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Tabula: Figuren Der Ordnung Um 1600 (German Edition) PDF

256 Pages·2009·31.446 MB·German
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Steffen Siegel T A B U LA Figuren der Ordnung um 1600 Steffen Siegel T A BU LA Figuren der Ordnung um 1600 Akademie Verlag Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-05-004563-4 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2009 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgend- einer Form — durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren — reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Lektorat des Textes: Petra Weigel, Jena; Silke Domasch, Berlin Gesamtgestaltung und Satz: Petra Florath, Berlin Druck und Bindung: DZA Druckerei zu Altenburg GmbH, Altenburg Printed in the Federal Republic of Germany INHALTSVERZEICHNIS I Wissensordnung 1. »Panepistemologie«: Ideengeschichtliche Voraussetzungen 7 2. Christophe de Savigny: »Tableaux« 12 3. Ordnung und Sichtbarkeit: Zwei Thesen 17 II Wörter 1. Wissen in nuce 23 2. Die Fülle der Bücher 28 3. Humanistische Lektüretechniken 33 4. Aufzeichnungssysteme 37 5. Ordnungspraktiken 43 III Diagramme 1. Sichtbarkeiten 49 2. Wissen, das auf Bäumen wächst 57 3. »De Ramistarum Tabulis« 64 4. Kritik der Baummetapher 73 5. Das endliche und das unendliche Diagramm 80 Christophe de Savigny: Tableaux, Paris 1587 IV Tafeln 1. Reihenbildung 91 2. Formulare 97 3. Das Bild des Alphabets 102 4. Ikonotexte 112 5. Entfaltung visueller Strategien 125 5 INHALTSVERZEICHNIS V Rahmen 1. Parergon als Ergon 133 2. Spiegel und Rahmen 136 3. Der Ring des Wissens 139 4. Das Ornament als Grenze 145 5. Imagination der Grenzüberschreitung 151 VI Wissenspraktiken 1. Visualität als Prinzip 155 2. Das Gewusste und das Wissen 161 3. Vom Gelehrten zum Gentleman 166 Anhang Bestandsverzeichnis 175 Literaturverzeichnis 179 Register der historischen Personen 207 Bildnachweise 211 Dank 213 6 I WISSENSORDNUNG 1. »Panepistemologie«: Ideengeschichtliche Voraussetzungen Am Beginn steht ein großes Versprechen. Gegeben wurde es in Form eines Buches im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts. Im Jahr 1491 konzipierte der Florentiner Humanist Angelo Poli- ziano eine Vorlesung zur Einführung in die Nikomachische Ethik des Aristoteles. Bereits im Jahr darauf und ebenfalls in Florenz wurde der offenkundig bearbeitete Vorlesungstext als eine Mo- 1 Poliziano 1492. Nach dieser nographie erstmals publiziert.1 Schon dem Titelblatt dieses Buches kann der Leser das Verspre- Erstausgabe ist das Traktat bereits im späten 15. Jahrhundert und im chen entnehmen. Denn Polizianos Werk erschien unter dem genauso verheißungsvollen wie am- 16. Jahrhundert mehrfach nach- bitionierten Titel Panepistemon, der sich nur ungenügend mit »Allwissen« übersetzen lässt.2 gedruckt worden. Für eine Biblio- Deutlich genug gibt dieser Titel zu verstehen, dass es in Polizianos Absicht lag, mit Hilfe seines graphie dieser Ausgaben und eine Buches nicht weniger als den gesamten Kreis des überlieferten Wissens auszuschreiten. Nicht kritische Neuedition, Kommen- dem Spezialistentum einzelner wissenschaftlicher Disziplinen also, sondern dem Wissen als tierung und Analyse siehe Mandioso 1998. einem Ganzen soll diese Schrift gelten. Doch selbst gemessen an dem, was einem vielseitig gebil- 2 Bei dem Wort >πανεπίστημων<, deten Humanisten am Ende des 15. Jahrhunderts in einem der in ganz Europa bedeutendsten das im Korpus der klassischen Zentren von Gelehrsamkeit und Kunst als Wissen erreichbar war, verweist bereits die Formulie- griechischen Literatur nur dreimal rung des Titels auf einen Anspruch, dessen tatsächliche Erfüllung kaum vorstellbar scheint. Ist nachgewiesen werden konnte und daher als ein humanistischer bereits der diesem Vorhaben eigene Ehrgeiz für sich genommen erstaunlich, so muss jedoch erst Neologismus gelten muss, handelt recht die Einlösung des im Titel Annoncierten überraschen: Denn Polizianos Panepistemon be- es sich um ein substantiviertes steht aus kaum mehr als drei Dutzend eng bedruckten Duodezseiten, die sich mühelos im Lauf Adjektiv, das streng wörtlich, einer Stunde lesen lassen. jedoch wenig sinnvoll mit »das alles Wissende« zu übertragen ist. Alles wissen, dies wird nach der Lektüre dieser wenigen Seiten deutlich, hieß für Poliziano Zu möglichen literarischen Vorla- vorderhand: alles in Begriffe fassen und diese niederschreiben. Von einer knappen, das Vorha- gen, auf die Poliziano zurückge- ben rechtfertigenden Einleitung abgesehen, besteht dieses Buch ausschließlich aus einer in Ab- griffen haben könnte, sowie zu sätze gegliederten und hierbei außerordentlich nüchtern formulierten, das heißt jede sprachliche den Problemen einer Ubersetzung Färbung unterdrückenden3 Reihung von Begriffen, Titeln und Namen. An Idee und Tradition des Titels siehe Mandioso 1998, S. 228-240. des auf Aristoteles zurückweisenden Klassifikationssystems der Wissenschaften anschließend,4 3 Mit diesen Worten räumte ordnet Poliziano seinerseits die Gesamtheit des Wissens in insgesamt 65 Rubriken und füllt jede bereits Poliziano den von ihm einzelne mit nicht mehr als einer knappen Aufzählung jeweils relevanter Termini. So heißt es gewählten farblosen Sprachstil etwa für die Architektur: »Architectura rationem continet et fabricam, constat autem ordina- ein, um ihn als methodisch inten- diert zu rechtfertigen: »Nec pom- tione et dispositione, cujus partes, chorographia, orthographia, sciagraphia, eurythmia, sym- pam tarnen hic orationis aut verbo- metria, decor, distributio. Haec publicorum aut privatorum aedificiorum, defensionis, religio- rum phaleras expectetis et pictae nis, opportunitatis causa. In quis omnibus habenda ratio firmitatis, utilitatis, venustatis.«' Den rectoría linguae. Nam, quod Charakter einer solchen »enumeration sèche«6 teilen sämtliche in Polizianos Panepistemon ver- eleganter Manilius inquit astrono- mus, ornari res ipsa negat, conten- sammelten Artikel. Als eine Liste von Stichworten, die, als solche kaum verhüllt, in die Form ta doceri.« Zitiert nach Mandioso eines Fließtextes gekleidet ist, gewinnen die Inhalte des jeweils betreffenden Wissens zwar eine 1998, S. 198-199. 7 I WISSENSORDNUNG schnell rezipierbare und leicht memorierbare Gestalt. Eine enzyklopädische Zusammenschau aller Wissenschaften, wie sie der hohe Anspruch der Titelvokabel in Aussicht stellte, scheint mit dem Dispositiv einer geordneten Begriffsreihung aber dennoch nur unzureichend erfüllt zu sein. Der bescheidene Umfang einiger weniger Duodezseiten, dieser Eindruck ist unausweichlich, scheint geradezu zwangsläufig jenes ambitionierte Versprechen zu unterlaufen, das sich bereits im Präfix »παν« symbolisiert findet. An dieser Stelle kommt bei Poliziano, und mit sowie nach ihm bei einer Vielzahl von Auto- ren des humanistischen Enzyklopädismus, die Vielfalt sichtbarer und lesbarer Zeichen ins Spiel. Die Totalität des Wissens ist faktisch nicht einholbar. Einzig der Gebrauch von Zeichen erlaubt eine Annäherung an sie. Das Vertrauen auf die Möglichkeit einer gültigen »panepistemolo- gischen« Darstellung, wie sie in Polizianos schmaler Monographie einen frühen Ausdruck fand, ruht auf einem Fundament, das im Wesentlichen das Ergebnis eines Zusammenspiels verschie- dener Zeichensysteme ist. Zu keiner Zeit hat sich die frühneuzeitliche Faszination für die Tota- lität des Wissens und, mit dieser, die Ideengeschichte des humanistischen Enzyklopädismus ein- zig auf eine imaginäre Dimension beschränken lassen.7 In einem emphatischen Sinn die Idee von Totalität8 zu denken und, daran anschließend, als ein »Ganzes des Wissens« zu konzeptuali- sieren bedeutet, besondere Praktiken des Erwerbs, der Speicherung, der Memorierung und der Tradierung von Wissen entwickeln zu müssen. Daher lässt sich die facettenreiche Geschichte frühneuzeitlicher Gelehrsamkeit keinesfalls zufällig als ein Prozess fortschreitender Entwick- lung und Verfeinerung verschiedener Zeichenpraktiken schreiben. Ist daher bereits die, sich etwa bei Poliziano abzeichnende, Annahme, zu einer »panepistemologischen« Totalität vordrin- 4 Mariétan 1901. Zur Rezeption gen zu können, äußerst voraussetzungsreich, so bedürfen erst recht die auf ein solches Ideal aus- im Mittelalter siehe insbesondere gerichteten und dieser Idee zuarbeitenden Praktiken einer näheren Aufklärung. Vier Aspekte Weisheipl 1965; Weisheipl 1978. können hierfür vorläufig unterschieden werden. 5 Poliziano: Panepistemon, ed. Mandioso 1998, S. 214. Erstens betrifft dies die Inhalte und die Reichweite des Wissens selbst. Nicht die Gewich- 6 Ebd., S.ll. tung und eine daraus abgeleitete Unterscheidung nach relevantem und weniger relevantem Wis- 7 Für Ideen, Geschichte und Probleme des frühneuzeitlichen sen ist für den humanistischen Enzyklopädismus kennzeichnend. Charakterisiert ist er viel mehr Enzyklopädismus siehe insbeson- durch das mit ihm wirksame Bemühen um eine denkbar vollständige Vermessung und Kennt- dere Schmidt-Biggemann 1983. nis der Uberlieferung. Die Perfektion des Wissens, heißt dies, ist gleichbedeutend mit der Tota- Siehe außerdem Vasoli 1978; lisierung der Historie und dem Anspruch einer unbegrenzten Aneignung des Vergangenen. Die Rossi 1983; Tega 1983. Vielfalt, Komplexität und womöglich Widersprüchlichkeit tradierten Wissens ist dabei prinzi- 8 Die umfänglichste Rekon- struktion und Auseinanderset- piell weniger Problem als Faszination. Terminologisch gefasst wird dieser universelle Wissens- zung mit einem solchen Denken anspruch in dem bereits zeitgenössischen, also während des 16. Jahrhunderts verwendeten und liegt vor mit Godin 1997-2003. aus antiken Quellen entlehnten Leitbegriff >Polyhistorismus<.9 Erst sehr viel später, zuerst im Für den vorliegenden Zusammen- frühen 18. Jahrhundert, gewinnt das Reden von der »Polyhistorie« sowie den »Polyhistoren« eine hang siehe insbesondere Band 2 (1998), Kapitel 3: Le savoir totale kritische und sodann unverstellt negative Konnotation.10 et l'encyclopédisme, S. 471—626. Hiermit in engem Zusammenhang stehen, zweitens, die Konsequenzen für den in unver- 9 Zu Begriff und Geschichte kennbar idealisierender Weise aufgeladenen Begriff der Bildung und die hiermit verbundene des Polyhistorismus siehe vor Vorstellung von der Person eines homo eruditus. Analog zum Ideal eines vollständigen Wissens allem Grafton 1985; Jaumann 1990; Chatelain 2000. Ferner wird an die Träger des Wissens, zuallererst sind dies die humanistischen Gelehrten, der Anspruch Wiedemann 1967. universaler Bildung erhoben. Enzyklopädische Gelehrsamkeit sucht nicht allein die detaillierte, 10 Helmut Zedelmaier hat die jedoch isolierte Kenntnis einzelner Disziplinen, sondern glaubt vielmehr an die Möglichkeit ei- Begriffsgeschichte des Polyhisto- ner, dem Spezialistentum übergeordneten und damit universellen Bildung. Die Person des uomo rismus und dessen Weg von ei- nem deskriptiven zu einem pejo- universale sollte in sich theoretisches wie praktisches, tradiertes wie neues, naturkundliches wie rativen Terminus verfolgt: siehe literarisches Wissen vereinen und repräsentieren können. Eine solche Totalisierung des Bildungs- Zedelmaier 2002. anspruches mag, wie Anthony Grafton zurecht unterstrich,11 in heutiger Zeit, die ganz dem 11 Grafton 1985, S. 37. 8 1. IDEENGESCHICHTLICHE VORAUSSETZUNGEN Spezialistentum verpflichtet scheint, befremdlich erscheinen; die Bezeichnung >Polyhistor< galt im 16. Jahrhundert jedoch gerade als ein »Ehrentitel für Gelehrte«.12 Von diesem universalen Wissens- wie Bildungsanspruch sind, drittens, in grundlegender Weise die Methoden der Aufzeichnung und des Erinnerns affiziert. Bereits das von Immanuel Kant in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht auf die Polyhistoren gemünzte Wort von den »Wundermännern des Gedächtnisses«, »die eine Ladung Bücher für hundert Kamele als Materialien für die Wissenschaften in ihrem Kopf herumtragen«,13 unterstreicht, hier in erkenn- bar ironischer Absicht, die Bedeutung einer präzise eingerichteten Sicherung und Speicherung des erworbenen Wissens. Gerade die Vielzahl und zugleich die Komplexität der in der Frühen Neuzeit entworfenen Mnemotechniken verdeutlicht die Dringlichkeit des Problems, die Fülle des enzyklopädischen Wissens überhaupt praktikabel machen und halten zu können. Die in solcher Weise gesteigerten Ansprüche an die Verfügbarkeit des Wissens machten schließlich, viertens, eine Erweiterung und Differenzierung der hierfür in Dienst stehenden Me- dien notwendig. Enzyklopädische »Summenliteratur«14 geht im Lauf des 16. Jahrhunderts in beachtlicher Fülle in den Druck.15 Diese nicht selten auf mehrere Bände ausgreifenden, aufwän- dig eingerichteten Werke heißen jedoch nur in einigen wenigen Fällen tatsächlich bereits »En- zyklopädie«. Weit häufiger spielen die Titelmetaphern - wie etwa »Bibliotheca«, »Museum«, »Pandectae« und »Thesaurus« — auf das mit diesen Werken geleistete Sammeln und Speichern an. Nicht selten wird aber auch der Aspekt der Präsentation und der Sichtbarmachung des Wis- sens — zu denken ist hier an das »Speculum« und das »Theatrum« — metaphorisch umschrieben. Die Notwendigkeit einer sinnvollen Einrichtung der Wissensfülle ist schließlich am deutlichsten in zahlreichen Werken unter dem Rubrum »Historia« benannt, die eine chronologische Reihung des in ihnen Gesammelten in ein übergreifendes Narrativ annoncieren. 12 Zedelmaier 2002, S. 424. 13 Kant: Anthropologie in Die Fülle des Wissens im Allgemeinen, der Umfang individueller Bildung im Besonderen, pragmatischer Hinsicht, die Memorier- sowie die Speicherbarkeit des Wissens markieren vier verschiedene, aus der Idee Β 95-96. In: Kant: Werkausgabe, eines totalisierten Wissensbegriffs abgeleitete Problemkreise. Indem die intellektuellen Erben ed. Weischedel 1977, Bd. 12, S. 489. von Polizianos Panepistemon, die Humanisten, doctores und Polyhistoren insbesondere des 14 Seifert 1983, S. 119. 16. Jahrhunderts, dem Anspruch auf Gelehrsamkeit seine charakteristische, das heißt enzyklo- 15 Eine umfängliche, allerdings pädistische Prägung gaben, wendeten sie die seit frühmittelalterlicher Zeit im Lasterkatalog ver- keinesfalls vollständige Vermes- zeichnete curiositas in jenes Wissensbegehren, das zu einem entscheidenden Stichwort für den sung unternimmt Shackleton von Hans Blumenberg beschriebenen »Prozeß der theoretischen Neugierde«16 avancieren sollte. 1984, vor allem S. 378-381. Ein- führend zur Geschichte der enzy- Doch impliziert eine solche, wie Jean-Marie Chatelain treffend schrieb, »totalisation des con- klopädischen Gattungen in der naissance«17 eine gleichermaßen dringliche wie unauflösbare Spannung. Denn kaum kann als Frühen Neuzeit siehe außerdem gesichert gelten, was »Universalität des Wissens« bedeuten soll, was also das »Ganze des Wis- Collison 1964; Eybletal. 1995; sens« im Einzelnen kennzeichnen kann. Polizianos weit reichendes Versprechen einer »panepis- Schaer 1996; Binkley 1997; Yeo temologischen« Beschreibung ist einer Spannung ausgesetzt, die aus dem erhobenen Anspruch 2001; Schneider 2006. 16 So der Titel des dritten Teils auf Universalität selbst abgeleitet werden kann und aus der sich zugleich charakteristische Struk- in Blumenberg 1988. Zur pejora- turen, Probleme und zuletzt Aporien des frühneuzeitlichen Enzyklopädismus begründen lassen. tiven Aufladung des >curiositas<- Zum einen ist mit dem Begriff der Universalität ein quantitatives Prinzip benannt. Seiner Begriffs im Mittelalter und zu seiner Umwertung während der Idee nach erschöpft sich der enzyklopädische Anspruch nicht bereits in einer großen oder gar Frühen Neuzeit siehe die Kapitel riesigen Fülle des Wissens. Grundsätzlich verstanden, zielt sein Interesse vielmehr auf Vollstän- »Aufnahme der Neugierde in den digkeit. Gerade die hierbei erkennbaren Schwierigkeiten oder, genau genommen, die Unmög- Lasterkatalog« sowie »Rechtferti- lichkeit, einen solch hohen Anspruch praktisch tatsächlich einlösen zu können, weisen den früh- gung der Neugierde als Vorberei- neuzeitlichen Enzyklopädismus am deutlichsten als ein unabschließbares und damit prinzipiell tung der Aufklärung«. Siehe außerdem Daston 1994; Daston offenes Projekt aus. Zwar gestattet die Formel eines »totum des Wissens« dessen kontinuierliche 2002. quantitative Auffüllung und Perfektionierung; grundsätzlich muss diese Vorstellung von Wis- 17 Chatelain 1996, S. 157. 9 I WISSENSORDNUNG sensfülle jedoch erweiterbar - und dies heißt vor allem: unbegrenzt - bleiben.18 Das anspruchs- volle Rubrum >Universalwissen< und die damit in Zusammenhang stehenden, nicht selten durch- aus auch prätentiösen Selbstbeschreibungen humanistischer Enzyklopädisten dürfen jedoch keinesfalls darüber hinwegsehen lassen, dass bereits zeitgenössische Quellen die Idee eines »totum des Wissens« einzig als unendliche Annäherung an das Ideal der Vollständigkeit verstanden ha- ben und dies stets bewusst hielten.19 Erst durch die Hinwendung zu einem in seiner Perfektion immer noch entzogenen Ganzen entfaltet die Vorstellung universalen Wissens jene Attraktivi- tät, die über Jahrhunderte hinweg den mit ihr verbundenen Problemen eine anhaltende Diskur- sivierung sicherte.20 Zu dieser als quantitativ gefassten Idealvorstellung von Wissen tritt, zum anderen, ein im Wesentlichen qualitativer Aspekt. Denn für den Begriff der Universalität kennzeichnend ist darüber hinaus auch die Herleitung der Wissensfülle aus einem gemeinsamen Ursprung und 18 Schmidt-Biggemann 1983, dessen Ausrichtung nach einem einzigen, übergreifenden Prinzip. In dieser zweiten Wendung S. XIII. 19 Bereits Herbert Jaumann hat von Universalität zeichnet sich die Vorstellung eines kohärenten, alle partikularen Aspekte in- »die Gewohnheit, die universalis- nerhalb eines einzigen Wissensbegriffs integrierenden Ganzen ab. Die Aufgabe einer solchen tische Selbstbeschreibung eines Figur des Einen ist das Stiften von Kohärenz. Terminologisch genauer fassen kann man diese Projekts beim Nennwert zu neh- Funktion — in Absetzung von einem quantitativ besetzten totum-Begriff — als den Aspekt eines men und nach dem faktischen »unum des Wissens«. In Anlehnung an den Titel von Paolo Rossis grundlegender Studie Clavis partikularen Standort auch dieses Projekts nicht mehr zu fragen«, universalis21 lässt sich damit sagen: Einem »Universalschlüssel« gleich garantiert die Vorstellung mit gutem Grund als einen »zu eines »unum des Wissens« den egalitären Zugriff auf alle Aspekte humanistischer Gelehrsam- einfachen Ansatz der Analyse« keit. Jenseits der bereits aus phänomenologischer Perspektive gar nicht in Abrede zu stellenden kritisiert. Jaumann 1997, S. 163. Heterogenität des Gewussten ist mit einer solchen Wendung des Universalitätsbegriffs der Ge- 20 Am weitesten gespannt und dokumentiert ist dieser Diskurs- danke der Einheitlichkeit sichergestellt. Zugleich steht diese, mindestens prätendierte, gemein- rahmen in der ausführlich kom- same epistemologische Basis der quantitativen Vielfalt möglichen Wissens entgegen, indem sie mentierten Anthologie von Tega die unverzichtbaren Differenzierungsleistungen durch einen alle Einzelheiten übergreifenden, 1983. John North hat diesen mithin universalen epistemologischen Rahmen kompensiert. Anspruch auf Vollständigkeit prägnant als einen rein idealisie- In den beiden Begriffen eines totum und eines unum des Wissens22 verdichtet sich eine für renden Totalitätsanspruch be- das frühneuzeitliche Ideal von Universalität des Wissens charakteristische Ambivalenz. Zum schrieben, der sich seiner tatsäch- einen leisten diese beiden voneinander zu unterscheidenden Konzepte der Vollständigkeit und lichen Einlösung entzieht. Siehe der Einheitlichkeit eine genauere Bestimmung des Begriffs eines Ganzen des Wissens. Zum an- North 1997. Auf das Individuum gewendet, dies hat Hans Blumen- deren aber bleiben diese beiden Aspekte in nicht aufzuhebender dialektischer Spannung stets berg verdeutlicht, bleibt die Dif- aufeinander bezogen. Die Gesamtheit dessen, was gewusst werden kann, kann allein dann ange- ferenz von erhobenem Anspruch messen reflektiert werden, wenn einerseits auf kein Detail verzichtet wird, andererseits aber diese und faktischer Einlösung indes Wissensfülle anhand einer jedes Detail integrierenden Idee ausgerichtet wird. Benannt ist damit eklatant oder — mit Blumenbergs Wort — »bestürzend«. Blumen- die zentrale Herausforderung für den frühneuzeitlichen Enzyklopädismus. Denn sein entschei- berg 1988, S. 273. dendes Interesse, zugleich aber auch sein wesentliches Problem ist es, zwischen diesen beiden 21 Rossi 1983. Universalitätskonzepten des totum und des unum vermitteln zu wollen und die daraus abgeleite- 22 Für einen hiermit verwand- te Spannung ausgleichen zu müssen. ten Beschreibungsversuch siehe Jean-Marc Chatelain: » Unus, Angelo Poliziano hat diese sich in dialektischer Ambivalenz bewegende Arbeit an einem totus: ces deux pensées de la glo- »panepistemologischen« Entwurf des Wissens mit der Tätigkeit eines Anatomen verglichen: balité, que le latin est plus apte à »Imitabor igitur sectiones illas medicorum quas anatomas vocant.«23 Wo der Mediziner das dire que le français, sont aussi les Skalpell führt, da dringt der Enzyklopädist durch begriffliche Analyse vom Ganzen zum Einzel- deux voies qui s'offrent à l'idée d'encyclopédie.« Chatelain 1996, nen vor. Diese Arbeit des Auseinanderlegens oder, wie Poliziano schreibt, des Sezierens ist dem- S. 157. (Kursivierung im Origi- nach das entscheidende erkenntnistheoretische Instrument zur Bestimmung der Fülle des Wiss- nal.) baren. Dieser zu den Details vordringenden Analyse muss jedoch darüber hinaus, daran lässt 23 Poliziano: Panepistemon, Poliziano im Fortgang seiner Bemerkungen keinen Zweifel, grundsätzlich eine synthetisierende ed. Mandioso 1998, S. 198. 10

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