TAGUNGSDOKUMENTATION Summer School 2016 Keine Praxis ohne Theorie – Keine Theorie ohne Praxis Prof. Dr. Felix Diergarten Vortragsmanuskript 21.9.2016 Musiktheorie im hochschulischen Kontext. Versuch einer Selbstkritik Venedig, 1614. (cid:1) (cid:1) Der Sänger und Komponist Bartholomeo Barbarino gibt sein zweites Buch mit Motetten für Solostimme und Basso Continuo in den Druck. Das Erscheinungsbild der Solostimme ist außergewöhnlich. (cid:1) Auf einer aufgeschlagenen Doppelseite liegen sich jeweils zwei Versionen der gleichen Motette gegenüber; die linke bezeichnet als semplice, die rechte bezeichnet als passegiato. Mit anderen Worten: Barbarino liefert von jeder Motette eine einfache und eine reich mit Verzierungen versehene Fassung, und dafür ist Barbarinos Druck in die Musikgeschichte eingegangen. An Barbarinos Motetten lassen sich Verzierungspraktiken der Zeit um 1600 ablesen, da sich hier jeweils eine verzierte Version mit dem unverzierten Original vergleichen lässt. Nun, dafür gibt es genügend andere Beispiele. Wirklich berühmt geworden ist Barbarino für sein Vorwort, in dem er erklärt, warum er überhaupt zwei Versionen jeder Motette gibt, denn das ist alles andere als selbstverständlich. Barbarino schreibt also in seinem Vorwort: (cid:1) (cid:1) »Perche ho inteso da molti che nel primo Libro de Motetti, che gia diedi alla stampa per cantarsi da una voce sola, ve ne siano alcuni di essi, che riescono difficili a potersi cantare da chi non ha dispositione di passaggiare.« Zu deutsch »Da ich von vielen gehört habe, dass in meinem ersten Motettenbuch für eine Stimme, das ich bereits veröffentlicht habe, einige Stücke schwierig zu singen sind für diejenigen, die nicht in der Lage sind, Verzierungen zu machen, war es mein Wille, in diesem zweiten Buch die Singstimme in zwei Arten zu drucken: eine unverziert, eine verziert. Die unverzierte Version ist einerseits für diejenigen, die nicht gut genug singen können, um Verzierungen zu singen; die unverzierte Version ist aber andererseits für auch diejenigen, die fähig sind, Verzierungen zu singen, aber auch den Kontrapunkt [das heißt hier: die Musiklehre] beherrschen, mithin also selbst Verzierungen erfinden können [...]. Die verzierte Version ist für diejenigen, die Verzierungen singen können, aber keinen Kontrapunkt [keine Musiklehre] beherrschen, also nicht in der Lage sind, selbst gute Verzierungen zu erfinden. Lebt Wohl!« Für Bartholomeo Barbarino gehört es im 17. Jahrhunderts also zu den Gegebenheiten des Alltag, dass es virtuose Sänger gibt, die keine Musiklehre beherrschen und folglich nur das absingen können, was in den Noten steht. 1 Prof. Dr. Felix Diergarten Vortragsmanuskript 21.9.2016 Dresden, 1752. (cid:1) Der alternde Konzertmeister Pisendel der Dresdner Hofkapellmeister beklagt sich brieflich bei Georg Philipp Telemann über die italienischen Musiker in seinem Orchester. »Eins habe ich noch vergeßen, zu sagen, daß ich [...] Herrn [Hofkapellmeister] Haßen um Gottes Willen gebethen, daß er keine Italiäner mehr in die orchestre setzen wolle. Nicht als wenn ich an ihrem Spihln was auszusezen e.g. in Solis oder Concerten, nur allein deßwegen daß sie niehmals gewohnt Subject [das heißt: Untertan] zu seyn, sondern vielmehr [...] ohne auf andere zu hören spihln wenn und wie sie wollen. etc.«. Leipzig, 1799. (cid:1) Der Erzähler, Komponist und Musikschriftsteller Johann Friedrich Rochlitz veröffentlicht im zweiten Jahrgang der Allgemeinen Musikalischen Zeitung eine Reihe von musikalischen Feuilletons unter dem Titel Bruchstücke aus Briefen an einen jungen Tonsetzer. (cid:1) An einer Stelle lässt Rochlitz sich über die Vortragskunst von Orchestermusikern aus, die als Solisten auftreten. Rochlitz schreibt: (cid:1) »Sie sind mit sich zufrieden, wenn sie ihr Konzert abgespielt haben, wie es dasteht, und nur keine Note verfehlt worden ist; ein Konzert studieren, heisst bei ihnen, die Passagen und Schwierigkeiten desselben tüchtig einlernen und weiter nichts; sie reissen in ihre Geigen, sie schlagen ihr Klavier, wie man hier mit Grund unsern Vorfahren nachsprechen darf – sie geben auf letzterm besonders ihre vollen Bässe so beleidigend und die Melodie so verdunkelnd an; – wollen sie Delikatesse des Vortrags zeigen oder Verzierungen einweben, so wird das so unnatürlich maniriert, geziert, zuweilen auch so handfest – und was dergleichen sehr gewöhnliche und eben so unangenehme Erscheinungen mehr sind.« (cid:1) Wir haben drei historische Quellen zum Verhältnis von Ausbildung, Theorie und Praxis gehört. Für Barberino, Autor unserer ersten Quelle, war es Teil des Geschäfts, für Sänger zu publizieren, die keinen Musiklehre beherrschen und keine Verzierungen erfinden können; Konzertmeister Pisendel beklagt schlecht ausgebildete Orchestermusiker, die als Solisten geschult und nicht ans Orchesterspiel gewöhnt sind; Rochlitz, Autor unserer dritten Quelle, beschreibt umgekehrt gut trainierte Orchestermusiker, die, selbst wenn sie als Solisten auftreten, ohne Ambitionen einfach nur das herunterspielen, was in den Noten steht. 2 Prof. Dr. Felix Diergarten Vortragsmanuskript 21.9.2016 Warum eröffne ich meinen Vortrag und damit unsere Tagung mit solchen Dokumenten? (cid:1) Ich zitiere diese Quellen nicht, um festzustellen, dass es um das Verhältnis von Theorie, Ausbildung und Praxis schon früher nicht zum Besten bestellt war und dass also kein Grund zur Klage besteht. Ich denke aber, dass wir uns, wenn es um das Verhältnis von »Praxis« und »Theorie« in der Musikausbildung geht und ein historischer Einstieg in die Thematik gefragt ist, auch vor der gegenteiligen Simplifizierung hüten sollten: eine Simplifizierung, der man immer wieder begegnet: Früher, so heißt es, waren die Musiker grundsätzlich noch ganzheitlich gebildete Musici, da konnte noch jeder Orchestergeiger und jeder Sänger seine eigenen Kadenzen und Verzierungen anbringen, vielfältig improvisieren, konnte Konzerte und Arien für den eigenen Gebrauch komponieren, während heute, nach dem Sündenfall der Spezialisierung, nur noch Fachidioten produziert werden: Die einen singen, die anderen geigen, wieder andere komponieren oder lehren Theorie. Es ist nicht schwer, hinter einer solchen Erzählung einen typischen Moderne-Mythos zu sehen: der Verlust einstiger Ganzheitlichkeit und Sinnhaftigkeit durch Partikularisierung und Spezialisierung. Wie die meisten Mythen ist diese Story nicht völlig falsch, aber sie ist eben in dieser Einfachheit auch nicht ganz richtig. Noch nie in der Musikgeschichte hatten wir so breit und vielseitig ausgebildete Musiker und Musiklehrer wie heute. Zwar gibt es all die respekteinflößenden Quellen früherer Jahrhunderte, aus denen man herauslesen kann, wie gebildet und kompetent Musiker vergangener Jahrhunderte waren. Nur sollte man hier nicht einem bekannten Denkfehler verfallen und Quellenzitate isoliert generalisieren sowie von der literarischen Sprache der Quellen auf die Realitäten des Lebens kurzschließen. Natürlich trifft es zu, dass Leopold Mozart geschrieben hat, »ein guter Orchestergeiger« müsse »viele Einsicht in die ganze Musik« und »in die Setzkunst« haben, »um seinem Amte mit Ehren vorzustehen«. Nur schreibt hier eben ein aufgeklärter und in seiner musikalischen Bildung exzeptioneller Autor in einem Lehrbuch darüber, wie er sich die beste aller möglichen Welten vorstellt. Dass hieraus nicht einfach platt auf die Wirklichkeit geschlossen werden kann, verdeutlichen die Zitate des Beginns. Mein historischer Einstieg in diese Tagung dient also dazu, eine vermeintlich einfache Sachlage etwas komplizierter zu machen, um dann als Hintergrund für die folgenden Tage ein weites Feld von Themen zu eröffnen, mit dem ich drei Kernthesen umkreise. 3 Prof. Dr. Felix Diergarten Vortragsmanuskript 21.9.2016 Erstens: Die arbeitsteilige Spezialisierung in der Musikausbildung, die wir seit dem 19. Jahrhundert beobachten, ist nicht einfach die Ursache für ein Missverhältnis von Reflektion und Praxis, das wir heute beklagen, sie ist selbst schon ein Symptom tieferliegender Ursachen, nämlich der Pluralisierung, Historisierung und Vervielfältigung des Musikrepertoires. Zweitens: Diese Pluralisierung und Spezialisierung betrifft ganz besonders auch Theorie und Wissenschaft, die mit je unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Strategien auf die Historisierung von Repertoire und Aufführungspraxis reagieren, mit der Folge dass diese Bereiche des Musiklebens in der Ausbildung auseinanderdriften. Drittens: Es ist dabei nicht so sehr die sogenannte »Praxis«, die sich von den Fragen der sogenannten »Theorie« abgewandt hat (und auf die Problematik dieser Begriffe werde ich zurück kommen), nein, es sind vor allem Theorie und Wissenschaft, die sich von den Fragen der Praxis entfernt haben. Wenn Studierende und Hauptfachlehrer an Musikhochschulen unzufrieden sind mit dem Theorieunterricht, dann spricht das nicht notwendigerweise für allgemeine Theoriefeindlichkeit und dumpfen Pragmatismus; häufig ist das einfach ein Symptom für suboptimalen Theorieunterricht. Im Einzelnen liegen die Ursachen hier, so denke ich, im problematischen Verhältnis von rudimentären Handwerkslehren und übermächtiger Kunstwerk-Analyse; sie liegen ferner bei strukturalistischen und undurchsichtigen Analysemethoden, deren Relevanz im hochschulischen Kontext heute schwer transparent zu machen ist; sie liegen bei einer sich von Spielen und Singen entfernenden Theorie-Ausbildung im Großgruppenunterricht; sie liegt jüngst auch bei einer rapiden Verwissenschaftlichung und Pluralisierung der Musiktheorie, mit der die Vermittlungsmethoden nicht Schritt gehalten haben. Bevor ich auf all dies nun im Einzelnen eingehe, noch einige Worte zu den Begriffen »Theorie« und »Praxis«, damit ich diese Begriffe im Folgenden nicht permanent gleichsam mit Anführungszeichen aussprechen muss. Wir haben uns heute daran gewöhnt, um Carl Dahlhaus zu zitieren, »den Tonsatzunterreicht als Theorie zu bezeichnen«.1 Wir sollten aber nicht vergessen, dass all die Dinge, die wir heute als »Theoriefächer« bezeichnen (Gehörbildung, Kontrapunkt, Kompositionslehre, Notation) noch im Barock unter die Bezeichnung »musica practica«, also unter die praktischen 1 Dahlhaus, Ideen zu einer Geschichte der Musiktheorie, S. 25. 4 Prof. Dr. Felix Diergarten Vortragsmanuskript 21.9.2016 Fächer gehört hätten, während die musica theorica Theorie im engen Sinne war: Spekulation. So gesehen gibt es also keine im Wortsinne »theoretischen« Fächer an den Hochschulen. Die Opposition »Theorie versus Praxis« ist auf unsere Situation bezogen grundsätzlich schief.2 Es ist genau dieses Begriffspaar, das Verständigungsversuche an den Hochschulen erschwert, wenn nicht unmöglich macht, weil ihm einerseits von vorne herein ein Praxisbegriff zugrunde liegt, aus dem alles, was nicht direkt mit dem Spielen oder Singen zu tun hat, als »Theorie« herausfällt; weil es andererseits aber auch zu einem »Theorie«-Begriff im emphatischen Wortsinne und damit zur Abgrenzung vom Pragmatisch-Angewandten verleiten kann, womit den als »Theorie« bezeichneten Musiklehre-Fächern des hochschulischen Kontexts kein Gefallen getan ist. Doch nun zunächst zum ersten Themenkreis: zu der Frage nach der Arbeitsteilung und Spezialisierung der Musikausbildung im 19. und 20. Jahrhunderts. Mit der Institutionalisierung der Musikausbildung in den Konservatorien des 19. Jahrhunderts ging ein massiver Prozess der Arbeitsteilung gegenüber älteren Ausbildungsmodellen einher, wo Instrumentalisten und Sänger zünftig in Stadtpfeifereien und Kantoreien oder in einem direkten Meister-Schüler-Verhältnis ausgebildet wurden. Natürlich kann man das sozialgeschichtlich als Kollateralentwicklung zu gleichen Tendenzen in der sich industrialisierenden Gesellschaft sehen. Für Dilettanten, die alles ein bisschen und wenig richtig können, war immer weniger Platz; wer seine Rolle auf der Bühne, im Graben am Schreibtisch oder im Klassenzimmer der neuen Konservatorien hat, der hat diese Rolle professionell zu erfüllen und muss seine Zeit investieren, um ihr gerecht zu werden. Das ist sicherlich ein Aspekt der Entwicklung. Es gibt aber noch einen anderen Aspekt. Er betrifft die Historisierung der Musikkultur, die im 18. Jahrhundert zunächst langsam anfängt, um sich dann im 19. und 20. Jahrhundert mit einer immer größeren Dynamik zu entfalten. Ich meine damit vorerst nicht eine Historisierung der Aufführungspraxis, diese lässt bis ins 20. Jahrhundert auf sich warten, ich meine zunächst einmal eine Historisierung des Repertoires. Bis ins 18. Jahrhundert bewahrheitet sich die Beobachtung, dass das Musikrepertoire kaum Musik umfasst, die älter als ein oder zwei Generationen ist. Für einen Musiker dieser Zeiten war es also durchaus möglich, ja normal, sich ein Leben lang in einem einzigen oder doch nur wenigen miteinander verwandten Stilen bewegen zu können. 2 Dazu Riethmüller in Geschichte der Musiktheorie 3; Dahlhaus in Geschichte der Musiktheorie 1, S. 14. 5 Prof. Dr. Felix Diergarten Vortragsmanuskript 21.9.2016 Wenn wir also z.B. die Improvisationskünste von Renaissance-Sängern im 16. Jahrhunderts bewundern, so müssen wir berücksichtigen, dass diese Leute ja auch von früher Kindheit an täglich nur in zwei Musikstilen tätig waren: Einstimmiger ›gregorianischer‹ Gesang und Mehrstimmigkeit auf Grundlage der Regeln der Prima prattica. Zwar gibt es seit dem 17. Jahrhundert einen zunehmenden Pluralismus, weil sich die Musikpraxis nach Stilhöhen (»prima prattica« versus »seconda prattica«) aber auch nach Stilregionen ausdifferenziert. Trotzdem: Dieser Stilpluralismus war weit entfernt von der heutigen Situation, waren doch die satztechnischen Grundlagen der alten Stile- antico-Musik zumindest in mancherlei Hinsicht noch immer auch die satztechnischen Grundlagen der moderneren Musik des 17. Und 18. Jahrhunderts. Wer im 18. Jahrhundert ein gut fundierte Ausbildung im Generalbass in seiner ganzen theoretischen und praktischen Breite hatte, der konnte sich mit diesem Handwerk das komplette Repertoire vom noch präsenten Stile antico bis zu den neuesten Modestücken weitgehend erschließen, der konnte sich selbst stilistisch in diesen Stilen bewegen, konnte im besten Fall selbst in diesen Stilen schreiben und improvisieren, jedenfalls aber doch die Grundlagen dieser Musik verstehen und vermitteln. Nun – unter diesen Voraussetzungen lohnt sich – selbst heute – eine intensive Schulung im Generalbass, hier stellt sich die Frage nach dem Sinn des Nebenfachs gar nicht, hier ist Generalbass keine Theorie, denn jeder Griff am Klavier und jede Ziffer auf dem Notenblatt ist unmittelbar mit der Lebenswelt des Musikers verbunden. Da hätten wir ihn also, den »Universalmusiker« des 18. Jahrhunderts! Mit solcher Ganzheitlichkeit ist es aber bald vorbei. Mit jedem Jahrzehnt des 19. Und 20. Jahrhunderts wächst das Repertoire gleichsam nach vorne und nach hinten: Es entstehen immer neue Kompositionen und Stile, gleichzeitig greift die Historie immer tiefer in die Geschichte, reiht sich in den Bibliotheken der sich institutionalisierenden Musikwissenschaft Edition an Edition. Für die Praktiker hatte das erst einmal gar keine Konsequenzen, denn noch lange war es möglich und üblich, dass ein Musiker sich ganz selbstverständlich der Musikgeschichte in ganzer Breite und ohne grundsätzliche Differenzierung zuwenden konnte. (cid:1) Eines meiner Lieblingsbeispiele dafür ist die CD Six Centuries of Song des amerikanischen Tenors Roland Hayes, auf der Lieder von Machaut bis Mussorgsky aufgenommen sind. (cid:1) Die Aufnahme entstand in den Jahren 1953 und 1954, Hayes war damals schon über 60 Jahre alt. Weil es so schön ist, und weil 6 Prof. Dr. Felix Diergarten Vortragsmanuskript 21.9.2016 ich meinen theoretischen Redefluss gerne für ein paar Minuten durch etwas klingende Praxis unterbrechen lasse, hier ein paar Beispiele. Gospel / Debussy / Schubert / Händel / Monteverdi / Machaut in der Harmonisierung von Jean-Baptiste Weckerlin Wir hören ein Dokument für einen, wie ich finde, ungemein berührenden Moment in der Musikgeschichte. Jener Moment, wo die Musikwissenschaft bereits Jahrhunderte von Musik in Editionen und Beschreibungen hat wiederauferstehen lassen, sich gleichzeitig aber die Idee einer historischen Aufführungspraxis noch nicht breiter durchgesetzt hat. (cid:1) Mit der rapiden Pluralisierung des Repertoires beginnt aber auch eine Entfremdung von Theorie und Praxis, denn die Theorie hält mit der Pluralisierung des Repertoires nicht Schritt, ja ganz im Gegenteil! Die Zeit, in der sich das Stilspektrum durch Komponisten und Musikwissenschaftler so radikal erweitert, ist genau die Zeit, in der die Musiktheorie anfängt, ihre großen, ausdrücklich stilübergreifenden Systeme zu entwerfen. Riemann und Schenker sind darunter ja nur die bekanntesten. Dieses scheinbare Paradox ist kulturgeschichtlich inzwischen gut untersucht und letztlich überhaupt nicht paradox, sondern – einmal mehr – ein typisches Moderne-Phänomen: Just in dem Moment, wo die Tonalität erschüttert wird, nämlich durch die Erforschung der prätonalen Musik einerseits, durch die Entstehung der post-tonalen Musik andererseits, just in diesem Moment also versuchen die großen musiktheoretischen Systeme nochmal den allumfassenden Wurf, sie versuchen nochmal das zu fassen, was sich immer mehr relativiert und in Einzelheiten verliert. Und hier verlieren sich auch Theorie und Praxis, genauer gesagt: Die Fächer, die wir heute als »Theorie« zu bezeichnen gewöhnt sind, Harmonielehre und Kontrapunkt, hören auf, Praxis zu sein und rücken in die Nähre der Theorie, das heißt: der Spekulation. Es ist nicht zu leugnen, dass die großen musiktheoretischen Systeme des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts auch heute im hochschulischen Kontext noch immer eine große Rolle spielen. Sie bieten noch immer einen scheinbar sicheren Halt im weiten Feld endloser historischer und stilistischer Differenzierung. Im Alltag vieler amerikanischer Hochschulen besteht noch immer das Monopol des Schenkerismus: Man glaubt es nicht, wenn man es nicht selbst gesehen oder gehört hat. Auch bei uns ist die Dominanz der Methoden des 19. und frühen 20. Jahrhunderts noch lange nicht gebrochen. Wo es aber 7 Prof. Dr. Felix Diergarten Vortragsmanuskript 21.9.2016 keine historische Differenzierung gibt, da hat die Musiktheorie nicht Schritt gehalten mit der Praxis. Nun muss man fairerweise die Dinge, die ich im Vorhergehenden kritisiert habe, mit Blick auf die Situation an den deutschsprachigen Hochschulen etwas zurecht rücken. Gerade die deutschsprachige Musiktheorie zeichnet sich ja seit den 1980er-Jahren durch eine zunehmende Kritik an den überzeitlichen Systemen und durch eine zunehmende Differenzierung aus. Das waren von musiktheoretischer Seite die Bücher von Diether de la Motte, die nicht so sehr auf historische Methoden des Analysierens, aber doch auf eine historische Differenzierung des Repertoires aus waren, insbesondere in der Harmonielehre aber noch immer getragen von einer ungebrochenen Funktionstheorie. Das waren von musikwissenschaftlicher Seite vor allem die Arbeiten von Carl Dahlhaus, insbesondere seine Beiträge zur Entstehung der harmonischen Tonalität, ihrerseits allerdings ebenfalls geprägt von einer erstaunlichen Treue Riemann gegenüber. Und dann waren da die Bücher von Clemens Kühn und Hartmut Fladt, die zu einer Vielfalt der Methoden in der musikalischen Analyse ermutigten und Pluralismus des Verstehens in der deutschen Musiktheorie zu einer Selbstverständlichkeit machten. Diese Entwicklungen kulminierten zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Musiktheorie und in der Einführung des Promotionsrechts im Fach Musiktheorie. Man kann diese Entwicklung zusammenfassen als eine allmähliche Abwendung von den alten Systemen, eine allmähliche Historisierung und Ausdifferenzierung der Methoden und eine damit einhergehende Verwissenschaftlichung des Diskurses. In diesem ganzen Prozess der Verwissenschaftlichung, Differenzierung und Historisierung darf man ja erst einmal etwas durchaus Positives sehen. Ich selbst, als promovierter Musiktheoretiker mit einer Habilitationsschrift in Musikwissenschaft bin ja gewissermaßen eine Personifizierung dieses Verwissenschaftlichungsprozesses. In diesem Sinne bezieht sich der Untertitel meines Vortrags, »Versuch einer Selbstkritik« durchaus auch auf mich selbst. Denn heute muss man sich kritisch fragen, und damit komme ich auf unser Tagungsthema zurück, was wir durch diesen Verwissenschaftlichungsprozess im Verhältnis von Theorie und Praxis an der Hochschule gewonnen haben. Was in diesem ganzen Prozess auf der Strecke geblieben ist und einmal mehr aus dem Auge verloren wurde, ist die Vermittlung, die Frage also, wie wir das, was uns als Musiktheoretiker beschäftigt und begeistert, im hochschulischen Kontext lehrend an Musiker weitergeben können. Nach mittlerweile 15 8 Prof. Dr. Felix Diergarten Vortragsmanuskript 21.9.2016 Jahren »Gesellschaft für Musiktheorie« gab es, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, nur einen einzigen Kongress, der sich dem Titel nach ausdrücklich Fragen der Vermittlung gewidmet hat (und ein Pädagoge, der einen Blick in den Kongressbericht wirft, wird sich womöglich fragen, inwiefern in den wenigen dokumentierten Aufsätzen zum Thema tatsächlich Fragen der Fachdidaktik- und Methodik behandelt werden). Dabei wirft doch gerade der Prozess der wissenschaftlichen Differenzierung und methodischen Pluralisierung eine Menge pädagogischer Fragen auf. Stichwort Selbstkritik: Als ich mich vor einigen Jahren entschloss, ein Lehrbuch über Analyse nicht alleine zu schreiben, sondern einzelne Methoden und Themen je von einzelnen Spezialisten behandeln zu lassen, dann war das – ich gestehe es rückblickend ein – die Kapitulation vor einer Analyse-Wissenschaft, die derart differenziert und spezialisiert geworden ist, dass ich mir nicht mehr zutraute, sie in einem großen Wurf einer Synthese zuzuführen und auf eine basispädagogische Ebene herunter zu brechen. Das war sicher auch mein persönliches Problem; es verweist aber doch auf die generelle Problemlage, in die ein Fach, das im hochschulischen Kontext weitgehend pädagogisch situiert ist, durch stilistische und wissenschaftliche Differenzierung gerät. Im Einzelnen stellt sich diese Problemlage wie folgt dar. Differenzierung und Pluralisierung führen dazu, dass ein Student während seines Studiums permanent ganz unterschiedliche, ja immer wieder auch widersprüchliche Informationen erhält. Wir haben heute nicht nur ein Repertoire, das Musik von Gregorianik bis Pop-Musik umfasst, wir haben auch zu praktisch jedem Stil mehrere Methoden oder Begrifflichkeiten des Verstehens. Im Alltag kann das dann so aussehen: Der Studierende lernt erst Harmonielehre, um dann in einem anderen Kurs zu erfahren, dass man schon Bach-Choräle nicht harmonisch zu verstehen habe, sondern z.B. als Folge von Klauselkombinationen. Der Student erarbeitet sich mühsam eine funktionstheoretische oder stufentheoretische Erklärung des übermäßigen Quintsextakkords, um dann in einem Mozart-Seminar zu lernen, dass diese Erklärung sinnlos und der Akkord vielmehr als chromatisierte phrygische Wendung zu verstehen sei; er lernt in seinem Kontrapunktkurs die Dissonanzregeln des 16. Jahrhunderts um dann im Dufay-Seminar zu erfahren, dass das im 15. Jahrhundert natürlich noch alles ganz anders zu sehen ist; er ist stolz darauf, die Begriffe »1. Thema, Überleitung, Seitenthema« verstanden zu haben, um dann zu erfahren, dass die Exposition einer frühen Haydn-Sonate nach Koch anders zu erklären ist; ja: er lernt die Bestandteile der Sonatenform, um dann zu hören, dass es die Sonatenform überhaupt nicht gibt; er lernt 9
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