Strukturwandel und Fertilität Wie die höhere Berufsbildung der Frau die Geburtenrate beeinflusst. Quantitative Analysen für Deutschland im Zeitverlauf des „zweiten demographischen Übergangs“. Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades doctor philosophiae (Dr. phil.) eingereicht an der Philosophischen Fakultät III der Humboldt-Universität zu Berlin von Dipl. Soz.-wiss. Wiebke Rösler Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Jan-Hendrik Olbertz Dekan der Philosophischen Fakultät III Prof. Dr. Dr. h.c. Bernd Wegener Gutachter: 1. Prof. Dr. Hans Bertram 2.Prof. Dr. Anette Eva Fasang Tag der Disputation: 09. Oktober 2012 Danksagung Persönlicher Dank gilt allen, die es mir möglich machten, diese Arbeit zu verwirklichen. Prof. Dr. Hans Bertram danke ich besonders dafür, dass er mich stets zum Schreiben ermutigte – ohne ihn wäre diese Dissertation kaum möglich gewesen. Dank gilt auch den Teilnehmern seines Doktorandenkolloquiums für die wertvolle fachliche Unterstützung. Sophie Olbrich las den Dissertationsentwurf bereits zu einem frühen Zeitpunkt, es folgten Nora Damme, Dr. Bernd Henning und Carolin Deuflhard – ihnen allen ein großes Dankeschön an dieser Stelle. Vorläufige Ergebnisse der Arbeit wurden von der Autorin gemeinsam mit Prof. Bertram auf der Jahrestagung der deutschen Gesellschaft für Demographie 2010 in Rostock vorgestellt. Insbesondere Abbildung 27 und 28 sind hier bereits veröffentlicht: www.demographie-online.de/fileadmin/dgd/meeting2010/Roesler2.pdf (Zugriff 23. April 2012). Der obere Teil der Abbildung 2 - der langfristige Verlauf der Kohortenfertilität - wurde in dem Beitrag: Bertram, Hans/ Bujard, Martin/ Rösler, Wiebke (2011): Rushhour des Lebens: Gebur- tenaufschub, Einkommensverläufe und familienpolitische Perspektiven; In: Journal für Reproduktionsmedizin und Endokrinologie 8 (2), 91-99. veröffentlicht. Die Ergebnisse der Partitionsanalysen zum Strukturwandel und zum Rückgang der Fertilität wurden auf der Statistischen Woche in Wien im September 2012 vorgetragen, ebenso auf der 140. Sitzung des Arbeitskreis Demographie der Leibniz-Sozietät in Berlin im Mai 2012. Das positive Echo dieser Fachtagungen war sehr ermutigend. Viele Menschen haben aber auch indirekt zum Gelingen der Arbeit beigetragen. Ich danke dem Land Berlin für die Bereitstellung öffentlicher Kinderbetreuung und die Finanzierung von Ganztagsschulen und meinen Kindern dafür, dass sie ihren Kindergarten und ihre Schule lieben. Besonders möchte ich mich bei meinen Eltern für die Wochenenden bedanken, an denen sie mit meinen Kindern spielten und ich ungestört arbeiten konnte und natürlich bei meinem lieben Bernd Henning dafür, dass er seit über 14 Jahren sein Leben mit mir teilt. Nachtrag Die Autorin war wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Prof. Dr. Hans Bertram in einem For- schungsprojekt, das seit Dezember 2008 durch die Fritz-Thyssen-Stiftung finanziert wird. Unter dem Titel „Der zweite demographische Übergang: seine sozioökonomischen, kulturel- len und regionalen Ursachen. Ein Mehrebenen-Modell zur Erklärung des Geburtenrückgangs in Deutschland seit 1972“ wird der demographische Wandel in Deutschland vergleichend mit den USA erforscht. Im Rahmen des Forschungsprojektes wurden die Mikrozensus Scientific Use Files ausgewählter Erhebungswellen zwischen 1973 bis 2008 aufbereitet und abgegli- chen. Folgende Kollegen waren im Forschungsprojekt beschäftigt und an der Datenaufberei- tung beteiligt: Prof. Dr. Marina Hennig, Christian Ledig sowie Carolin Deuflhard. In der vor- liegenden Dissertation wurden diese für das Forschungsprojekt aufbereiteten Datensätze der Mikrozensen ebenfalls benutzt. Inhalts- und Abbildungsverzeichnis Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung...........................................................................................................................1 2. Problemstellung: Der deutsche Nachwuchsmangel.......................................................7 2.1. Die Angst vor der Kinderlosigkeit und der Alterung...................................................8 2.2. Die TFR, ein valides Maß der Geburtenrate? – Im Vergleich zur CFR.....................12 2.3. Die Geburtenrate nach Kinderzahl.............................................................................17 2.4. Der Aufschub von Geburten.......................................................................................22 2.4.1. Die Altersspezifischen Fruchtbarkeitsziffern......................................................26 2.4.2. Das Ende des Geburtenaufschubs? – am Beispiel aktueller Kohorten................30 2.5. Fazit und erste Interpretation der Datenlage..............................................................36 3. Theoretische Erklärungsansätze....................................................................................39 3.1. Die Stellung der Frau zwischen Beruf und Familie...................................................43 3.2. Die innerfamiliäre Arbeitsteilung und die Frauenemanzipation................................47 3.3. Der Zusammenhang zwischen Frauenerwerbstätigkeit und Fertilität........................54 3.4. Die Berufschancen der Mütter....................................................................................62 3.5. Berufliche Unsicherheiten..........................................................................................69 3.6. Der zweite demographische Übergang.......................................................................76 3.7. Die Rolle des Wohlfahrtsstaates.................................................................................82 3.8. Die Präferenzen der Frauen......................................................................................101 3.9. Kinderkosten und familienpolitische Leistungen.....................................................109 3.9.1. Familienpolitische Leistungen – Infrastruktur, Zeit- und Geldleistungen........112 3.10. Die beschränkte Wahlfreiheit.................................................................................125 4. Der makrostrukturelle Blick auf die Geburtenrate...................................................130 4.1. Die Kennzeichen des zweiten demographischen Übergangs im Zeitverlauf für Ost- und Westdeutschland..........................................................................................................130 4.2. Ein Vergleich der deutschen Bundesländer 2008.....................................................145 5. Datenlage und Methodik...............................................................................................159 5.1. Vergleich des Mikrozensus mit der Geburtenstatistik..............................................161 5.2. Bildung der Maximumgruppen................................................................................166 6. Ergebnisse......................................................................................................................169 6.1. Deskriptive Ergebnisse: Frauenemanzipation und Geburtenrate.............................170 6.1.1. Frauen in der Mitte ihres Reproduktionszyklus................................................170 6.1.2. Frauen am Ende ihres Reproduktionszyklus.....................................................180 6.1.3. Der Wandel der Familiengrößen nach Berufsbildung.......................................185 Inhalts- und Abbildungsverzeichnis 6.1.4. Alter bei Geburt nach Berufsbildung und Kinderzahl.......................................193 6.2. Müttererwerbstätigkeit im Zeitverlauf.....................................................................198 6.2.1. Die Fertilität innerhalb einzelner Berufe...........................................................205 6.3. Kontrastgruppen.......................................................................................................211 6.3.1. Kontrastgruppen Variante 1..............................................................................212 6.3.2. Kontrastgruppen Variante 2..............................................................................215 6.3.3. Kontrastgruppen Variante 3..............................................................................219 6.3.4. Fazit...................................................................................................................223 6.4. Multivariate Analysen..............................................................................................224 6.4.1. Korrelationen.....................................................................................................226 6.4.2. Regressionen.....................................................................................................230 7. Zusammenfassung der Ergebnisse und Fazit.............................................................234 8. Literaturverzeichnis......................................................................................................244 9. Anhang...........................................................................................................................255 Inhalts- und Abbildungsverzeichnis Abbildungs- und Tabellenverzeichnis (Tabellen sind fortlaufend als Abbildungen formatiert) Abbildung 1: Übersicht über im Folgenden verwendete Messziffern der Fruchtbarkeit...........8 Abbildung 2: Geburten pro Frau nach Geburtsjahr der Frau (CFR) und nach Kalenderjahr (TFR): USA, Schweden, Frankreich, Korea, DDR (neue Länder) und BRD (alte Länder), lange Reihe.......................................................................................................................14 Abbildung 3: Die Total Fertility Rate 1950 bis 2009– ausgewählte Bundesländer.................17 Abbildung 4: Kinderlosigkeit und Mehrkinderfamilie nach Kohorten im internationalen Vergleich..........................................................................................................................18 Abbildung 5: Prozent der Frauen nach Anzahl der Kinder, Kohorte 1964 bis1968................19 Abbildung 6: Parity Progression Ratios, Kohorte 1964 bis1968.............................................20 Abbildung 7: Kohorte 1964-68 nach Parität und TFR, verschiedene Szenarios einer möglichen Steigerung.......................................................................................................21 Abbildung 8: Altersspezifische Fruchtbarkeitsziffern, alte Bundesländer 1950 bis 2009, neue Länder 1990 bis 2009.......................................................................................................24 Abbildung 9: Kumulierte altersspezifische Fruchtbarkeitsziffern 1950 bis 2009, alte Bundesländer....................................................................................................................27 Abbildung 10: Kumulierte altersspezifische Fruchtbarkeitsziffern 1990 bis 2009, alte und neue Bundesländer im Vergleich......................................................................................27 Abbildung 11: Kumulierte altersspezifische Fruchtbarkeitsziffern 1996 bis 2007, Schweden, Frankreich, USA...............................................................................................................29 Abbildung 12: Der Zusammenhang zwischen TFR und HDI 1975 und 2005 im Querschnitt31 Abbildung 13: Geburtenraten der Kohorten 1964 bis 1979, alte und neue Bundesländer im Vergleich..........................................................................................................................32 Abbildung 14: Frauenerwerbstätigenquote nach Kinderzahl und Alter der jüngsten Kindes, Deutschland und Frankreich 2008....................................................................................57 Abbildung 15: Die Präferenztypen der Frauen nach Catherine Hakim..................................101 Abbildung 16: Idealtypische Wirkungsweise der Sozialpolitiken nach Präferenz................111 Abbildung 17: Eheschließungen und Ehescheidungen je 1.000 Einwohner 1950 bis 2007..133 Abbildung 18: Eheliche und uneheliche Geburten und der Anteil der unehelichen Geburten an allen Geburten 1950 bis 2008.........................................................................................134 Abbildung 19: Lebensformen im Querschnitt, Frauen 1973, 1991 und 2004, alte Bundesländer ........................................................................................................................................138 Abbildung 20: Lebensformen im Querschnitt, Frauen 1991 und 2004, neue Bundesländer.139 Inhalts- und Abbildungsverzeichnis Abbildung 21: Lebensformen im Querschnitt, Männer 1973, 1991 und 2004, alte Bundesländer..................................................................................................................140 Abbildung 22: Lebensformen im Querschnitt aus Sicht der Kinder......................................141 Abbildung 23: Zugrunde liegende Werte nach Bundesländern und Dimensionen................148 Abbildung 24: Demographische und sozioökonomische Unterschiede zwischen den Bundesländern.............................................................................................................150 Abbildung 25: Bundesländer nach Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie Gleichstellung...............................................................................................................154 Abbildung 26: Idealtypische Einflussfaktoren auf die Geburtenrate.....................................157 Abbildung 27: Die Mikrozensus Scientific Use Files 1973, 1976, 1982, 1991, 1995, 2000, 2004 und 2008 nach Kinder in der Familie pro Frau und Geburtsjahr der Frau – Vergleich Altersspezifische Fruchtbarkeitsziffern.........................................................164 Abbildung 28: Vergleich der Maximuskohorte aus den Mikrozensen mit der amtlichen Statistik, alte Bundesländer: Geburtskohorten 1933 bis 1969, neue Bundesländer: Geburtskohorten 1954 bis 1973.....................................................................................165 Abbildung 29: Frauen nach Kinderzahl und Alter der Mutter, ausgewählte Bildungsgruppen 1982, 1991, 2000 und 2008, alte Bundesländer.............................................................168 Abbildung 30: 27- bis 31-jährige Frauen nach Bildungsabschluss und kumulativer Fruchtbarkeit..................................................................................................................173 Abbildung 31: 27- bis 31-jährige Frauen: Durchschnittliche Kinderzahl nach Strukturmerkmalen.........................................................................................................176 Abbildung 32: 27- bis 31-jährige Frauen nach Strukturmerkmalen, Spaltenprozente und Fallzahlen.......................................................................................................................176 Abbildung 33: 27- bis 31-jährige Frauen, Anteil mit mindestens einem Kind in der Familie nach ausgewählten Strukturmerkmalen..........................................................................178 Abbildung 34: 27- bis 31-jährige Frauen, Anteil mit mindestens zwei Kindern in der Familie ........................................................................................................................................179 Abbildung 35: Frauen (Maximumgruppe) nach Schul- und Berufsbildung, durchschnittliche Kinderzahlen und Fallzahlen, 1982, 1991, 2000 und 2008, alte Bundesländer.............182 Abbildung 36: Frauen (Maximumgruppe): durchschnittliche Kinderzahl nach Berufsbildung und Spaltenprozente, 1982, 1991, 2000 und 2008, alte Bundesländer...........................183 Abbildung 37: Kinder pro 100 Frauen nach Ausbildungsabschluss der Mutter, 1982, 1991, 2000 und 2008, alte Bundesländer.................................................................................184 Inhalts- und Abbildungsverzeichnis Abbildung 38: Kinder nach Alter der Mutter und Geschwisterzahl, 1976 und 2008 alte Bundesländer..................................................................................................................187 Abbildung 39: Frauen nach berufsbildendem Abschluss und Anzahl der Kinder nach Parität, alte Bundesländer...........................................................................................................190 Abbildung 40: Frauen nach Berufsbildenden Abschluss und Anzahl der Kinder nach Parität, neue Bundesländer.........................................................................................................191 Abbildung 41: Alter bei Geburt des ersten und des letzten Kindes nach Berufsbildungsabschluss (Mittelwert)............................................................................194 Abbildung 42: Alter bei Geburt nach Anzahl der Kinder und Berufsbildung, alte Bundesländer..................................................................................................................197 Abbildung 43: Müttererwerbstätigkeit nach Alter des jüngsten Kindes: Frauen ohne Berufsbildung 1976-2008...............................................................................................200 Abbildung 44: Müttererwerbstätigkeit nach Alter des jüngsten Kindes: Frauen mit Berufsbildung 1976-2008...............................................................................................201 Abbildung 45: Müttererwerbstätigkeit nach Alter des jüngsten Kindes: Frauen mit Hochschulabschluss 1976-2008.....................................................................................202 Abbildung 46: Umfang der Erwerbstätigkeit der Frau nach Berufsbildung und Alter des jüngsten Kindes, alte Bundesländer 1976 und 2008......................................................204 Abbildung 47: Frauen nach Beruf und Parität der Kinder 1982 und 2004 alte Bundesländer ........................................................................................................................................206 Abbildung 48: Streuung der Berufe nach Kinderlosigkeit und Kinderzahl 2008, Vergleich alte/ neue Bundesländer mit Schweden..........................................................................207 Abbildung 49: Mittelwerte der Cluster in den betrachteten Merkmalen................................210 Abbildung 50: 1982 best Fit Modell alte Bundesländer, r2: .12............................................213 Abbildung 51: 2008 das gleiche Modell alte Bundesländer, r2: .25.......................................213 Abbildung 52: Kontrastgruppenanalyse drei Splits, Familienstand und Lebensunterhalt, Spaltenprozente und Mittelwerte Kinder in der Familie 1982 und 2008 alte Bundesländer ........................................................................................................................................215 Abbildung 53: Best-Fit-Partition alte Bundesländer 2008, r2: .29.........................................217 Abbildung 54: das gleiche Modell alte Bundesländer 1991, r2: .18.......................................217 Abbildung 55: das gleiche Modell alte Bundesländer 1982, r2: .13.......................................217 Abbildung 56: Kontrastgruppenanalyse drei Splits, Familienstand und Arbeitszeit, Spaltenprozente und Mittelwerte Kinder in der Familie 1982 , 1991 und 2008, alte Bundesländer..................................................................................................................218 Inhalts- und Abbildungsverzeichnis Abbildung 57: Kontrastgruppenanalyse mit Berufsbildung, Familienstand, Arbeitszeit und Lebensunterhalt, Spaltenprozente und Mittelwerte Kinder in der Familie 1982 , 1991 und 2008, alte Bundesländer.................................................................................................222 Abbildung 58: Korrelationsmodell Berufsbildung, Arbeitszeit, Familienstand, Kinderzahl.227 Abbildung 59: Korrelationsmodell Berufsbildung, Einkommen, Kinderzahl........................229 Abbildung 60: Regressionsmodell zur Erklärung der durchschnittlichen Kinderzahl in der Familie............................................................................................................................233 Abbildung 61: Bundesländerindex der vier Dimensionen: Z-Werte......................................255 Abbildung 62: 27- bis 31-Jährige Frauen im Mikrozensus nach Strukturmerkmalen, Fallzahlen.......................................................................................................................257 Abbildung 63: Auswahl der Maximumgruppen - Frauen nach Alter, Schulbildungsabschluss, durchschnittliche Kinderzahl in der Familie und Fallzahl, alte Bundesländer...............258 Abbildung 64: Auswahl der Maximumgruppen - Frauen nach Alter, Berufsbildungsabschluss, durchschnittlicher Kinderzahl in der Familie und Fallzahlen, alte Bundesländer..........262 Abbildung 65: Auswahl der Maximumgruppen - Frauen nach Alter, Berufsbildungsabschluss, durchschnittlicher Kinderzahl in der Familie und Fallzahlen, neue Bundesländer........266 Abbildung 66: Kontrastgruppen Modell mit Berufsbildung 2008: r2:.30, alte Bundesländer270 Abbildung 67: das gleiche Modell 1991 alte Bundesländer, r2: .20.......................................271 Abbildung 68: Das gleiche Modell 1982, alte Bundesländer, r2: .13.....................................272 Abbildung 69: Konstrastgruppen neue Bundesländer 1991, r2: . 08......................................273 Abbildung 70: Kontrastgruppen neue Bundesländer 2008, r2: .12.........................................273 Abbildung 71: Kontrastgruppen mit Berufsbildung neue Bundesländer 2008, r2: .12..........274 Einleitung 1. Einleitung „Noch nie wurden so wenig Kinder in Deutschland geboren wie im vergangenen Jahr: Wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden mitteilte, kamen 2009 etwa 665.000 Kinder zur Welt, 17.000 weniger als im Vorjahr. Die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau sank auf 1,36. Im Osten blieb die Zahl mit 1,40 konstant“ (FAZ 16.11.2010). Auf die Bereitstellung der Daten zu der Geburtenentwicklung 2009 musste Deutschland bis November 2010 waren. Die Zeit schlussfolgert: „Der Kinderschwund macht sprachlos. Die Statistik zur Geburtenrate kam vier Monate später als sonst. Und die Familienministerin schweigt über das Thema. Die Politik kapituliert vor der Demographie“ (17.11.2010, Die Zeit online). Dabei hat Deutschland mit durchschnittlich 1,37 Kindern pro Frau seit 40 Jahren eine der niedrigsten Geburtenraten der Welt. Dass sich diese lang anhaltende niedrige Geburtenra- te nun auch in geringen absoluten Kinderzahlen wieder spiegelt, dürfte doch deshalb nieman- den sprachlos machen. Die Geburtenzahlen fielen in Deutschland bereits in den 70-er Jahren unter die Grenze von 2,1 Kinder pro Frau, die dem Bestandserhaltungsniveau entspricht. An- ders als in anderen europäischen Ländern hat sich die deutsche Geburtenrate seither niemals erholt, sondern stagniert auf diesem vergleichsweise niedrigen Niveau. Entsprechend ist heute die Zahl der potenziellen Mütter viel kleiner als noch vor 40 Jahren, die Zahl der absoluten Geburten muss zwangsläufig sinken. In der jüngeren Vergangenheit wird dieser Sachverhalt zunehmend auch politisch diskutiert, insbesondere wegen seiner negativen Folgen für die so- zialen Sicherungssysteme und die wirtschaftliche Entwicklung. Im Vordergrund der Diskus- sion steht aktuell eine große Hilflosigkeit der Politik. Die Zeit diagnostiziert „familienpoliti- sche Ernüchterung, die mittlerweile die Bundestagsparteien erfasst hat. Mehr Geburten, so der neue Konsens, sind durch die Instrumente der Politik doch nicht zu erreichen“ (Die Zeit onli- ne 17.11.2010). Fraglich ist dann aber, warum in anderen Ländern wie Frankreich oder den USA durchschnitt- lich zwei Kinder pro Frau geboren werden. Mögliche Erklärungsansätze sind äußerst vielfäl- tig und werden in den verschiedensten Disziplinen diskutiert. In der demographischen Debatte genießt insbesondere die Theorie des demographischen Übergangs besondere Aufmerksam- keit. Laut der Theorie des „Zweiten demographischen Übergangs“ fielen in den 80-er Jahren in einer ganzen Reihe europäischer Staaten die Geburtenraten unter zwei Kinder pro Frau, weil sich die Werte der Individuen veränderten. Der Wertewandel hin zu Selbstverwirkli- chung und Individualismus verursacht veränderte Familienmuster – spätere Heiraten, mehr nichteheliche Lebensgemeinschaften, mehr Scheidungen – und diese seien die Ursache für 1
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