BEIHEFTE ZUR ZEITSCHRIFT FÜR ROMANISCHE PHILOLOGIE BEGRÜNDET VON GUSTAV GRÖBER FORTGEFÜHRT VON WALTHER VON WARTBURG HERAUSGEGEBEN VON KURT BALDINGER Band 139 THEODOR BERCHEM STUDIEN ZUM FUNKTIONSWANDEL BEI AUXILIARIEN UND SEMI-AUXILIARIEN IN DEN ROMANISCHEN SPRACHEN Morphologisch-syntaktische Untersuchungen über gehen, haben, sein MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1973 Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft ISBN 3-484-52044-2 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1973 Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany Herstellung durch Allgäuer Zeitungsverlag GmbH Kempten/Allgäu Einband von Heinr. Koch Tübingen VORWORT Vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit einem Komplex von Fragen, die z. T. bereits mehrfach das Interesse der Forschung gefunden haben. Die angegangenen Probleme, obwohl im einzelnen recht verschieden, lassen sich unter dem Generalthema »Funktionswandel« subsumieren. Die Schwierigkeit der behandelten recht eigenartigen Phänomene aus dem Bereich der Morphosyntax und die Unzulänglichkeit der bisher vorge- schlagenen Lösungen, soweit es überhaupt welche gibt, haben uns ge- reizt, selbst nach neuen Ansätzen zu suchen, und wir hoifen, nicht zuletzt dank neuer von uns beigebrachter Materialien, in einigen Punkten wenig- stens einen Schritt vorangekommen zu sein, in anderen aber auch de- finitive Lösungen erbracht zu haben. Das Manuskript dieser Untersuchung war bereits im Jahre 1966 abge- schlossen. Die baldige Übernahme eines Lehrstuhls mit allem, was damit heute verbunden ist, und ein sehr starkes Engagement in Universitäts- selbstverwaltung und Hochschulpolitik haben die Publikation immer wieder verzögert. Auch unser ursprünglicher Plan, die Arbeit um ein allgemeines Kapitel zum Funktionswandel sowie zur Periphrasenbildung zu erweitern, ist diesen Umständen zum Opfer gefallen. Bibliographisch wurden die wenigen seit 1966 erschienenen einschlägigen Arbeiten mit erfaßt. Besonderen Dank schulden wir Herrn Kollegen Baldinger für die prompte Übernahme unserer Untersuchung in seine Reihe und das geduldige Warten auf das druckfertige Manuskript. Desgleichen gilt unser Dank der Deutschen Forschungsgemeinschaft für den Druckkostenzuschuß und dem Verlag Niemeyer für die sorgfältige verlegerische Betreuung und die sehr korrekte Ausführung des nicht leichten Satzes (drei verschiedene Transkriptionsverfahren!). Vor allem aber richtet sich unser Dank an unsere bewährten Mitarbeiter Herrn Priv.-Doz. Dr. K. Reichenberger, Herrn Dr. 0. Gsell und Herrn Ass. H. Nickel für ihre stets bereite Hilfe und die mühsame Arbeit des Korrekturlesens. Würzburg, im März 1973 Theodor Berchem INHALTSVERZEICHNIS ERSTER TEIL: GEHEN 1 DAS F-4 .DO-PERFEKT 3 I. Allgemeines und geographische Ausdehnung der Konstruktion 3 II. Zeitpunkt der Entstehung 7 III. Verschiedene Phasen der wwio-Periphrase. Gründe für ihre Er- haltung oder ihren Verlust 26 IV. Die uado-Periphrase in der Mundart von Guardia Piemontese (Kalabrien) 32 A. Allgemeines und Historisches 32 B. Die beiden Typen der wufo-Periphrase 36 C. Der Verlust des Infinitivs, speziell im Neugriechischen und in süditalienischen Mundarten 47 D. Eine neue Deutung von vo ¿dnt 57 ZWEITER TEIL: HABEN UND SEIN 71 SEMANTISCH-SYNTAKTISCHE FUNKTIONSÜBERSCHNEI- DUNGEN VON SEIN UND HABEN 73 I. Verwechslung im Imperfekt 73 A. Galloromanisch 73 B. Italienisch 98 11. Afi, »sein« und die Bildung zusammengesetzter Zeiten des Aktivs im Rumänischen 104 III. Das Hilfszeitwort sein und die Bildung zusammengesetzter Zeiten des Aktivs transitiver Verben in italienischen und kata- lanischen Mundarten 115 IV. Soi avutz »ich bin gewesen« und ähnliche Bildungen im Altpro- venzalischen, Altfranzösischen, Altoberitalienischen und in modernen galloromanischen und oberitalienischen Mundarten 122 ANHANG Belegmaterial zu soi avutz und ähnlichen Konstruktionen . . .. 137 BIBLIOGRAPHIE 148 DAS VADO- PERFEKT I ALLGEMEINES UND GEOGRAPHISCHE AUSDEHNUNG DER KONSTRUKTION Die Konstruktion, die man im allgemeinen nicht sehr glücklich mit periphrastischem Perfekt bezeichnet - j'ai couru, oder je suis parti sind ja doch auch periphrastisch - und für die wir den Namen »wdo-Perfekt« vorschlagen, stellt ein schwieriges, interessantes und vielfach beachtetes Problem der romanischen Sprachwissenschaft dar. Wir sind also nicht der erste Bearbeiter1 dieses Phänomens und ohne jeden Zweifel auch nicht der letzte2. Es wird im Detail die Forschung noch lange beschäftigen, da nach unserer Meinung noch viele strukturelle Einzelanalysen von Texten geliefert werden müssen, manche Datierungsfragen noch ungeklärt sind, manche syntaktischen Vorarbeiten3 noch gänzlich fehlen und die kultu- rellen und sprachlichen Beziehungen zwischen den hier in Frage kommen- den Gebieten auch noch sehr viele Fragen offen lassen. Unser Problem betrifft vor allem das Französische, Gaskognische, Kata- 1 Wir verweisen auf unser Madrider Referat Considérations sur le parfait périphrastique vado + infinitif en catalan et gallo-roman (1965). 1 Für das Katalanische werden wir wohl bald eine erschöpfende Darstellung des Problems in der Habilitationsschrift G. Colóns besitzen, die 1959 vor- gelegt, jedoch leider bis jetzt nicht veröffentlicht wurde. Einige Ergeb- nisse konnte Colón auf dem Lissaboner Romanistenkongreß 1959 mit- teilen. Siehe Le parfait périphrastique catalan uva + infinitif«, Actes du IXe Congrès International de Linguistique Romane, Lissabon 1961, Bd. I, S. 165-176. Die 1971 als Beiheft 127 erschienene, von E. Coseriu angeregte Disser- tation Br. Schlieben-Langes, Okzitanische und katalanische Verbprobleme, ist der vorläufig letzte Beitrag, der sich u.a. auch mit dem tiado-Perfekt beschäftigt. Die sehr schöne und gut fundierte Arbeit berührt sich an manchen Punkten mit der unsrigen ; zumeist sehen wir darin unsere Auf- fassung entweder bestätigt oder ergänzt. Eine Verarbeitung der Resultate Schlieben-Langes war uns nicht mehr möglich. Der 1968 erschienene Artikel von H. MendelofF, The Catalan Periphrastic Perfect Reconsidered, RoJb XIX, S. 319-326, führt zu keinen neuen Er- gebnissen. 3 Z.B. Studien über den Zeitengebrauch im allgemeinen, über die Conse- cutio ternporum im besonderen. 3 lanische und Provenzalische, Sprachen also, die zur Westromania ge- hören. Die Ostromania, vor allem das Rumänische und Italienische, kön- nen wir für unsere Fragestellung außer acht lassen. Hier gibt es zwar die Umschreibung mit einer finiten Form von gehen + folgendem Infinitiv, beides durch eine Präposition verbunden, doch bleiben die Bedeutungen der zwei in Kontakt tretenden Verben noch sehr wohl geschieden. Ob- wohl- wir es in der Wendung »Schlafengehen« im Deutschen mit einer ziemlichen Abnutzung des ursprünglichen Sinnes von gehen zu tun haben, ist die Idee der Fortbewegung doch jedem noch bewußt. Stärker tritt sie in Erscheinung bei ich gehe kaufen oder ich gehe spielen. Ähnlich verhält es sich für das Rumänische und Italienische, wo man mä due la culcare, la cumpärare, la jucare bzw. vo a coricarmi, a comprare, a giocare sagt. Das Italienische kennt auch einen etwas weiter entwickelten Gebrauch von andare, um eine inchoative Aktionsart auszudrücken: il rumore andava a divenir grandeSeltener noch als dieser Gebrauch ist jener, den Filzi5 erwähnt: »Una combinazione poco usata è andare + a + infinito, che con valore di presente esprime molte volte il sentimento di colui che parla che l'azione non avrebbe dovuto avvenire : ven. el va a farse imbrogiar da quel furbo (si lascia ingannare); boi. a voi mo veder cmo va a finir sta bozia (come finirà il gioco) ; tose, va a perdersi in quelle faccende ; nap. Vedite chiUa a chi iette a ngannà (Giac. nap. 235), (S. Val.) S'è ghiuto a nnamurà de na fraschétta (Atrp. VT, 194); cai. (Reg.) Cu lu chiantu va tuttu a ter- minari (termina tutto) (Cpit. II, 250).« Das Spanische und Portugiesische wollen wir ebenfalls aus unseren Be- trachtungen ausklammern, obwohl hier die Umschreibungen mit ir we- sentlich geläufiger sind als im Italienischen und Rumänischen. Abge- sehen von stereotypen Verbindungen, in denen der semantische Eigen- wert von gehen recht verblaßt erscheint, z. B. in span. voy a verte »ich be- suche dich«, voy a buscarla »ich hole sie ab«, finden wir hier ir als Werkzeug zur Futurbildung8, und zwar im Spanischen ir + a + Infinitiv, im Portu- giesischen ir + Infinitiv ohne Präposition7: span. va a Mover hoy, port. vai chover ho je »es wird heute regnen«. Bis zum 13. Jahrhundert gab es auch im Spanischen den präpositionslosen Infinitiv nach den Verben der Bewegung, doch dann setzte sich a mehr und mehr durch. Die Umschreibung des abstrakten Verbalbegriffs mit einer Form von ir war auch im Altspanischen und Altportugiesischen recht verbreitet, und zwar nicht nur in den Fällen, in denen das Subjekt sich wirklich fortbe- * Vgl. Rohlfs, Hist. Gr. d. it. Spr. III, S. 21f. 6 Contributo alla sintassi dei dialetti italiani, S. 79. • Die erste Pers. PI. von ir tritt auch z.B. bei der umschriebenen Imperativ- bildung auf: vamos a cantar »laßt uns singen« gegenüber einfachem carde- mos. ' ir kann auch im Portugiesischen mit a auftreten, meistens in der Bedeu- tung »im Begriffe stehen«: la a sair da casa quando . . . 4