José Ortega y Gasset TAGEBUCH EINER SOMMERFAHRT (Notas del vago estio) 1925 Entnommen aus Stern und Unstern · Über Spanien S. 183-248 Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 1952 UNTERWEGS Welche Lust, dahinzurollen auf den Landstraßen Ka- stiliens. Da die Erde so nackt ist, sieht man die Wege sich unverhüllt den Wellen des Bodens anschmiegen. Kopf- über stürzen sie sich beherzt in die Schlucht, um federn- den Sprungs die gegenüberliegende Höhe zu gewinnen, und man ahnt, daß sie im Fortwandern fröhlich singen, die unverwüstlich Jungen. Auf dem Rot und Gelb der weiten Landschaft sehen sie manchmal wie der große Namenszug des Malers aus. Im unaufhörlichen Wechsel der Felder zu beiden Sei- ten sind sie die tugendhafte Beständigkeit. Immer sich selbst gleich schlingen sie sich, getreu den Weisungen der Wegebaudirektion, um die Kilometersteine und ver- binden so die Landschaften; sie verknüpfen die einzelnen Stücke jeder Provinz und dann die Provinzen untereinan- der und wirken den großen Teppich Spaniens. Wenn sie eines Nachts verschwänden, wenn ein Kobold sie ent- wendete, geriete Spanien in Verwirrung; es würde zur gestaltlosen Masse, und jede Scholle, in sich selbst ver- schlossen, kehrte ungesellig und barbarisch allen anderen den Rücken. Das Wegenetz ist der Blutkreislauf der Na- tion, der sie zusammenhält und den Strom eines Geistes in ihrem ganzen Körper zirkulieren läßt. Das haben die Nationalökonomen in ihren Traktaten hundertmal gesagt, und man ist baß erstaunt, wenn man plötzlich findet, daß sie recht haben. 185 Tagebuch einer Sommerfahrt Aber auch ein Weg hat seine Leiden, moralische und körperliche. Zum Beispiel wenn unvermutet zwei oder drei andere Wege vor ihm liegen — der Kreuzweg, das Trivium oder Quadrivium. Was dann? Welchen Weg soll der Weg nehmen? Unschlüssigkeit ist eine Qual. Maimo- nides schrieb ein berühmtes Buch, ein Kompendium aller wesentlichen Weisheit, dem er den Titel gab: Wegleitung der Unschlüssigen. Kein Zweifel, zum Schlimmsten im Leben gehört das Schwanken, wenn man sich zwi- schen mehreren gleichwertigen Möglichkeiten entschei- den soll. Je heftiger die Vernunft in solchem Falle arbei- tet, um so tiefer verstrickt sie sich in Ratlosigkeit, und um so klarer wird ihr, mit Respekt zu sagen, wieviel sie im Grund vom Esel Buridans hat. Ein paarmal im Leben ist es uns so ergangen. Dann braucht es einen herzhaften Entschluß zum Abenteuer und etwas wie Pascals Wette; man muß sich auf den Kreuzweg stellen und Kopf oder Wappen spielen. Unter den physischen Leiden ist eines besonders scharf und schrecklich. Er geht so sacht für sich hin, der brave Weg, und auf einmal — ratsch! — durchfährt ihn der Eisenbahnstrang. Es ist Sache eines Augenblicks, aber sehr schmerzhaft, sehr chirurgisch, eine doppelte Eisenspritze, die ihm durch und durch geht. Der Arme, an dieser Stelle ist er nun für immer krank und muß ge- schient werden mit den zwei Schranken des Bahnüber- gangs, und man muß ihm einen Wärter beigeben, der neben ihm wacht. Oft sehen wir im Vorüberfahren das 186 Unterwegs blutgetränkte rote Tuch, das der Wärter schwingt zum Zeichen der Gefahr. Und so weiter. Und so weiter. Ein Panne. Wir sind in dem Bergland, das hinter dem Paß gegen Avila abfällt. Die Region goldfarbener Wei- zenfelder wird brutal unterbrochen von einem wild ge- türmten Haufen graugrünen Gesteins. Das rauhe Antlitz der kahlen Felsen erscheint so unvermittelt und plötzlich, so ungerechtfertigt und unbegreiflich, das sein Gegensatz zu dem üppigen Gold des Korns die Seele verstimmt. Man weiß nicht, sind diese Felsbrocken von der Erde ausgespien oder vom Himmel herabgefallen wie steiner- ne Flüche. Während der Chauffeur arbeitet, ein Sukkubus unter dem Bauch des Wagens, und ich mich gegen das Schick- sal auflehne und die Sonne grausam herunterglüht, sind die beiden Kinder verlorengegangen, die ich bei mir ha- be. Wohin sind die beiden Kinder verschwunden in der ungeheuren Einsamkeit der Berglandschaft? Mir fällt das Hai-Kai des toten Kindes ein: Wo geht mein kleiner Jäger Heut auf Libellenjagd? Und die Wildheit der Szenerie jagt mir einen Schauder über den Rücken. Aber da sind die Kinder schon wieder; sie stehen auf dem Gipfel eines der Felsentürme und schwenken mit lustigem Geschrei die Mühlenflügel ihrer kleinen Arme im Wind. Auf und ab klettern sie über die rauhe Felshaut, 187 Tagebuch einer Sommerfahrt verstecken sich, tauchen wieder auf, schießen imaginäre Pfeile aufeinander und spielen Indianer unter dem reinen Himmel. Die Welt ist weicher, bildsamer Stoff für die mächtige Phantasie der Kinder. Vielleicht ist unsere Rührung über ihr zartes Alter ein wenig unangebracht, und im Grunde sollten sie uns mit Rührung betrachten, da unser Leben sich schon abwärts neigt. Sie dagegen . . . Neid, Staunen, ja Entsetzen regen sich beim Anblick der Lebenskraft des Kindes, die ganze Landschaften und schwerste Sorgen in ihre gigantischen Kinnbacken nimmt und mit einer Geste göttlicher Anmut aus dem wilden grauen Gestein hier ein zierliches Spielzeug macht. Ein wenig weiter, und wir sind in Martín Muñoz de las Posadas, einem Dorf voll interessanter Dinge. Die Schutzpatronin des Ortes ist die Jungfrau unter einer sonderbaren Anrufung: Unsere liebe Frau der Verach- tung, Nuestra Señora del desprecio. Tierra de Campos. Überall reife Saaten, goldenes Ge- treide, das im Winde wogt wie ein Meer. Die Mäher dar- in, Schiffbrüchige unter der sengenden Sonne, die weit mit den Armen ausholen, um das blaue Ufer des Hori- zontes zu gewinnen. BOGENGÄNGE UND REGEN Spanien muß im Lauf seines Lebens eine hochgemute Zeit gehabt haben, jene Zeit, da die großen Plätze mit ihren Arkadengängen gebaut wurden, von denen in 188 Bogengänge und Regen manchen Städten ganze gedeckte Straßenzüge ausstrah- len. Das adelige Bild der Vergangenheit ist uns so geläu- fig, daß wir seinen Prunk kaum gewahren. Mir wenig- stens, muß ich gestehen, ist erst heute aufgegangen, was für eine Idee hinter dieser Art des Stadtbaus steht und welchen Schwung ihre Verwirklichung voraussetzt. Ich frage mich, ob die Gegenwart trotz des Reichtums und Komforts, womit sie sich brüstet, eine ähnliche Leistung aufweisen kann. Der Aufwand war enorm für jene Zeit. Die stolzen Schäfte der Säulen gaben allen Häusern das Ansehen von Palästen und zwangen zu einer vorspringenden Konstruk- tion, die schwierig und kostspielig war. Überdies verzich- tete man zugunsten einer öffentlichen Straßenanlage auf einen Teil des Grund und Bodens in einem Stadtgebiet, wo er am teuersten war. Als Idee setzt das eine Sänftigung des Gefühls voraus, derengleichen man heute vergeblich suchte. Es erfordert das Einverständnis und das gemeinsame Opfer aller Be- sitzer zugunsten einer Abstraktion, zugunsten der Urbs. Man wollte die Straße angenehm machen, den Spazier- gang sichern, über den Regen triumphieren. In der Stadt ist der Regen widerwärtig; denn er ist ein unberechtigter Einbruch der urwüchsigen Natur in einen kleinen, aus dem Kosmos ausgesparten Bereich, der aus- drücklich geschaffen wurde, um das Natürliche und Ele- mentare fernzuhalten. An dem Wilden befremdet uns am meisten, daß er ohne Ekel am Busen der Natur leben kann und sich im Schlamme niederwirft, unachtend 189 Tagebuch einer Sommerfahrt der Berührung von Kröte und Schlange. Es mußte eine Zeit genialen Ekels kommen, durch den der halbe Kos- mos zum Tabu wurde und das Stigma des Widerlichen empfing. Dieser sublime Ekel ging in erster Linie gegen das Feuchte. Bachofens großartige Konzeption scheint sich allgemein zu bestätigen; er setzt eine Urzeit der Kul- tur an, in welcher diese die Sumpfnatur, worin sie lebt, aufs äußerste betont. Es ist die dumpfeste und dunkelste Epoche: man wohnt in Pfahlbauten über toten Gewässern von monströser Fruchtbarkeit — Pflanzen, Insekten, Reptile, Menschen. Es ist die Zeit des Matriarchats; das Weib herrscht, feucht und fruchtbar. Die Götter sind trüb, und das ganze menschliche Dasein atmet die dicke, schwüle Luft der Moräste. Die Stadt ist der Versuch einer Sezession, den der Mensch macht, um außerhalb der Natur und ihr gegen- über zu leben, indem er sie nur in ausgewählten und ge- reinigten Stücken benutzt. Aber . . . es regnet, und das Wasser hat eine Zaubergewalt, alles zu mischen. Die feuchte Haut spürt deutlich die Berührung der Dinge — darum benetzen die Mandarinen genießerisch ihre Finger, wenn sie die Jadekugeln betasten. Beim Heraustreten aus dem Haus schwemmt der widerwärtige Guß uns von neuem in die Natur hinein, und ein vages Erschauern, vielleicht ein Überrest tausendjähriger Erfahrungen, erin- nert uns an das Leben im Morast und die schielende, schmutzige Stunde unserer Freundschaft mit Kröte und Schlange. 190 MADONNA MIT DEM WEIZENSIEB Auf dem Lande jedoch rauscht der Regen manchmal mit heiterstem Behagen herunter. In meinem Gedächtnis klingt noch die Erinnerung an ein Gewitter in Kastilien wie Musik, wie eine Sonate von Beethoven. Es ist schon lange her, und das Erlebnis ist mir zum Bild geworden. Ich folgte auf Eselsrücken den Spuren des Cid, wie unser Meister Menéndez Pidal sie am Leit- faden des Poema de Myo Cid festgestellt hat. Von Me- dinaceli, wo der Dichter des ehrwürdigen Heldenliedes wahrscheinlich gelebt hat, wandte ich mich nach Bara- hona de las Brujas. Die Gegend gehört zu den höchsten in Spanien und zu den ärmsten. Es gibt kaum Wege. Der Gebrauch des Rades ist unbekannt. Alle Beförderung geschieht auf dem Rücken von Lasttieren, und so herrscht hier der Maulesel, der Sohn von Eselin und Hengst, der wirklich ein verfeinerter Esel ist, recht zier- lich und hübsch von Huf und Nüstern. Ich kann die „mulos romos“, die so bodenständig und altertümlich sind, nicht anschauen, ohne zu denken, daß sie beinah der Sehnsucht des großen Juan Ramón Jimé- nez genugtun würden 1. Als er die illustrierte Ausgabe von „Platero y Yo“ vorbereitete — eines bezaubernden 1 Juan Ramón Jimenez (geb. 1781 in Moguér) ist ein großer spani- scher Lyriker. Platero y Yo, das den Untertitel Elegía Andaluza trägt, ist die Geschichte eines Dichters und seines Esels. (Anm. d. Übers.) 191 Tagebuch einer Sommerfahrt Buches, zugleich einfach und erlesen, demütig und ster- nenweit, das in allen spanischen Schulen als Prämie ver- teilt werden sollte —, gelang es dem Illustrator nicht, einen Esel zu zeichnen, wie ihn der Dichter träumte, und der Dichter beklagte sich bitter und bat immer wieder, er solle ihm einen feinen, sanften, anmutigen Esel malen. „Ich will einen Esel aus Kristall“, flehte Juan Ramón den verzweifelten Buchkünstler an. Nun, die mulitos romos sind beinah Kristallesel. Es ist rührend, sie über die stei- nigen Hänge der Sierra Ministra, Miedes, Barcones tra- ben zu sehen, wohin nur Schafe und Disteln noch vor- dringen, die letzten Bewohner des Unbewohnbaren. Es war Augustwetter, schwül und unruhig, und in je- nem kalten Land war man noch bei der Ernte. Um die Ortschaften lag der goldene Gürtel der Felder, auf denen die Getreidehocken wie gelbe Edelsteine glänzten. Um Mittag kam ich nach Romanillos, einem Dörfchen, das verschollen im Äthermeer lag. Ich trat ins Wirtshaus ein, mich vor dem Übermaß von Sonne zu bergen. Nach der blendenden Helligkeit draußen war der Flur wie ein fri- scher Nebel. Dagegen wurde nun von seinem Dunkel her die Toröffnung zu einer Filmleinwand, lichtgesättigt und ein wenig unwirklich. Die Schnitter gingen dort vorüber in kurzer Hose mit dem Halstuch der Leute aus Soria — schmächtige, holzige Leiber, schwarze Köpfe, elfenbei- nerne Zähne. Hinter ihnen trabten die Maulesel mit klin- genden Glöckchen und trugen Säcke voll goldgelber, frisch geworfelter Gerste. Das ganze Dorf, Män- 192 Madonna mit dem Weizensieb ner und Frauen, war auf dem Felde und arbeitete fieber- haft; denn in dieser Jahreszeit droht immer Regen, und die Ernte kann verfaulen, wenn sie nicht rasch genug eingebracht wird. Über den Horizont schiebt eine runde Wolke ihre schwarze Schulter herauf, bös lauernd wie eine Hexe; und eine sonderbare Spannung kommt in die Landschaft. Auf einmal fegt ein Windstoß über die Schwelle und ent- zündet den dämmerigen Flur mit zahllosen goldenen Funken, winzigen Strohstäubchen, die flimmernd auf und ab tanzen. Kurze Pause — und wieder ein Windstoß — und noch einer. Ein paar Tropfen fallen und zerplatzen im Wegstaub. Die Vorübergehenden beschleunigen ihre Schritte. Die Tropfen werden rascher, und ein mächtiger Donner rollt. Die Wolke bedeckt den Horizont. Sie kommt en carrière, in einem triumphierenden Galopp, als reise ein barbarischer Gott in ihr. Es regnet. Die Leute laufen. Der Guß rauscht immer wilder. Abermals der Donner, als ginge die Welt in Stücke. Ein Blitz peitscht auf die Windrosse der Wolke ein. Wirbelnder Staub ver- hüllt alles; auf einmal drängt sich ein Schwarm Männer und Frauen in den Flur hinein, die Schutz vor dem Un- wetter suchen. Lachen, Geschrei und die urwüchsige Ausgelassenheit des Landvolks. Auf der Schwelle, als Silhouette gegen das Licht, bleibt ein Mädchen stehen. Der rote Rock preßt sich ihr um die Hüften, das weiße Hemd bläht sich wie ein Segel unter dem schwellenden Doppelwind der Brüste. Ihr Haar ist so blond wie die Gerste, die Augen blau wie Quellen. Sie steht auf 193