in J . . 82 4.2.1 Texte 84 4.2.2 Analysen 94 4.3 Zu den neueren Interpretationen des Bußliedes 102 5 Exkurs: Die Legende vom Büßer 110 5.1 Ein Seitenblick auf die Ballade vom Tannhäuser . . .. 110 5.2 Der thanhauser der gibt eyn gut ler 115 III Tannhäuser als Leichdichter 1 Vorbemerkung 121 Exkurs: Tannhäusers Rätselspruch 124 2 Zur Überlieferung 127 3 Leich I oder Die Wut des Verstehens 128 3.1 Zur Form 128 3.2 Zur Interpretation 130 VII 4 Leich II und III oder Tote Witze bei Tannhäuser? 139 4.1 Zur Form 139 4.2 Zum Interpretationsansatz 144 4.3 Zur Interpretation von Leich II 147 4.4 Zur Interpretation von Leich III 152 Exkurs: Zur Psychogenese der Albernheit 158 5 Kursorische Bemerkungen zu den Leichs IV—VI 164 5.1 Zu Leich IV 164 5.2 Zu Leich V 170 5.3 Zu Leich VI 173 6 Minnesangs Wendungen. Zum Jargon der Uneigentlichkeit 177 6.1 Zu Hugo Kuhns >Minnesangs Wende< 179 6.2 Zu Hermann Apfelböcks >discordia ficta< 184 7 Tannhäuser und der deutsche Leich 192 7.1 Tannhäusers literaturgeschichtliche Stellung 192 7.2 Das deutsche Leichkorpus im Überblick 198 7.3 Anmerkungen zum deutschen Leichkorpus 204 Exkurs: Tannhäuser und Ulrich von Winterstetten . . . 209 7.4 Zur Literaturgeschichtsschreibung des Leichs 213 IV Tannhäuser als mittelalterlicher Autor 1 Vorbemerkung 217 2 Autorkonzepte 218 2.1 Zum Verschwinden des Autors 218 2.2 Interesse am Autor 237 2.3 Zum Beispiel Tannhäuser 248 Exkurs: Zum Konzept eines >textus receptus< 254 3 Tannhäuserprofile 259 3.1 Zur Echtheit von Tannhäusers Werken 259 3.1.1 Zu den C-Texten 260 3.1.2 Zum Bußlied 260 3.1.3 Zur Hofzucht 266 3.2 Zur Rekonstruktion von Tannhäusers Leben 272 3.3 Tannhäusers heimliche Trauer 278 Epilog: Der Autor als Utopie ' 285 Anhang: Textabdruck von Bußlied und Hofzucht 293 Literatur 317 Personenregister 329 VIII Einleitung Diu weh verswiget mtniu leit und saget vil lützel iemer, wer ich bin. Reinmar, MF i55,27f. Der Name Tannhäuser gehört zu den wenigen Beispielen aus der mittel- hochdeutschen Literatur, in denen ein Dichter als Gestalt viele Jahrhun- derte überdauerte und fast ohne Abriß der Kontinuität bis in die Gegen- wart aktuell blieb.1 Am Anfang stand ein Lyriker, von dem wir in den Texten der Großen Heidelberger Liederhandschrift (C) kaum mehr als die Spuren seiner Existenz erfahren. Selbst von seinen Sprüchen und Liedern ist vielleicht nur eine bescheidene Auswahl erhalten, wenn er, wie man vermuten darf, den größeren Teil seines Lebens als fahrender Sänger unter- wegs war. Um diesen Dichter soll es im folgenden gehen, seine Nachwirkung, die ihn in eine Legende verstrickte, mit deren Inhalt er selbst kaum in Verbin- dung zu bringen sein dürfte, wird bewußt ausgeblendet und lediglich in einem Exkurs beleuchtet. Die Kontinuität seines Namens hat dem Dichter nicht geholfen, in der Erinnerung der Literaturgeschichte lebendig zu blei- ben, eher hat sie sich wie ein Schleier über ihn gelegt und ein Nachdenken über ihn ohne die Assoziation der Legende fast unmöglich gemacht. Es ist daher eine Aufgabe der Forschung, den Autor von seiner Mythisierung zu scheiden. Dies wäre am einfachsten zu erreichen, wenn man ihn mit den Gedich- ten in C identifizieren und alles übrige der Legende zuschreiben würde. Ein solcher Weg wird hier nicht beschritten, die Frage, was der histori- schen Figur Tannhäuser zugehört haben mag, zunächst offen gelassen für zwei weitere Texte. Diese beiden, eine >Hofzucht< und ein >Bußlied<, Tannhäuser in den jeweiligen Handschriften eindeutig zugewiesen, werden zunächst untersucht. Der Grund dafür liegt zum einen in dem Versuch, sich Tannhäuser allmählich und, von heutiger Warte ausgehend, chronolo- gisch anzunähern. Daher wird zunächst die jüngere Hofzucht, auch formal 1 Vgl. den Abriß der Nachgeschichre bei John Wesley Thomas, Tannhäuser: Poet and Leg- end. With Texts and Translations of his Works (Univ. of North Carolina Studies in the Germanic Languages and Literatures 77), Chapel Hill 1974, S. 61— 91; vgl. auch die Bibliographie von Siegfried Grosse u. Ursula Rautenberg, Die Rezeption mittelalterlicher deutscher Dichtung. Eine Bibliographie ihrer Übersetzungen und Bearbeitungen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, Tübingen 1989, S. 265 — 272. I und inhaltlich der fernere Text, anschließend das Bußlied und zuletzt das Werk in C betrachtet. Der tiefere Grund liegt in der Vermeidung einer Voreingenommenheit, die entstehen könnte, wenn man mit der abge- schlossenen Analyse der C-Texte an die anderen heranträte, um in ihnen nur noch nach Bestätigungen für die Eigenarten des gleichen Verfassers zu suchen. Insofern wird mit der Hofzucht das im Blick auf die mögliche Echtheit zunächst unwahrscheinlichere Stück, mit dem Bußlied das wahr- scheinlichere interpretiert. Die entsprechenden Kapitel wurden daher nicht künstlich in die präsentierte Reihenfolge gebracht, sondern in dieser auch erarbeitet. Daß dabei Rückkoppelungen aus Vorwissen auftraten, mußte in Kauf genommen werden, wurde aber stets kritisch mitbedacht. Aus den Deutungen ergab sich dann die Möglichkeit, ein Gesamtbild des Autors zu entwerfen. Dies geschieht im vierten Kapitel, das überdies versucht, Gefährdung und Rechtfertigung einer autorzentrierten For- schung theoretisch zu entfalten. Für dieses Erkenntnisinteresse war es nicht erforderlich, sämtliche in C überlieferten Texte detaillierten Einzelanalysen zu unterziehen. Vielmehr wurde das Bild des Autors in seiner ihm offenbar wichtigsten Gattung, dem Leich, aufgesucht und nur, wo notwendig, durch Erkenntnisse aus Liedern und Sprüchen ergänzt. Bei allen Hypothesen zu Tannhäuser war freilich darauf zu achten, daß potentielle Einwände aus diesen Texten nicht unterschlagen wurden. Im übrigen konnten durch die Beschränkung auf die Leichanalyse die Proportionen zwischen den Kapiteln besser ausbalan- ciert werden. In einem Anhang der Arbeit finden sich Textabdrucke von Hofzucht und Bußlied, die nach möglichst gleichen Einrichtungsgrundsätzen und -regeln präsentiert werden. Im Gegensatz zu den C-Texten, die Johannes Siebert seinerzeit mustergültig ediert hat,2 ist das Bußlied nur in einem sehr viel handschriftennäheren, fast diplomatischen Abdruck zugänglich gewesen, bis Reinhard Bleck es in einer den C-Texten besser vergleichba- ren Gestalt abdruckte.3 Da hier überdies eine bestimmte Form des Bußlie- 2Johannes Siebert, Der Dichter Tannhäuser. Leben - Gedichte - Sage, Halle 1934, Nach- druck Hildesheim 1980. Vgl. die Anmerkung dazu in Helmut Lomnitzer u. Ulrich Mül- ler (Hrsg.), Tannhäuser. Die lyrischen Gedichte der Handschriften C und J. Abbildungen und Materialien zur gesamten Überlieferung der Texte und ihrer Wirkungsgeschichte und zu den Melodien (Litterae 13), Göppingen 1973, S. 6. Die Alternative wäre eine völlige Neubearbeitung dieser Texte, die Jürgen Kühnel wohl unternommen, bislang jedoch noch nicht publiziert hat. Vgl. dazu vorläufig Jürgen Kühnel, Zu einer Neuausgabe des Tann- häusers. Grundsätzliche Überlegungen und editionspraktische Vorschläge, ZfdPh 104 (1985), Sonderh. S. 80-102. 'Reinhard Bleck, Tannhäusers Aufbruch zum Kreuzzug. Das »Bußlied« der Jenaer Lieder- handschrift, GRM 43 (1993), S. 257-266. 2