Strukturelle Angstlustvermittlung unter besonderer Berücksichtigung literarischer Gewaltdarstellungen Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie in der Fakultät für Philologie der RUHR-UNIVERITÄT BOCHUM Vorgelegt von: Martin Mirbach Königsgruber Str. 20 44651 Herne Gedruckt mit freundlicher Genehmigung der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum Referent: Prof. Dr. Ingeborg Weber Korreferent: Prof. Dr. Manfred Beyer Tag der mündlichen Prüfung: 09.11.2007 INHALT INHALTSVERZEICHNIS I.) EINLEITUNG 5 I.1.) Gegenstand und Zielsetzung 7 I.2.) Vorgehensweise und Literaturauswahl 7 II.) DIAGNOSE ANGST:EIN (cid:128)BERBLICK 11 II.1.) Angst in Medizin und Psychologie 12 II.1.a.) Angeboren oder erworben: Wie Angst entsteht 15 II.2.) Die Lust an der Angst 20 II.3.) Die literarische Angst 23 II.4.) Angst vor Gewalt? 29 III.) MECHANISMEN DER VEREINNAHMUNG 32 III.1.) Spannung und Suspense 32 III.2.) Voraussetzungen der Spannungsvermittlung 38 III.2.a.) Sympathielenkung und Identifikation 39 III.2.b.) Informationsvergabe 42 III.3.) Spannung durch Gewalt? 43 IV.) MEDIEN UND GEWALT 46 IV.1.) Definitionen der Gewalt 47 IV.2.) Organisiert, inszeniert, (cid:130)sthetisiert. Zur Faszination der Gewalt 49 IV.2.a.) Funktionalisierte Realit(cid:130)t: Spektakel der Gewalt 50 IV.2.b.) Aus der Distanz betrachtet: Literarische Gewalt 54 IV.2.c.) Ein Sonderfall: Gewalt in Film und Fernsehen 60 IV.3.) Ursache und Wirkung: Angstlust durch Gewalt? 63 IV.4.) Angstlustvermittlung im Modell 65 INHALT V.) BEISPIELE DER ANGSTLUSTVERMITTLUNG 67 V.1.) Zur Erz(cid:130)hlsituation als Angstlustbasis 68 V.1.a.) Modus: Erz(cid:130)hler und Leser 68 V.1.b.) Person: Erz(cid:130)hler und Romanfiguren 70 V.1.c.) Perspektive: Erz(cid:130)hler und Geschehen 71 V.2.) Dracula: Angstlustvermittlung in Suspensesituationen 74 V.2.a.)Harkers Bedrohung im Schloss 74 V.2.b.) Minas n(cid:130)chtliche Suche nach Lucy 81 V.2.c.)Die Erl(cid:129)sung des Grafen 88 V.3.) The War of the Worlds: Angstlustvermittlung in Suspensesituationen 95 V.3.a.) Erstkontakt 95 V.3.b.) Das letzte Aufgebot der Milit(cid:130)rs 102 V.3.c.) Eingeschlossen im verlassenen Haus 109 V.4.) The Maltese Falcon Angstlustvermittlung in Suspensesituationen 116 V.4.a.) Spades Bedrohung durch Joel Cairo 116 V.4.b) Wilmers Entwaffung 123 V.4.c.) Wilmers Opferung als „fall-guy“ 130 V.5.) Zusammenfassung der Ergebnisse 137 VI.) EXKURS:INTERAKTIVIT(cid:129)T –ANGSTLUST DER ZUKUNFT? 139 VI.1.) Einleitung 139 VI.2.) Der interaktive Spielfilm 140 VI.3.) Das Angstlustpotential des interaktiven Spielfilms 148 VI.4.) Fazit: Vom Rezipienten zum Akteur? 150 INHALT VII.) SCHLUSSBEMERKUNGEN 153 VII.1.) Angstlust als Prozess 153 VII.2.) Angst und Gewalt 154 VII.3.) Vom fehlenden Finale 156 VIII.) ANMERKUNGEN 158 IX.) LITERATURVERZEICHNIS 188 EINLEITUNG 5 I.EINLEITUNG QUID ENIM EST, QUOD CONTRA VIM SINEVI FIERI POSSIT? Cicero Wie funktioniert eigentlich Angstlust? Welche Strukturen braucht ein literarisches Gebilde, um Angst zu erzeugen und in dieser schlie(cid:133)lich sogar eine lustvolle Komponente zu entwickeln? Welche Inhalte lassen sich in solchen Strukturen vorzugsweise erkennen? Wie werden sie eingesetzt? Und wie findet Angstlust ihren Weg ins Bewusstsein des Rezipienten? Zahlreiche Untersuchungen haben sich in den letzten Jahrzehnten mit dem Ph(cid:130)nomen „Angstlust“ besch(cid:130)ftigt, ohne diese Fragen ersch(cid:129)pfend zu kl(cid:130)ren. Geforscht wurde fast ausnahmslos nach dem „Was?“ und dem „Warum?“ – wobei die Frage nach dem „Wie?“, wenn (cid:128)berhaupt, nur ganz am Rande aufgeworfen wurde. Allzu faszinierend schien den Suchenden offenbar die Frage, warum sich der Rezipient bereitwillig mit literarischen Darstellungen und Schilderungen konfrontieren l(cid:130)sst, die er in seiner Alltagsumgebung als Angstsituation meiden w(cid:128)rde. Denn seit jeher bezieht Literatur einen Gro(cid:133)teil ihrer Anziehungskraft aus der Faszination des Schrecklichen, des B(cid:129)sen, der Gewalt. „Die literarische Erfolgsgeschichte des Buches der B(cid:128)cher, der Bibel, ist ohne die Reize der Grausamkeit kaum denkbar“1, meint Anz und erkennt damit im gleichen Atemzug die Faszination der Gewalt in ihren unterschiedlichsten Darstellungsformen an. Tats(cid:130)chlich zieht sich eine wie auch immer geartete Aufarbeitung von Gewalt gleich einem roten Faden durch alle Epochen und Kulturen. Und auch wenn eine Darstellung der Gewalt schon immer eine bestimmte Wirkung bei ihren Rezipienten erreichen sollte, galt deren Faszination am Schrecklichen wiederum als ebenso mystisch wie selbstverst(cid:130)ndlich. So wundert es also nicht, dass sich wissenschaftliche Untersuchungen medialer Gewalt in aller Regel mit m(cid:129)glichen Auswirkungen auf Sein und Handeln des Rezipienten befassen. Mit der Verbreitung des Fernsehens in den 50er und 60er Jahren kam EINLEITUNG 6 es zu einem regelrechten Boom solcher Studien, allein im deutschen und angels(cid:130)chsischen Bereich wurden bis Anfang der 90er Jahren mehr als 5.000 B(cid:128)cher und Artikel zur Mediengewalt publiziert.2 Viele davon waren aus der ein oder anderen Richtung gesellschaftspolitisch motiviert, was oft klare, wenn auch zum Teil sehr differenzierte Ergebnisse zur Folge hatte. Gemein ist vielen Untersuchungen zudem, eine Rechtfertigung expliziter Gewaltdarstellungen in Wort und Bild durch das Hervorheben des vermeintlich Sch(cid:129)nen zu versuchen, das sich hinter dem Schrecklichen verbirgt. Unbeantwortet blieb jedoch die Frage, worin denn eigentlich die lustvolle Komponente eines literarischen Gewalterlebens besteht. Erkl(cid:130)rungsversuche der wissenschaftlichen Literatur reichen von intellektuell-abgekl(cid:130)rten bis zu rein emotional besetzten Theorien. Da ist am einen Ende der Skala die Rede von einem Niederschlag gesellschaftlicher Gewaltverh(cid:130)ltnisse in der Literatur und deren reflektorisch-relativierender Aufarbeitungsfunktion3, w(cid:130)hrend am anderen Ende ein „urspr(cid:129)ngliches Gefallen an Leiden und Grausamkeit, am Furchtbaren und Schrecklichen“4 vermutet wird, das bis zur Infizierung des Lesers mit „der sadistischen Befriedigung und der Lust des T(cid:131)ters“5 reicht. Als Richard Alewyn seine Thesen zur literarischen Angst 1964 auf einem von Hoimar von Ditfurth veranstalteten Symposium vortrug, an dem fast ausnahmslos (cid:135)rzte und Naturwissenschaftler teilnahmen, (cid:130)u(cid:133)erte er die nicht ganz ernst gemeinte Bef(cid:128)rchtung, von diesen „lebendig zerrissen zu werden“.6 Und gerade angesichts seiner Behauptung, das Aufkommen der literarischen Angst sei „ein Indiz daf(cid:128)r, da(cid:129) sich die Angst aus dem Leben zu verfl(cid:128)chtigen beginnt“7, erscheint diese Bef(cid:128)rchtung durchaus gerechtfertigt. Auch wenn Alewyn den Kernsatz seines Vortrags durch die Erl(cid:130)uterungen erg(cid:130)nzte, dass die literarische Angst dem Bed(cid:128)rfnis entspr(cid:130)che, „die erfahrene Wirklichkeit von Autor oder Leser [...] zu ersetzen“8 und dass die literarische Angst und die im Leben erfahrene Angst „nicht nur nicht das gleiche“, sondern auch „nicht gleichzeitig“9 seien, bleibt der Raum f(cid:128)r Missverst(cid:130)ndnisse zu gro(cid:133). Zum einen lassen sich heute, mehr als 40 Jahre nach Alewyns ber(cid:128)hmt EINLEITUNG 7 gewordenem Vortrag, viele seiner Thesen gerade mit den Methoden seiner damaligen Zuh(cid:129)rer, den (cid:135)rzten und Naturwissenschaftlern, wesentlich differenzierter untersuchen. Zum anderen steht zu vermuten, dass die Ergebnisse einer solchen Untersuchung insbesondere bei der Frage nach dem „Wie?“, also den konkreten Mechanismen bei der (cid:136)bertragung literarischer Angstlust in das Bewusstsein des Rezipienten, (cid:130)hnlich differenzierte R(cid:128)ckschl(cid:128)sse zulassen. I.1.) Gegenstand und Zielsetzung Es soll nicht das Ziel dieser Arbeit sein, die mitunter nicht leicht nachvollziehbaren, an einigen Stellen abstrakt wirkenden Forschungsans(cid:130)tze zur Erkl(cid:130)rung des Ph(cid:130)nomens literarischer Gewalt weiter zu verfolgen. Auch sollen die vielf(cid:130)ltigen Ans(cid:130)tze der Medienwirkungsforschung, die sich nach wie vor in Katharsis-, Mimesis- und Indifferenztheorien kategorisieren lassen, hier nicht ein weiteres Mal besprochen werden. Vielmehr geht es darum, die Faszination des Dargestellten selbst in den Mittelpunkt der Untersuchung zu r(cid:128)cken und die Frage zu kl(cid:130)ren, worin genau diese Faszination besteht und wie sie sich literarisch und erz(cid:130)hltechnisch vermitteln l(cid:130)sst. Wenn sich tats(cid:130)chlich eine Kombination der „Lust am Schrecklichen mit [...] der Lust an der Spannung“10 voraussetzen l(cid:130)sst, wenn Spannung in ihrer gr(cid:129)(cid:133)tm(cid:129)glichen Intensit(cid:130)t tats(cid:130)chlich im Thrill kulminiert, und wenn der Thrill tats(cid:130)chlich als Synonym f(cid:128)r das lustvolle Erleben literarischer Angst steht, dann muss sich auch nachweisen lassen, ob und in welcher Form sich die Faktoren Spannung, Angst und Gewalt erz(cid:130)hltechnisch verweben lassen, um die gebannte Aufmerksamkeit des Lesers zu erzielen. I.2.) Vorgehensweise und Literaturauswahl Herausgearbeitet werden soll diese prozesshafte Verwebung in einem theoretischen Teil, der die Einzelfaktoren Angst, Spannungsvermittlung und literarische Gewalt in einem ersten Schritt getrennt voneinander untersucht, um EINLEITUNG 8 sie anschlie(cid:133)end in einem graphischen Modell nachvollziehbar zusammenzuf(cid:128)hren. Eine solche Zielsetzung erfordert zun(cid:130)chst die Begriffsbestimmung des medizinisch-psychologischen Ph(cid:130)nomens der Angst und damit einen Blick (cid:128)ber den Tellerrand der Geisteswissenschaften hinaus: Wer nach Funktionen des Schauers als einer auf bestimmte Weise literarisch erzeugten Angst fragt, sollte zun(cid:130)chst wissen, was Angst (cid:128)berhaupt ist, wie sie entsteht und welche Funktionen sie hat. Dar(cid:128)ber hinaus erwartet er von der Psychologie Auskunft (cid:128)ber den nicht- spontanen, spielerischen Umgang mit Angst, unter den auch die Rezeption von Schauerliteratur f(cid:130)llt. Von der Sozialpsychologie erhofft er sich Einsichten dar(cid:128)ber, ob bzw. wie (cid:131)ngste gesellschaftlich vermittelt werden. Erst aufgrund dieser Voraussetzungen k(cid:132)nnte der Literaturwissenschaftler in seinem Arbeitsgebiet zu gesicherten Ergebnissen kommen. 11 Leider wurde dieser Ansatz in keiner bisher vorliegenden Untersuchung konsequent verfolgt, Versuche einer Angstdefinition beschr(cid:130)nken sich in aller Regel auf anthropologische, philosophische oder sozialwissenschaftliche Ans(cid:130)tze. Medizinisch-psychologische Aspekte werden dagegen, wenn (cid:128)berhaupt, nur (cid:130)u(cid:133)erst oberfl(cid:130)chlich betrachtet. Bezeichnenderweise verzichtete sogar Wolfgang Trautwein, der Verfasser eben zitierter und von ihm selbst als essentiell empfundenen Forderung, in der eigenen Untersuchung auf deren Verfolgung. Zu umfassend, zu uneins, zu experimentell und zu spekulativ erschien ihm der damalige Forschungsstand, als dass er „den Funktionen des Schauers eine allgemein verbindliche Angsttheorie“ 12 zugrunde legen k(cid:129)nnte. Heute, ein gutes Vierteljahrhundert nach Trautweins Untersuchung, scheint die medizinisch-psychologische Angstforschung dagegen weit genug gediehen, um auch dem fachfremden Geisteswissenschaftler exakt dieses Vorgehen zu gestatten. Nach einer darauf folgenden Untersuchung der Spannungsvermittlung und einer Betrachtung literarischer Gewalt in ihrem historischen Kontext sollen die Erkenntnisse des theoretischen Teils an praktischen Beispielen durchlaufen und (cid:128)berpr(cid:128)ft werden. Da der Umfang der vorliegenden Arbeit ein anderes Vorgehen nicht zulie(cid:133)e, soll dies exemplarisch und komprimiert an ausgew(cid:130)hlten Beispielen geschehen, deren Auswahl allerdings nicht zuf(cid:130)llig EINLEITUNG 9 getroffen wurde. Drei Voraussetzungen waren von den ausgew(cid:130)hlten Werken zu erf(cid:128)llen: Die Zugeh(cid:129)rigkeit zu unterschiedlichen Genres, um eine oft praktizierte Reduzierung szenischer Gewalt und literarischer Angst auf Bereiche der Horror- bzw. Schauerliteratur zu widerlegen. Zwischen der Erstver(cid:129)ffentlichung der besprochenen Werke sollte eine hinreichende Zeitspanne liegen, um die historische Begrenzung anderer Untersuchungen aufzuheben.13 Es sollte zumindest eine greifbare Verfilmung des jeweiligen Werkes vorliegen, um m(cid:129)gliche intermediale Unterschiede oder Gemeinsamkeiten anhand des vorliegenden Spannungsmodells zu dokumentieren. Um diesen Kriterien gerecht zu werden, wurde als Beispiel f(cid:128)r das Horrorgenre Dracula14 nicht zuletzt deshalb gew(cid:130)hlt, weil Stokers Roman, der immerhin 60 Jahre nach Charles Maturins Melmoth the Wanderer15 erschien, gern als „letzter gotischer Roman“ 16 bezeichnet wird und darin zudem „(cid:128)bertragene (cid:131)ngste eingesetzt“ werden, „um (cid:128)ber den ganzen Roman hinweg eine Atmosph(cid:130)re des Schreckens aufzubauen.“17 Als „bedeutungsvoller […] Roman“18 f(cid:128)r die Science-Fiction, der einen ganzen „Reigen der zahllosen Werke vom Krieg im Universum er(cid:132)ffnet“19, soll H.G. Wells The War of the Worlds20Ber(cid:128)cksichtung finden, denn schlie(cid:133)lich sind „die bevorzugten Themenbereiche“ der Science- Fiction diejenigen, „welche beim Publikum (cid:131)ngste hervorrufen oder verschl(cid:128)sselte Entsprechungen f(cid:128)r unterbewusst bestehende Neurosen und Psychosen liefern.“21 Besonders deutlich zeigt sich die Lust am Schrecklichen bis in unsere Zeit auch in der „Gattung des Kriminal- und Detektivromans“, der ohne „den Schrecken eines Mordes“22 kaum auskommt. Innerhalb dieser Gattung wiederum steht die in der ersten H(cid:130)lfte des 20. Jahrhunderts entstandene „hardboiled-school“ in dem Ruf, in einem besonders engen Verh(cid:130)ltnis zu realgeschichtlichen Gegebenheiten zu stehen. Dashiell Hammett, der gemeinhin als Begr(cid:128)nder der „hardboiled-school“ genannt wird, unterlegte
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