14:38 Hito Steyerl, Encarnación Gutiérrez Rodriguez (Hg.) Spricht die Subalterne deutsch? 1 14:38 Lässt sich die Debatte um postkoloniale Kritik auf den deutschen Kontext anwenden oder ist sie schlicht irrelevant? Diese Frage wird im vorliegenden Band durchaus uneinheitlich beantwortet. Neben Texten, die versuchen, Konzepte postkolonialer Diskurse umzusetzen, finden sich auch Texte, die den Rahmen postkolonialer Theoriebildung teilweise oder insgesamt in Fra- ge stellen und überschreiten. Insofern stellt dieser Band keine einheitliche Stellungnahme zur postkolonialen Theorie dar, sondern gibt einen Einblick in die Bandbreite der Diskussionen und Praxen um Postkolonialität im deutschsprachigen Kontext. Vor allem beleuchtet der Band aber die Auswir- kungen, die postkoloniale Konzepte für das Verständnis und die Transfor- mation der Realität von MigrantInnen und Angehörigen von Minderheiten im Post-Wiedervereinigungs-Deutschland haben - einer Realität, die durch die massive Zunahme rassistischer und antisemitischer Gewaltbereitschaft in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft geprägt ist. Wie kann dieser Kontext mit den verschiedenen Konzepten des Baukastens postkolonialer Theorie verstanden werden? Inwieweit greifen diese Konzepte überhaupt? Inwieweit überschneiden, bzw. unterscheiden sich die Anwendungsgebiete dieser Konzepte von jenen der ›Post-Holocaust‹-Forschung? 2 14:38 Hito Steyerl, Encarnación Gutiérrez Rodriguez (Hg.) Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik U N R A S T 3 14:38 Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Für ihre Unterstützung möchten wir Patrizia Aurich und Christoph Pilgrim danken. Hito Steyerl, Encarnación Gutiérrez Rodriguez (Hg.) Spricht die Subalterne deutsch? 3. Aufl., Oktober 2018 ISBN 978-3-89771-425-0 E-ISBN 978-3-98684-030-3 © UNRAST-Verlag, Münster [email protected] | www.unrast-verlag.de Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe) Umschlag: Martin Klindworth, Leipzig Satz: UNRAST Verlag, Münster Druck: Interpress, Budapest 4 Powered by TCPDF (www.tcpdf.org) 14:38 Inhalt Hito Steyerl und Encarnación Gutiérrez Rodríguez Einleitung 7 Encarnación Gutiérrez Rodriguez Repräsentation, Subalternität und postkoloniale Kritik 17 Hito Steyerl Postkolonialismus und Biopolitik 38 Kien Nghi Ha Die kolonialen Muster deutscher Arbeitsmigrationspolitik 56 Umut Erel Migrantinnen zwischen Anerkennung und Abqualifikation 108 Fatima El-Tayeb Begrenzte Horizonte. Queer Identity in der Festung Europa 129 Grada Ferreira Die Kolonisierung des Selbst – der Platz des Schwarzen 146 Shirley Tate Widerstand und Shade – Körperpolitiken des Schwarzseins und die Risse der Hybridität 166 Luzenir Caixeta Anthropophagie als Antwort auf die eurozentrische Kulturhegemonie Oder: Wie die Mehrheitsgesellschaft feministische Migrantinnen schlucken ›muss‹ 186 Annette Seidel-Arpacý Kant in ›Deutsch-Samoa‹ und Gollwitz: ›Hospitalität‹ und Selbst-Positionierung in einem deutschen Kontext 195 Tanya Ury Hotel Chelsea – Köln 213 5 14:38 Cathy S. Gelbin Metaphern des Genozids: Die Repräsentation von Geschichte und Identität in der Kunst Tanya Urys 228 Patricia Alleyne-Dettmers ›Freeing Up‹ Colonial’s Children – (Post-)Kolonialismus, Repräsentation und Karneval 249 Anil K. Jain Differenzen der Differenz: Umbrüche in der Landschaft der Alterität 259 Maria do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan Postkolonialer Feminismus und die Kunst der Selbstkritik 270 AutorInnen 291 6 Powered by TCPDF (www.tcpdf.org) 14:38 Hito Steyerl und Encarnación Gutiérrez Rodríguez Einleitung Der Titel dieses Buches verweist auf Gayatri Chakravorty Spivaks bekannten Text Can the Subaltern speak? (1987). Mit dieser Frage geht es ihr um eine Art Sprachexperiment. Was passiert, wenn jemand, der oder die als subal- tern, also als unterprivilegiert, bezeichnet wird, spricht? Welche Laute ent- stehen dabei? Können sie überhaupt gehört werden, und wenn ja, hören sich ihre Laute dann wie Sprache an oder eher wie jenes verwirrende Pfeifen, mit dem Franz Kafka das Singen von Josephine, der Mäusesängerin, beschreibt? Wenn aber die Subalterne spricht, ist sie dann überhaupt noch subaltern? In Spivaks Text geht es darum, wie die Gewalt von Diskursen das koloniale Subjekt als ›Anderes‹ konstituiert. Daraus ergibt sich eine Hierarchie der Wissensproduktion, die bestimmte Formen von Wissen disqualifiziert, mundtot macht und dominante Formen von Wissen reproduziert. Dieser Vorgang der Ausblendung wird mit der Formel: ›The subaltern cannot speak‹ bezeichnet, denn selbst wenn er/sie mit aller Kraft und Gewalt versucht zu sprechen, kann sie sich nicht verständlich machen. Die erweiterte Frage: ›Can the Subaltern speak German?‹, die wir mit diesem Band stellen, richtet sich darauf, was passiert, wenn wir dieses Experiment des Sprechens oder Schweigens im deutschen Kontext zu wiederholen versuchen. Für uns hat die Frage mindestens zwei Teile: Wer ist in der Bundesrepu- blik überhaupt der oder die Subalterne? Gibt oder gab es insbesondere in der Bundesrepublik koloniale Verhältnisse, die die Herausbildung von dem rechtfertigen würden, was Spivak als das Subalterne bezeichnet? Gibt es also Subalterne, die deutsch sprechen? Und zum Zweiten: Können wir die Fragestellung der Postkolonialität überhaupt in den deutschen Kontext über- tragen? Macht sie hier Sinn und wenn wie? Wie ist die Rezeption, aber auch die Produktion postkolonialer Theorie im deutschen Kontext beschaffen? Obwohl die Thematik postkolonialer Kritik sich allmählich im deutsch- sprachigen akademischen Feld und Kunstkontext verankert, wird sie doch oft als ein Phänomen verstanden, das mit der gesellschaftlichen Realität in Deutschland nichts zu tun habe. Postkoloniale Kritik bezeichnet zwar laut 7 14:38 Ruth Frankenberg und Lata Mani eine spezifische ›conjuncture‹ gesellschaft- licher Kraftfelder, das heißt ein spezifisch situiertes Machtverhältnis. Den- noch wird davon ausgegangen, dass dieses Machtverhältnis in Deutschland nicht existiere oder irrelevant sei und Vorgänge beschreibe, die woanders stattfinden oder völlig unspezifisch sind. In Vergessenheit gerät damit nicht nur die von Schwarzen Deutschen Theoretikerinnen in den 80er Jahren verfasste Kritik der deutschen Verhältnisse (vgl. Oguntoye u.a. 1986). Postkoloniale Theorie im deutschen Kontext zu thematisieren, bedeutet daher vor allem auch ein theoretisches Paradigma der Dekonstruktion von Wissens- und Wahrheitsproduktionen zu thematisieren. Die postkoloniale Theorie hat statt dem Anspruch auf Anerkennung (von Subjekten oder Identitäten) die Frage der Repräsentation in den Vordergrund gerückt. Die Hegel’sche Vorstellung von Subjekt und Subjektivierung wird aus dieser Perspektive heraus dekonstruiert. Das Hegel’sche Modell der Intersubjektivität, das ein Anderes voraus- setzt, das negiert wird, um ein autonomes Selbst auszubilden, stellt den Ausdruck einer ökonomischen Macht dar, in der objektivierte und unter- worfene Andere produziert werden. ›Der Andere‹ wird so zum sine qua non einer ontologischen Logik, deren Alterität oder Differenz im Namen des Selbst vereinnahmt wird. Auf der Basis dieser identitären Zwangslogik werden immer wieder ethnifizierte, rassifizierte und vergeschlechtlichte, sexualisierte Identitäten geschaffen, die als negatives Spiegelbild des Selbst fungieren. Die Konstruktion zum ›Anderen‹ bildet in der westlichen Philo- sophietradition einen zentralen Topos. Zwar nimmt es unterschiedliche Gestalt an, sei es bei Hegel in der ›Herr-Knecht-Dialektik‹ oder bei Levinas im Sinne der Anerkennung der singulären Differenz des Anderen. Beide Strategien jedoch – die eine der Vereinnahmung und die andere der Bewah- rung der Differenz – bewegen sich in der binären Logik der Anerkennung. Der Diskurs um die Anerkennung des Anderen führt zu zwei ethisch politi- schen Umgangsweisen: auf der einen Seite wird der Andere im Anspruch auf Universalität unter das Diktat der Gleichheit subsumiert; auf der anderen Seite wird er aus differenzpolitischer Perspektive zum Fetisch der kulturellen Partikularität stilisiert. Die Anerkennung des Anderen vollzieht sich so in Hegel’scher Manier als Notwendigkeit für die Subjektivierung des Selbst und in Levinas Sinne als Begehrensstruktur für die Existenz der Alterität. Im Hegel’schen Sinne verliert sich der Andere im Selbst, bei Levinas ermöglicht das Vorhandensein des Anderen erst die Differenz zwischen dem Selbst und dem Anderen. In aktuellen Politiken der Anerkennung – etwa in der sozialen Technik des Multikulturalismus – finden diese philosophischen Vorausset- 8 14:38 zungen in politischen Strategien der Gleichheit auf der einen Seite und der Differenz auf der anderen Seite ihren Ausdruck. In beiden Strategien fungiert der Andere als Projektionsfigur, die vereinnahmt, konsumiert und einverleibt wird. Der Anerkennungsprozess bei Hegel, so Magid Yar, »is thus one of specular, cognitive and representational anthropophagy, voracious and cannibalistic, an imperialism whereby I colonize the other person as part of the circuit of my own self-conscious identification« (Yar 2002:63) Es bleibt jedoch zu fragen, ob sich in einem Diskurs um Alterität nicht ein ähnlicher Prozess der Vereinnahmung und des Kannibalismus ereignet, der den Anderen zur Ikone der Differenz erhebt. An dieser Stelle hakt die Kritik Edward Saids und Gayatri C. Spivaks der Konstruktion des Anderen als ›konstitutives Außen‹ für die Produktion des imperialen Projektes Europa ein. Beide TheoretikerInnen betrachten subjekt- theoretische Überlegungen nicht lediglich als dekontextualisierte erkennt- nistheoretische Fragestellungen, sondern setzen sie in einen geografischen, politischen und historischen Kontext. Im Anschluss an poststruktura- listische – und im Falle Spivaks marxistische und feministische – Theorie betrachten sie Denken und Sprache als verortete und verzeitlichte Effekte eines herrschenden Kräfteverhältnisses. Das Wissen um die Welt bildet sich nach Spivak nicht in einem herrschaftsfreien Raum heraus. Wissen- sproduktionen sind in Westeuropa im Zusammenhang des Kolonialismus entstanden. Die Vorherrschaft der lateinischen Schrift und der metaphy- sischen Philosophietradition als Erklärungsrahmen für die Analyse und Beschreibung von Welt ist im europäischen Kolonialismus kontextualisiert (Derrida 1967, Spivak 1988b:76). Wie also über den Anderen gesprochen wird und warum, folgt nicht nur dem simplen Begehren nach Erkenntnis und Wissen. Vielmehr wird durch dieses Sprechen erst der Andere geschaffen, der historisch und gesellschaft- lich im Laufe des Kolonialismus, der Sklaverei, des Antiziganismus, des Antisemitismus und der heutigen rassistischen Politiken sowie Asyl- und Migrationspolitiken mit den faktischen Gewalteffekten dieser Diskurse, Praktiken und Politiken zu kämpfen und zu leben hat. Vor diesem Hinter- grund formuliert die postkoloniale Kritik nicht nur die Frage nach Reprä- sentation, sondern auch die nach Wissensproduktionen, Subjektivierung und Selbstverhältnissen in einem Rahmen, in dem der Andere immer wieder in einer doppelten Bewegung als Unterworfener und Angerufener (Althusser) geschaffen wird. Vor diesem Hintergrund ereignet sich im Rahmen koloni- aler, rassistischer, antiziganistischer und antisemitischer Genealogien eine hegemoniale Bezeichnungspraxis, in dem der Andere nicht nur als Andere 9 14:38 angerufen wird, sondern erst im hegemonialen Rahmen durch das Sprechen im Namen des Anderen gesehen und gehört wird. Postkoloniale Theorie und Kritik reflektiert über den rassistischen Prozess der Objektivierung und Subjektivierung zugleich, indem es die Verbindung zwischen Wissen, Macht, Begehren, Kolonialismus und Rassismus aufzeigt. Die Fragen, die aus diesem Blickwinkel zu formulieren gilt, lauten: Wie gehen Subjekte, die die Zuschreibung der Andersheit erfahren, mit den Gewalteffekten der Unterwerfung um? Welche Praktiken und Selbstverständnisse werden in diesem Feld ausgebildet? Welche Akte der Intelligibilität finden statt, die die dominante identitäre Zwanglogik verlassen? Mit diesen Fragen beschäftigen sich die hier gesammelten Aufsätze. Der Schwerpunkt dieses Bandes liegt darauf, die Frage nach Relevanz und Anwendbarkeit der Debatte um postkoloniale Kritik im deutschen Kontext zu stellen. Diese Frage wird durchaus uneinheitlich beantwortet. Neben Texten, die versuchen, Konzepte postkolonialer Diskurse umzuset- zen und auf spezifische Phänomene anzuwenden, finden sich auch Texte, die den – theoretisch ohnehin nicht genau definierten – Rahmen postko- lonialer Theoriebildung teilweise oder insgesamt in Frage stellen und auch überschreiten. Insofern stellt dieser Band keine einheitliche Stellungnahme zum Korpus postkolonialer Theorie dar, sondern versucht stattdessen, einen Einblick in die Bandbreite der Diskussionen und Praxen um Post kolonialität zu geben, die im deutschsprachigen Kontext – teils in affirmativer, teils in kritischer Perspektive – in den letzten Jahren entstanden sind. Vor allem versucht der Band aber auch, die Auswirkungen zu beleuchten, die postkoloniale Konzepte für das Verständnis und die Transformation der Realität von MigrantInnen und Angehörigen von Minderheiten im Post- Wiedervereinigungs-Deutschland haben – in einer Realität, die durch eine massive Verschärfung des gesellschaftlichen Klimas und der politischen Rahmenbedingungen sowie der Zunahme rassistischer und antisemitischer Gewaltbereitschaft in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft ge- prägt ist. Wie kann dieser Kontext mit den verschiedenen Konzepten des Baukastens postkolonialer Theorie verstanden werden? Inwieweit greifen diese Konzepte überhaupt? Welche Verschiebungen bewirkt der Einsatz dieser epistemologischen Werkzeuge in Disziplinen wie der Migrationsfor- schung, die gerade in Deutschland traditionell stark auf die Verwaltung eines ›Ausländerproblems‹ ausgerichtet war? Inwieweit überschneiden, bzw. unterscheiden sich die Anwendungsgebiete dieser Konzepte mit jenen der ›Post-Holocaust‹-Forschung? Dementsprechend gruppieren sich die Texte auch in verschiedene Themenbereiche. 10