Rainer H. Kluwe (Hrsg.) Strukturen und Prozesse intelligenter Systeme Studien zur Kognitionswissenschaft Herausgegeben von Christopher Hobel und Gert Rickheit In der Reihe Studien zur Kognitionswissenschaft werden Arbeiten veröffentlicht, die die Forschung in die sem Bereich theoretisch und empirisch vorantreiben. Dabei gibt es grundsätzlich keine Beschränkung in der Wahl des theoretischen Ansatzes oder der empirischen bzw. simulativen Methoden. I n der Kogn itionswissenschaft werden Prozesse der visu ellen und auditiven Wahrnehmung, der Problemlösung, der Handlungsplanung und Handlungsdurchführung sowie die Mechanismen der Sprachbeherrschung the matisiert, und zwar im Hinblick auf Menschen und Ma schinen. Entsprechend werden Struktur, Dynamik und Genese kognitiver (menschlicher und maschineller) Sy steme untersucht, wobei Aspekte der Repräsentation, der Produktion und der Rezeption beachtet werden. Es sollen Arbeiten in dieser Reihe erscheinen, die die men talen Leistungen und die Prozesse, die sie hervorbrin gen, unter der Perspektive der Informationsverarbeitung untersuchen und sie als Berechnungsvorgänge bzw. deren Resultate verstehen. Rainer H. Kluwe (Hr5g.) Strukturen und Prozesse intelligenter Systeme r[)fll.\n DeutscherUniversitätsVerlag ~ GABLER 'VIEWEG ·WESTDEUTSCHER VERLAG Die Deutsche Bibliothek - ClP-Einheitsaufnahme Strukturen und Prozesse intelligenter Systeme / Rainer H. Kluwe (Hrsg.)-Wiesbaden: Dt. Univ.-Verl., 1997 (DUV : Kognitionswissenschah) (Studien zur Kognitionswissenschaft) ISBN 978-3-8244-4229-4 Der Deutsche Universitäts-Verlag ist ein Unternehmen der Bertelsmann Fachinformation. © Deutscher Universitäts-Verlag GmbH, Wiesbaden 1997 Lektorat: Cloudia Splittgerber Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzu- 19ssi9 und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. ISBN 978-3-8244-4229-4 ISBN 978-3-322-95358-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-95358-2 Vorwort Die Beiträge zu diesem Band sind aus Vorträgen hervorgegangen, die anläß lieh der 2. Fachtagung der Gesellschaft für Kognitionswissenschaft vom 13.- 16. März 1996 an der Universität Hamburg gehalten wurden. Die Organisato ren der Tagung waren Rainer H. Kluwe und Mark May. Mitglieder des Programmkomitees (Gisbert Fanselow, Gerd Graßhoff, Rainer H. Kluwe, Gerald Sommer, Dirk Vorberg) sowie Mitglieder des Vor stands der Gesellschaft (Gert Rickheit, Christopher Habei) besorgten die Auswahl der hier veröffentlichten Arbeiten. Sie stellen wesentlich erweiterte und ausgearbeitete Fassungen der gehaltenen Vorträge dar. Erstmals legt damit die Gesellschaft für Kognitionswissenschaft einen Tagungsband vor. Künftig soll dieser regelmäßig im Anschluß an die Fachtagungen der Gesell schaft publiziert werden. Die hier veröffentlichten Arbeiten reflektieren das breite Spektrum an wissenschaftlichen Beiträgen zu dieser interdisziplinär angelegten Tagung. Gegenstand kognitionswissenschaftlicher Forschung sind die Leistungen in telligenter Systeme. Das Ziel ist die Analyse der Strukturen und Prozesse, die den Leistungen intelligenter Systeme zugrundeliegen, wobei dies nicht auf menschliche Leistungen beschränkt sein muß. Sie bilden jedoch den Schwer punkt der vorgelegten Untersuchungen, die aus der Informatik, Linguistik, Neuroinformatik, Philosophie und der Psychologie stammen: Prozesse der Repräsentation von Raum (May, Wartenberg und Perueh), Prozesse der Ver arbeitung räumlicher Information (Heil, Bajric, Rösler und Hennighausen), Repräsentation von Zeit in begrifflichen Strukturen (van der Meer und Kol be), Prozesse der Sprachproduktion und Sprechplanung (Pomplun, Rieser, Ritter und Velichkovsky; Rummer), Prozesse der Wissensvermittlung durch intelligente Systeme (van Mulken), Wissensstrukturen für räumliche Sachver halte (Engehausen, Pribbenow und Töter), Prozesse des Problemlösens, des Lernens und Schließens (Plötzner und van Lehn; Starker & Dörner; Schmid und Wysotzki; Krems, Johnson und Kliegl), Intention und Handeln (Gerjets & Westermann, Starker & Dörner). Die methodischen Zugänge sind dabei vielfältig: Sie umfassen experimentelle Analysen, theoretische Analysen und Computermodellierung. 1990 wurde an der Universität Hamburg durch die Deutsche Forschungs gemeinschaft das erste Graduiertenkolleg "Kognitionswissenschaft" einge richtet. Dies war ein wichtiger Schritt für die Entwicklung einer Disziplin in Deutschland, die im angloamerikanischen Bereich längst als Cognitive Science etabliert war. Mit der Gründung der Gesellschaft für Kognitionswis senschaft wurde ein institutioneller Rahmen geschaffen; das Publikationsor gan der Gesellschaft ('Zeitschrift für Kognitionswissenschaft') und die Fach- VI Vorwort tagungen der Gesellschaft sollen die Fortentwicklung kognitionswissen schaftlicher Forschung in Deutschland unterstützen. Der erste Tagungsband ist hierzu ein Beitrag. Zur Fertigstellung des Bandes haben ganz wesentlich drei Frauen beigetra gen: Kathrin Kluwe, Kirsten Neumann und Heidemarie Lohmann. Ihnen dan ke ich ganz herzlich. Rainer H. Kluwe Inhaltsverzeichnis Vorwort V Martin Heil, Jasmin Bajrie, Frank Rösler & Erwin Hennighausen Mentale Rotation und Rotationsnacheffekt: Nachweis des kontinuierlichen Bewegungscharakters mentaler Rotation Mark May, Fredrik Wartenberg & Patriek Perueh Raumorientierung in virtuellen Umgebungen 15 RalfRummer Verarbeitungsbeschränkungen bei der Sprachproduktion: Ein experimenteller Ansatz zur Erforschung sprachlicher Makropla- nungsprozesse 41 Mare Pomplun, Hannes Rieser, Helge Ritter & Boris M. Veliehkovsky Augenbewegungen als kognitionswissenschaftlicher Forschungsgegen- stand 65 Elke van der Meer & Matthias Kolbe Zur Kodierung von Zeitbezügen in begrifflichen Wissensstrukturen 107 Susanne van Mulken Inferenzen über die Verständlichkeit einer Präsentation: Benutzer- modelIierung für Multimedia-Dialogsysteme 133 Anne Engehausen, Simone Pribbenow & UlfTöter Taxonomie und Partonomien 157 Rolf Plötzner & Kurt VanLehn Direkt und indirekt vermittelte Transferleistungen beim Erwerb konzeptuellen Wissens in der Physik 179 Ute Sehmid & Fritz Wysotzki Induktion von Rekursiven Programmschemata und Analoges Lernen 197 Jose! Krems, Todd Johnson & Reinhold Kliegl Kognitive Komplexität und abduktives Schließen: Evaluation eines Computermodells 215 VIII Inhaltsverzeichnis Ulrike Starker & Dietrich Dörner Kognitive, emotionale und motivationale Determinanten des Handeins und die Prognose ihrer Wirksamkeit 233 Peter Gerjets & Rainer Westermann Theorien der kognitiven Psychologie und das Problem der Intentionalität 255 Autoren 281 Personenindex 287 Sachindex 297 Mentale Rotation und Rotationsnacheffekt: Nachweis des kontinuierlichen Bewegungscharakters mentaler Rotation * Martin Heil, Jasmin Bajric, Frank Rösler & Erwin Hennighausen Präsentiert man Probanden Buchstaben in unterschiedlichen Orientierungen und läßt sie entscheiden, ob es sich unabhängig von der Orientierung um einen normalen oder einen spiegelbildlichen Buchstaben handelt, so dauert diese Entscheidung umso länger, je mehr der Buchstabe von seiner aufrechten Position abweicht (Cooper & Shepard, 1973). Aufgrund dieses Befundes wurde angenommen, daß die Repräsentation des Buchstabens zuerst mental in die aufrechte Position gedreht wird, bevor die Spiegelentscheidung getroffen werden kann. Trotz etlicher kritischer Einwände (siehe z.B. Intons-Peterson, 1983; Pylyshyn, 1981; eine gute Übersicht gibt Tye, 1991) hat sich aber all gemein eine Betrachtung dieser kognitiven Leistung durchgesetzt, die davon ausgeht, daß es sich um einen "analogen" Prozeß handelt, der kontinuierlich abläuft. D.h., die vorgestellte Rotation einer Objektrepräsentation vollzieht sich isomorph (strukturerhaltend) einer physikalischen Drehung eines realen Objektes. Diese Ansicht wird sehr explizit von Finke (1989, S. 93) vertreten: "Imagined transformations and physical transformations exhibit corre sponding dynamic characteristics and are governed by the same laws of moti on." Den stärksten experimentellen Befund für diese Annahme stellt die Arbeit von Cooper (1976) dar. Sie konnte zeigen, daß die mentale Rotation einer Repräsentation um z.B. 60 Grad die Zwischenposition von 30 Grad "durchläuft". Dieser Befund spricht zwar für einen kontinuierlichen Charakter der mentalen Rotation, belegt aber letztendlich lediglich die Existenz von Zwischenpositionen, nicht aber den eigentlichen Bewegungsaspekt dieses kognitiven Prozesses. Die Untersuchung wurde mit der Sachbeihilfe Ro 529 der Deutschen Forschungsgemein schaft gefördert. Wir danken T. H. Carr, M. C. Corballis, H. Heuer, T. Sanocki und M. Tarr für hilfreiche Kommentare und Diskussionbeiträge. Das vorliegende Manuskript ist eine Kurzfassung von Heil et al. (in press). Daher liegen die Urheberrechte bei der American Psychological Association. 2 Martin Heil, Jasmin Bajric, Frank Rösler & Erwin Henninghausen Corballis und McLaren (1982) untersuchten das Postulat Finke's (1989), indem sie das Paradigma der mentalen Rotation mit dem sogenannten Rotati onsnacheffekt kombinierten. Betrachtet eine Versuchsperson für mehrere Sekunden eine sich mit einer konstanten Geschwindigkeit drehende, texturier te Scheibe, so scheint sich ein sodann dargebotener Buchstabe in die der Drehrichtung der Scheibe entgegengesetzte Richtung zu drehen, paradoxer weise aber, ohne daß der Buchstabe seine Position verändert (d.h., es entsteht eine reine Bewegungsinduktion, siehe Diskussion). Corballis und McLaren (1982) erzeugten nun diesen Bewegungsnachef fekt jeweils vor der Darbietung von in 60-Grad-Vielfachen rotierten Buchsta ben, die als Normal- oder Spiegelbildversionen zu klassifizieren waren.] Die Reaktionszeit-Winkelfunktionen verschoben sich in Abhängigkeit der Dreh richtung des Nacheffekts. Wirkte der Nacheffekt im Uhrzeigersinn, so fand sich das Maximum der Reaktionszeitfunktion eher bei 120 Grad, wirkte er gegen den Uhrzeigersinn, so fand sich das Maximum eher bei 240 Grad. Die Richtung des Nacheffekts beeinflußte also den Prozeß der mentalen Rotation. Dieses Ergebnis könnte für zwei theoretische Annahmen einen überzeu genden Beleg darstellen: Zum einen für den Bewegungscharakter der menta len Rotation (Finke, 1989), zum anderen für die Hypothese, daß visuelle Wahrnehmung und visuelle Vorstellung zumindest teilweise mittels derselben Verarbeitungsmodule durchgeführt werden (Kosslyn, 1991). Andererseits existieren aber auch Erklärungsmöglichkeiten der gefunde nen Interaktion, die ohne die Annahme eines direkten Bewegungscharakters der mentaler Rotation auskommen. Corballis und McLaren (1982) haben drei Hypothesen zur Erklärung der Wechselwirkung aufgestellt, ohne aber zwi schen diesen entscheiden zu können: Die periphere Hypothese, die analoge Bewegungshypothese sowie die strategische Hypothese (siehe Abbildung 1). Die periphere Hypothese besagt, daß der Buchstabe als um einige Grad in der Drehrichtung des Nacheffekts gekippt wahrgenommen wird, auch wenn dies von den Probanden bestritten wird. Dadurch würde sich natürlich die Reaktionszeitfunktion entsprechend um einige Grad gegen die Richtung des Nacheffekts verschieben. Die periphere Hypothese nimmt also an, daß durch den Rotationsnacheffekt die Eingangsrepräsentation des Systems verändert wird. Es wird keine Interaktion zwischen wahrgenommener und vorgestellter Bewegung postuliert, sondern lediglich eine statische Veränderung des Per zepts bei unveränderten Eigenschaften der Verarbeitungsmodule. ] Corballis und McLaren (1982) haben zusätzlich die Geschwindigkeit der rotierenden Scheibe (25 vs 60 Umdrehungen pro Minute) sowie die Darbietungsdauer des Buchstabens (90 versus 2000 msek) variiert. Die Geschwindigkeitsmanipulation hatte keinen Effekt. Die Interaktion zwischen mentaler Rotation und der Richtung des Nacheffekts trat aber bei einer Darbie tungsdauer von 2 Sekunden deutlicher auf.