Kegel· Arnhold· Dahlrneier· Schmid· Tischer (Hrsg.) Sprechwissenschaft & Psycholinguistik 3 Gerd Kegel· Thomas Arnhold· Klaus Dahlmeier Gerhard Schmid· Bernd Tischer (Hrsg.) Sprechwissenschaft Psycholinguistik 3 & Beitrage aus Forschung und Praxis Westdeutscher Verlag ISBN 978-3-531-12086-7 ISBN 978-3-322-97004-6 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-97004-6 Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann. Alle Rechte vorbehalten © 1989 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts· gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, übersetzungen, Mikrover· filmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. ISSN 0179-1699 Inhalt Vorwort 7 Gerd Kegel Psycholinguistik: Vberblick zu Theorie und Praxis 9 Bernd Tischer Die verbale Steuerung von Handlungen auf den Dimensionen der sekundaren Raumdeixis 25 Oaudia Weiand Die Integration verbaler und visueller Einheiten im Sprachverhalten 67 Hermann Scholer / Werner Kany Lernprozesse beim Erwerb von Flexionsmorphemen: Ein Vergleich sprachbehinderter mit sprachunauffalligen Kindem am Beispiel der Pluralmarkierung (Untersuchungen I und II) 123 Harold H. Chipman / Friedrich M. Dannenbauer The Interplay of Cognitive and Linguistic Factors in the Comprehension and Expression of Temporal Relations: A Comparison between Normal and Developmentally Dysphasic Children 177 Ulla Hitzler Der EinfluB der Medien auf die Vbermittlung von Emotionen. Eine psychophysiologische Untersuchung 197 Karin Bogdain Zweisprachige Erziehung in der Familie 229 6 Hartmut GUnther Worter im Kopf? Gedanken zu einem Buch von Jean Aitchison 257 Konstanze Dames / Stefan Lautenbacher Die Zeitstruktur von Nachsprechleistungen bei sprachentwicklungsgestorten und sprachunauffalligen Kindern 269 Harald Oahsen / Gerd Kegel/Hermann Scholer Bericht zur Tagung "Dysgrammatismus" bei der Werner-Reimers-Stiftung 287 Vorwort Der vorliegende dritte Band von Sprechwissenschaft & Psycholinguistik vermittelt erneut Einblicke in den aktuellen Forschungsstand dieses Berei ches. Das Hauptinteresse von Sprechwissenschaft & Psycholinguistik gilt der Erforschung von Sprachprozessen in den verschiedenen Modalitaten von Produktion und Perzeption. Sprechwissenschaft & Psycholinguistik zeichnet sich durch anwendungsorientierte Forschung aus. So geben die hier prasen tierten Arbeiten vor dem Hintergrund spezifischer Theoriebildung fUr die Praxis grundlegende Auskunft. Wir konnten in diesem Jahr mit der Sprachbehindertenpadagogik an der Universitat MUnchen, vertreten durch Frau Prof. Kotten -Sederqvist, sehr eng zusammenarbeiten. Die Beitrage von Chipman/Dannenbauer und Bogdain stammen aus diesem Bereich. Wir werden diese Zusammenarbeit in der Zukunft noch vertiefen. Sprechwissenschaft & Psycholinguistik wird in der Bundesrepublik nur an der Universitat MUnchen als Studienfach gelehrt, doch befassen sich Kolleginnen und Kollegen an anderen Universitaten mit benachbarten Fragestellungen. Wlf freuen uns, daB wir in diesem Band Arbeiten aus mehreren Forschungs statten aufnehmen konnten und wollen dies auch in den folgenden Jahrgan gen gerne weiterfUhren. Beitrage konnen unter der Anschrift: Sprechwissenschaft & Psycholinguistik Universitat MUnchen Schellingstr. 3/ll 8000 MUnchen 40 an einen der Herausgeber gesandt werden. MUnchen, im Dezember 1988 Die Herausgeber Psycholinguistik: Uberblick zu Theorie und Praxis GerdKegel Zuniichsf werden Wissenschaffsgeschichte, Gegenstand, Theoriebildung, Methoden und Ergebnisse der Psycholinguistik dargestellt. Anschliel3end wird die zunehmende Praxis orientierung der Psycholinguistik in den Bereichen Sprachpathologie, Kommunikationsfiihig keiten, Medienkommunikation und Mensch-Maschine-interaktion an Beispielen erliiutert. initially, historical development, subject-matter, theoretical framework, methods and results of psycholinguistics are presented Thereafter, the increasing practical orientation of psycholinguistics is exemplified in the areas of speech pathology, communication skills, mass-media communication and man-machine-interaction. Einleitung Dem Menschen zu helfen, den kranken Menschen zu heilen ist das vor dringliche Ziel einer ganzen Reihe von Berufsgruppen. Vielfach geschieht dieses Helfen und Heilen i.iber Sprache, oft betrifft es die gestorte oder nicht ausreichend funktionierende Sprache selbst. Kein Arzt, kein Therapeut wird auf sprachlichen Kontakt zu seinen Patienten verzichten konnen. Mediziner befassen sich in der Phoniatrie, Piidiatrie, Psychiatrie und Neurologie mit Sprachstorungen. Logopiiden sind die im medizinischen Bereich spezie11 ausgebildeten Sprachtherapeuten. Klinische Psychologen, Psychotherapeuten und Sonderpiidagogen haben es mit den vielfiiltigen Sprachabweichungen zu tun, die als Leit- oder Begleitsymptom einer psychosozialen Starung auftre ten. Nicht immer sind liistige, den Betroffenen deprimierende sprachliche Defizite gleich dem Gebiet des Pathologischen zuzuordnen. Hiiufig ergibt sich der Eindruck sprachlichen Versagens erst aus individuellen Ist-So11-Verglei chen: Welches sprachliche Leistungsvermagen habe ich, und was sollte ich, etwa berufsbedingt, eigentlich kannen? Psychologen, Piidagogen, Sprachwis senschaftler und Psycholinguisten widmen sich in Gruppen - oder Einzelarbeit mit ihren Klienten diesem Thema. Sie versuchen allgemein das sprachliche Leistungsniveau zu heben und speziell geforderte Leistungen gesondert auszubilden. Gleichzeitig richten sie ihren Blick auf die sprachlichen Anfor derungen. Dann fragen sie etwa, ob Gebrauchsanweisungen, Lehrbi.icher und Manuale angemessen konzipiert, gestaltet und formuliert wurden, und 10 sie werden versuchen, die Anforderungen am Leistungsvermogen der Ziel gruppe auszurichten. Ganz gleich, ob eine pathologische Sprachstorung behoben, ein geringes sprachliches Leistungsvermogen verbessert, oder eine sprachliche An forderung adressatenbezogen ausgerichtet werden soIl, der Therapeut, Trainer oder Didaktiker muB, will er erfolgreich arbeiten, eingehende Kennt nisse tiber die Sprache des Menschen und den sprechenden Menschen besitzen. In dieser Hinsicht wird die Psycholinguistik als eine Grundlagen wissenschaft der hier angesprochenen Disziplinen verstanden. 1m medizini schen Curriculum finden wir sie in der rnedizinischen Psychologie versteckt. In der psychologischen Ausbildung treffen wir sie in der allgerneinen Ab teilung, wo sie entweder Psycholinguistik oder Sprachpsychologie genannt wird. In der Sprachheilpadagogik wird sie dringend gefordert. Die Logo paden verlangen (und erhalten zurneist) entsprechende Unterrichtung. Trai nern wird spezielle Fortbildung angeboten, und auch Didaktiker beziehen sich zunehmend auf psycholinguistische Erkenntnisse. Die Weitergabe grundsatzlichen psycholinguistischen Wissens an die wichtigsten Anwender scheint so einigermaBen gesichert. Doch bleibt zu fragen, ob die Verwendbarkeit dieses Wissens in der Praxis ausreichend gewahrleistet ist. Um zu verdeutlichen, daB dies nicht selbstverstandlich ist, wollen wir im folgenden zwischen Psycholinguistik als Grundlagenwis senschaft und Psycholinguistik als praxisorientierter Wissenschaft unter scheiden. Psycholinguistik. als Grundlagenwissenschaft Wer zum ersten Mal mit dem Wort Psycholinguistik konfrontiert ist, wird wohl fragen: Was ist die Psycholinguistik? Was mach en die Psycholingu isten? Solche globalen Fragen sind immer schwer zu bean tworten. Ein erster Versuch konnte lauten: Die Psycholinguistik ist die Wissenschaft yom sprechenden Menschen. Psycholinguisten versuchen also forschend zu erkunden, wie der sprechende Mensch funktioniert. Diese Antworten mogen einem vorUiufigen und noch groben Verstandnis dienen. Doch tut man wohl besser daran, die global en Fragen ganz systernatisch in Einzelfragen zu zerlegen, urn so prazisere Auskunft geben zu konnen. Daher unterstellen wir dem Fragenden, daB er Folgendes wissen mochte: - Wie hei/3en die Nachbardisziplinen der Psycholinguistik? - Was ist aus der Wissenschaftsgeschichte der Psycholinguistik hervorzu- heben '? 11 - Welcher Gegenstand wird genau in dieser Disziplin erforscht? - Wie wird Theoriebildung betrieben? - Welche Methoden werden eingesetzt? - Welche als gesichert geltenden Ergebnisse liegen vor? - Was hat das Ganze fUr einen Nutzen? Die Bezeichnung verweist bereits auf die wichtigsten Nachbardisziplinen, die Psychologie und die Linguistik. Da jede ernsthafte psycholinguistische Problemstellung psychische und sprachliche Aspekte miteinander ver knUpft, ist die Bezugnahme auf psychologische und linguistische Erkennt nisse schlicht selbstversUindlich. Wenn ein Psycholinguist z.B. die Perzep tion von Satzen erforscht. muB er einerseits auf psychologische Wahrneh mungs- und Informationsverarbeitungstheorien, andererseits auf linguistische Sprachstrukturtheorien Bezug nehmen. Doch neben der Psychologie und der Linguistik wird sich der Psycholinguist je nach Problemstellung der Medizin, der Padagogik, der Biologie, der Informatik und vielen anderen wissenschaft lichen Bereichen nahern. Halten wir fest, daB die Psycholinguistik in einem schon exemplarisch zu nennenden AusmaB interdisziplinar orientiert und kooperationsbereit ist. Diese Eigenschaft der Psycholinguistik spiegelt sich in den Stationen ihrer Wissenschaftsgeschich te wider. Die Bezeichn ung Psycholinguistik gelangte aus Nordamerika zu uns, und so wird auch immer wieder ihre GrUndung dort geortet. Anfang der 50er Jahre wurde in den USA ein Komitee gebildet, das Linguisten, Informationstheoretiker und Psychologen zu gemeinsamer Arbeit veranlassen sollte. Jede Disziplin, meinte man, habe ja Interessantes tiber Sprache zu vermelden. Wieviel besser mtiBten die Ergebnisse ausfallen, ftigte man nur aBe Interessen und Ergebnisse zu einem gemeinsamen Forschungsprogramm zusammen. Damit war die moderne Psycholinguistik entstanden. Genaueres lam sich in Osgoods "Psycholinguistics", einer Art Grtindungsdokument von hohem informativen Wert, nachlesen. Es sei aber dem MiBverstandnis vorgebeugt, daB es vor diesem Zeitpunkt keine Psycholinguistik gegeben habe. Orientiert man sich nicht an Bezeich nungen, sondern an ProblemsteBungen, so findet man in Wilhelm Wundt ihren eigentlichen Begrtinder. Der Philosoph, Physiologe und Psychologe Wundt, heute vornehmlich als Vater der experimentellen Psychologie bekannt, hatte bereits im Rahmen seiner Volkerpsychologie eine ausftihrliche und immer noch aktuelle Sprachpsychologie vorgelegt. Und eine Generation spater stoBen wir auf Karl BUhler, einen Psychologen, der gleichzeitig der linguistischen Prager Schule angehorte. Seine Sprachtheorie gilt zu Recht als ein herauszuhebendes Standardwerk der Psycholinguistik. 12 1m Gegensatz zum Linguisten geht es dem Psycholinguisten nicht urn Grammatiken. 1m Gegensatz zum Psycho1ogen will er nicht allgemeine Gesetze des Wahrnehmens, der Informationsverarbeitung, des Verhaltens etc. erkunden. Der Psycholinguist erforscht jene sprachspezifischen Pro zesse, die den Menschen kennzeichnen (vgl. Hormann, 1970, 1981). Da runter fallen die Sprachperzeption, die Sprachverarbeitung und die Sprachpro duktion, die aIle in eine Vielfalt von Teilprozessen aufzugliedern und in interagierenden Systemen wieder modellhaft zusammenzuftigen sind. Wobei diese Prozesse nicht als isolierte sprachliche Phanomene, sondern in ihrer Verbindung mit psychischen, heute insbesondere kognitiven Vorgangen erforscht werden. Darunter fallen der auBerschulische und schulische Erst und Zweitspracherwerb, die dabei auftretenden Storungen und ihre Behe bung sowie der Sprachabbau und Wiederaufbau beim Erwachsenen. Darunter fallen kommunikative Ablaufe zwischen Menschen, ob diese nun in unmit telbarem Kontakt oder vermittelt durch Medien (Buch, Radio, Fernsehen etc.) stattfinden. Darunter fallt schlieBlich die als problematisch erkannte Interaktion zwischen Mensch und Maschine. 1m Kern geht es immer urn die an Ausdrucksmittel gekntipften Wirkungsprozesse. Eine Theorie tiber Sprachprozesse ist aufgrund des dynamischen Charak ters ihres Gegenstandes von Theorien tiber statische Sprachstrukturen wohl zu unterscheiden. Wrr treffen daher in der Psycholinguistik haufig auf kybernetisch angelegte Theoriebildungen. Noch einen groBen Schritt weiter gehen viele Forscher mit der Forderung, psycholinguistische Theorien seien grundsatzlich genetisch zu konzipieren. Der in der Psycholinguistik intensiv beachtete Schweizer Erkenntnistheoretiker und Entwicklungspsychologe Piaget meinte: Will man wissen, wie etwas ist, dann wird man zu er kunden haben, wie es zu dem, was es ist, geworden ist. Der sowjetische Psychologe Wygotski, dem als erster eine tiberzeugende Darstellung des Zusammenhangs von Denken und Sprechen gelang, prazisierte diese Sicht in seiner historisch-genetischen Methode. So vielversprechend allerdings die theoretischen Ansatze in der Psycho linguistik erscheinen, so wenig darf doch ftir die nahe Zukunft eine umfas sende, aBe zentralen Aspekte berticksichtigende Theorie des sprechenden Menschen erwartet werden. Auf absehbare Zeit werden wir uns mit Teil theorien zu den genannten Prozessen begntigen mtissen und schon froh sein, wenn diese Theorien wenigstens in ihren Grundztigen tibereinstirnmen. Diese Einschrankung wird verstandlich, wenn man sich die Arbeit des Theoretikers verdeutlicht. Er hat nicht nur die sehr unterschiedlichen Sprachprozesse in seiner Theorie zu behandeln. Er muB dar tiber hinaus jeden FrozeB hinsichtlich