Brigitte Kerchner Gabriele Wilde (Hrsg.) Staat und Privatheit Brigitte Kerchner Gabriele Wilde (Hrsg.) Staat und Privatheit Aktuelle Studien zu einem schwierigen Verhältnis Leske + Budrich, Opladen 1997 Gedruckt auf säurefreiem und altersbeständigem Papier. Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Staat und Privatheit : Aktuelle Studien zu einem schwierigen Verhältnis / Brigitte Kerchner ; Gabriele Wilde (Hrsg.). - Opladen : Leske und Budrich, 1997 ISBN 978-3-322-95833-4 ISBN 978-3-322-95832-7 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-95832-7 NE: Kerchner, Brigitte [Hrsg.] © 1997 Leske + Budrich, Opladen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervie1fältigungen, Übersetzungen, Mi kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Inhalt Vorwort ............................................................................................................ 7 Einleitung Brigitte Kerchner, Gabriele Wilde ................................................................... 9 I. Konzeptionen von Staat und Privatheit in der feministischen Kritik "Die Magd der Industriegesellschaft" . Anmerkungen zur Geschlechtsblindheit von Staats-und Institutionentheorien Birgit Sauer .................................................................................................... 29 Die Einsamkeit der Staatsgründer. Individualität, Sozialität, Familie und Staat in der klassischen politischen Theorie Barbara H olland-Cunz .................................................................................. 55 Staatsbürgerstatuts und die Privatheit der Frauen. Zum partizipatorischen Demokratiemodell von Carole Pateman Gabriele Wilde ............................................................................................... 69 "Öffentlichkeit" in der Systemtheorie und in Rational Choice-Ansätzen. Überlegungen zur theoretischen Privatisierung des Politischen Sabine Lang ................................................................................................. 107 Moralität und Leidenschaft. Geschlechterpolitik und Triebstrukturierung in anthropologischen Texten der deutschen Aufklärung Angelika Ebrecht ......................................................................................... 135 5 II. Staatliche Interventionen in das Private Rückzug als Verweigerung. Historische Perspektiven auf Sexualität und Staat Brigitte Kerchner ......................................................................................... 157 Die Verrechtlichung des Privaten - allgemeines Verhängnis oder Chance ftir bessere Geschlechterverhältnisse? Sabine Berghahn ......................................................................................... 189 Zum Zusammenhang zwischen Nationalismus, Krieg und Geschlecht Ulrike C. Wasmuht ....................................................................................... 223 III. Die Politisierung des Privaten Im Schatten der Krise. Über das "Ende der Arbeitsgesellschaft" und die öffentliche Dienstleistung von Frauen Traute Meyer ............................................................................................... 239 "Die selbstverständliche Dominanz der Männer" in der (Gewerkschafts-)Öffentlichkeit. Überlegungen zur geschlechtsspezifischen Selektion von Interessen im Politischen System Sigrid Koch-Baumgarten ............................................................................. 259 Politisch inszenierte Privatheit gegen "Staatsfeminismus" . Frauen in islamistischen Bewegungen der Republik Türkei Heidi Wedel ................................................................................................. 285 Zu den Autorinnen und Herausgeberinnen .................................................. 309 6 Vorwort Unter den Stichworten "Staat" und "Privatheit" dokumentiert dieses Buch einen wichtigen Ausschnitt aus der Frauen- und Geschlechterforschung am Fachbereich Politische Wissenschaft (Otto-Suhr-Institut) der Freien Universi tät Berlin. Die Beiträge greifen ein in die aktuelle feministische Staatsdebatte mit dem Ziel, die Diskussion zwischen den an der Debatte beteiligten unter schiedlichen Disziplinen zu erleichtern und die Integration verschiedener Er kenntnisinteressen und Methoden zu fördern. Wir danken allen, die an der Entstehung des Buches mitgewirkt haben. Finanziell unterstützt wurde das Buchprojekt durch einen Zuschuß aus Mit teln der Freien Universität, die der Fachbereich Politische Wissenschaft als Anerkennung für bisherige Leistungen in der FrauenfOrderung erhalten hat. Petra Schäfter hat das Manuskript gemeinsam mit uns lektoriert und für den Druck bearbeitet. Sie und vor allem Sabine Berghahn haben durch wert volle Hinweise die konzeptionelle Gestaltung entscheidend mitgeprägt. Au ßerdem danken wir beiden für die Durchsicht und die konstruktive Kritik un serer eigenen Beiträge. Ganz besonders aber gilt unser Dank Barbara Strobel, der Frauenbeauf tragten des Fachbereichs Politische Wissenschaft. Sie hat nicht nur die Idee zu diesem Projekt entwickelt, sondern auch durch die Beseitigung zahlreicher Hindernisse ganz entscheidend zu seiner Realisierung beigetragen. Ohne ihre Initiative und ihren beharrlichen Einsatz fur die Verbesserung der Situation von Wissenschaftlerinnen in den vergangenen Jahren hätte die feministische Forschung am Otto-Suhr-Institut ihren gegenwärtigen Stand nicht erreichen können. Ihr ist dieses Buch gewidmet. Berlin, im Oktober 1996 Brigitte Kerchner, Gabriele Wilde 7 Einleitung Brigitte Kerchner, Gabriele Wilde "Ja [ ... will man] uns überreden, wegen unseres Familienlebens auf die politische Freiheit, auf die würdige Gestaltung des Staates zu verzich ten? Als wenn nicht die freie würdige Familie und das freie würdige Staatsleben sich wechsel seitig unterstützten und nicht auch in ihrem Ver fall sich gegenseitig hineinzögen!" C. Th. We\cker, Staatslexicon 1838 In aller Regel werden Staat und Privatheit als getrennte Sphären beschrieben. Ob man nun dabei den Staat für einen Garanten von Freiheit und Gleichheit hält oder für einen alles kontrollierenden Leviathan - immer erscheint er an einem öffentlichen Ort, der durch rechtliche und rational nachvollziehbare Verfahren geregelt ist. Demgegenüber steht die private Familie als vermeint lich "natürliche", soziale Institution, ein Hort selbstbestimmten Lebens mit fürsorglichen, gar "mütterlichen" Umgangsformen. Doch so eingängig und selbstverständlich uns die dualen Bilder von Staat und Privatheit auch schei nen mögen, so wenig plausibel bleiben sie, wenn wir ihren empirischen Ge halt in konkreten historischen Situationen und klar bezeichneten kulturellen Räumen aufsuchen. So wundert es auch nicht, daß sich immer dann, wenn es darum geht, das sich wandelnde Verhältnis von Privatheit und Intimität auf der einen und Staat und Öffentlichkeit auf der anderen Seite wissenschaftlich zu beschreiben, mehrere, zum Teil konträre Auffassungen gegenüberstehen. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts leuchtete die strikte Tren nung von Staat und Familie wohl nicht allen unmittelbar ein. Denn wie sonst ließe sich erklären, daß in einschlägigen Lexika, wie etwa in dem oben zitierten "Staatslexicon" von Rotteck und We\cker aus dem Jahre 1838, zwar beide Sphären als unterschiedlich in ihrem Charakter, aber dennoch als wechselseitig aufeinander bezogen dargestellt wurden? Zugegebenermaßen beschwor der Verfasser des Artikels, C. Th. We\cker, Staat und Familie als unterschiedlich geprägte Bereiche, wobei den Frauen überwiegend die Fami lie und sehr beschränkte Teile der Öffentlichkeit zugestanden wurden, um dann den Männem den Staat ganz uneingeschränkt zur Verfügung zu stellen. Und dennoch: Gerade der immense legitimatorische Aufwand, mit dem die Grenzen zwischen den Sphären und die daran geknüpfte Geschlechterord- 9 nung verteidigt wurden, zeigt doch auch, daß es sich dabei eben nicht um Selbstverständliches, gar Naturgegebenes handelte, wie im Artikel selbst mehrfach versichert wurde, sondern um höchst umstrittene Vorstellungen (vgl. Wunder 1988,176). "Wo aber finden und zeichnen wir nun die richtige, die keines von bei den Geschlechtern verletzende, die beiden und dem Gesamtwohle der Gesellschaft entsprechende Schei dungslinie fur diese Verschiedenheiten?" (Welcker 1838,630). Das war die Ausgangsfrage für die Überlegungen von Welcker, und die Antwort auf diese Frage blieb keineswegs eindimensional. Staat und Familie, Mann und Frau wurden dabei zwar in Dichotomien charakterisiert (Hausen 1976). Gleichzeitig aber wurden Staat und Familie auch ganz analog als "frei" und "würdig" empfunden, ihr aufeinander Angewiesensein auf "Ge deih und Verderb", in Blütezeiten wie im Untergang, wurde fast pathetisch zum Ausdruck gebracht. Und dabei versäumt es der Artikel auch nicht, die Rolle der Männer als "Familienhaupt" (Welcker 1838, 652) anzumahnen, ebenso wie die - allerdings sehr begrenzten und am männlichen Interesse ori entierten - Möglichkeiten der Frau, in der Öffentlichkeit aufzutreten, ausge lotet wurden. Doch bei der Sozialisation schien die Familie bei den Frauen eine ebenso bedeutsame Rolle zu spielen, wie "für die tüchtige Bildung der Männer" (ebd., 647). Und wenn Welcker schließlich dem Staat als dem Ge setzgeber empfahl, die "Geschlechtsverhältnisse" als "tiefste und wichtigste Grundlagen der ganzen gesellschaftlichen Ordnung" anzuerkennen, die in der "größten Wechselwirkung unter sich und mit den öffentlichen Sitten und Einrichtungen" stünden, dann ist hier von jener Marginalität, die Geschlecht und Privatheit in späteren Staats- und Institutionentheorien (vgl. Sauer in die sem Band) oder in Theorien der Öffentlichkeit (vgl. Lang in diesem Band) besitzen sollte, offenbar noch wenig zu verspüren. Dem entspricht auch, daß Welcker all jenen, die bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Gleichheit für Frauen im politischen Leben und vor dem Gesetz fordern, in konservati ver Manier seine emotive Stilisierung des "christlichen und deutschen Fami lienlebens" entgegenhält, dem "größten und hoffnungsreichsten Fortschritt in der ganzen Geschichte der Menschheit" (1838, 648). Max Weber hat die Trennung von Privatheit und Staat historisch betrach tet und auf die Sprengung des vormodernen "Ganzen Hauses" zurückgeführt: Hausherrschaft und politische Herrschaft wurden demnach auseinandergeris sen und damit die Weichen gestellt für die rationale bürokratische Verwal tung des Staates; gegenüber der öffentlichen "allgemeinen" Sphäre habe sich dann eine abgeschieden gedachte private Sphäre als etwas "Besonderes" kon stituiert (Weber 1922). Inzwischen hat Habermas darauf hingewiesen, daß sich Privatheit und Öffentlichkeit weiterhin tendenziell verschränkten, und diese Verschränkung gilt ihm sogar als ein Indiz für den "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (Habermas 1962). Doch ungeachtet dessen hat sich die schil- 10 lernde liberale Vorstellung vom rational handelnden Staat, der dem Privaten strukturell entgegengesetzt sei, einem Staat, der individuelle Freiheit garan tiert, indem er sich aus dem Privaten heraushält, bis in unsere Zeit als domi nante Denkfigur erhalten. Ja, noch immer gilt vielen die strikte Trennung von Staat und Privatheit als eigentliches Kennzeichen der Modeme. Daran konnten auch die Einwände von Frauenbewegung und Frauenfor schung bislang wenig ändern. Schon den Pionierinnen der alten Frauenbewe gung lag das Thema am Herzen: "Wir können aber von einem freiheitlichen Staatswesen, von einem Kulturstaate nicht eher sprechen, bis wir ... auch die Freiheit der Persönlichkeit in ihrem privatesten Privat leben, im Liebesleben, errungen haben" (Stoecker 1911, 200). Auf den ersten Blick scheint sogar das Klima, in dem die streitbare Radikale Stoecker sich kurz vor dem Ersten Weltkrieg zu diesem emphatischen Plä doyer für den liberalen Rechtsstaat emporschwang, einiges unserer heutigen Stimmung vorwegzunehmen. Auch sie begann sich mit dem Staat in einer gesellschaftlichen Situation zu beschäftigen, in der breite Medienkampagnen die wachsende sexuelle Gewalt an Kindern "entdeckt" hatten, die "Kinder schänder" zur großen Gefahr für die öffentliche Ordnung stilisiert und schrille "Rufe nach dem Staat" überall zu hören waren. Hier nun plädierte die Feministin Stoecker für Nüchternheit und Besonnenheit: Beide, Polizei und Strafgesetz, könnten nur die Symptome des Übels strafend erfassen, den Ur sachen gegenüber aber seien sie machtlos (1910, 219). Doch der Abolitio nismus von Stoecker war keineswegs grenzenlos. So sehr sie sich auch dafür einsetzte, daß sich der Staat aus dem "privatesten Privatleben" heraushalten sollte, wenn es etwa um Homosexualität oder Prostitution ging, so eindring lich forderte sie gleichzeitig dessen Schutzfunktion in solchen Fällen, in de nen ein "Mißbrauch von Amts- und Erziehungsgewalt" oder die "Verführung von Minderjährigen" oder ein "Mißbrauch des weiblichen Geschlechts" (Stoecker 1911, 196f.) vorliege. Im Unterschied zu heute mußte sich die "alte" Feministin Stoecker damals allerdings nicht mit dem Vorwurf ausein andersetzen, sie verrate mit ihrer zwiespältigen Haltung zum Staat und mit ihrer differenzierten Argumentation die Ziele von Fortschritt und Liberalität. In ihrer Zeit kam selbst die gemäßigte Mehrheit in der Frauenbewegung kaum in einen solchen Verdacht, obwohl sie sich aus heutiger Sicht von An fang an mit der offiziellen Staatspolitik stark identifizierte und in der Weima rer Republik einer konservativen "Emanzipation zum Staat" offensiv Vor schub leistete (Stoehr 1990). Die nicht selten polemisch vorgebrachte Schelte an die Adresse der Feministinnen, sie verfehlten mit ihrem ambivalenten Verhältnis zum Staat ihre emanzipatorischen Ziele, bleibt erst den Debatten unserer Tage vorbehalten (vgl. Berghahn in diesem Band) - und die aktuelle Empörung hat offenkundig auch stärker die Argumente der neuen Frauenbe wegung vor Augen. 11 Denn von der neuen Frauenbewegung wurden mit Beginn der 70er Jahre die traditionellen Vorstellungen über Privatheit und Öffentlichkeit, über Staat und Familie, weitaus nachhaltiger in Frage gestellt als von den Aktivistinnen der Jahrhundertwende und der Weimarer Republik. Mit dem Slogan "Das Private ist politisch" kreiste das Engagement diesmal zentral um die Politik fahigkeit des Privaten. Die Unterscheidung zwischen "privat" und "politisch" wurde nun prinzipiell als geschlechtlich fixiert erkannt. Daß es Machtbezie hungen im Privaten gibt, die politisch und gesellschaftlich bedingt sind, ge hörte zu den wichtigsten Einsichten der Bewegung. Und eben diese Diskri minierungen im weiblichen Lebenszusammenhang (Prokop 1976), die durch die gesellschaftliche Arbeits- und Rollenverteilung hervorgerufen waren, sollten in das öffentliche Bewußtsein gerückt werden. Gefordert wurde, die öffentliche Verfaßtheit auch der privaten Familie endlich anzuerkennen. Der politische Kampf müsse, so argumentierte etwa der Berliner Aktionsrat zur Befreiung der Frauen bereits 1968, auch in die Ehe getragen werden, wenn die dumpfe Kasernierung der Frauen im Privatleben wirklich aufgehoben werden solle. Doch wer in dieser Zeit für die Politikfahigkeit des Privaten plädierte, meinte nicht zwangsläufig die staatliche Intervention in das private Leben. Das zeigte sich bei den spektakulären Kampagnen gegen den § 218 des Strafgesetzbuches. Mit dem Abtreibungsverbot griff der Staat wie kaum mit einer anderen Rechtsbestimmung unmittelbar in das private und persön liche Leben der Frauen ein. Unter der Parole "Mein Bauch gehört mir" schien es nun geboten, sich entschieden gegen staatliche Bevormundung zur Wehr zu setzen. Bei einem zweiten zentralen Thema der neuen Frauenbewegung, der all täglichen Gewalt gegen Frauen, ging es zunächst einmal darum, Öffentlich keit überhaupt erst wieder herzustellen. Denn die feministischen Traditionen der behutsamen ersten Politisierung von sexueller Gewalt um die Jahrhun dertwende waren längst vergessen. Nun jedoch wurden geschlagenen und mißhandelten Frauen und Kindern in selbstverwalteten Frauenhäusern und Beratungszentren ganz praktisch Zufluchtsorte aus dem Privaten geschaffen. Die feministische Skepsis gegenüber dem Staat schloß die staatliche Inter vention nun nicht mehr unbedingt aus, galt es doch jetzt, staatliche Ressour cen zu nutzen und sich personell, räumlich oder finanziell vom Staat unter stützen zu lassen. Gleichzeitig ging es auch darum, den Staat mit den Kosten der von ihm geduldeten, wenn nicht gar begünstigten Männergewalt zu kon frontieren. Selbst mit seinem Gewaltpotential konnten sich "autonome" Fe ministinnen arrangieren, wenn es sich in Form von Strafe gegen männliche Täter richtete. Doch mit der Nutzung staatlicher Hilfen und der Duldung, ja Einforderung staatlicher Sanktionen war die Ambivalenz der neuen Frauen bewegung gegenüber dem Staat endgültig evident: War und ist der Staat ein verkrusteter Apparat, ein Bollwerk patriarchaler Bevormundung, dem man sich prinzipiell verweigern sollte? Oder bietet staatliche Intervention auch 12
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