Sprach- wissenschaft – – Grammatik Interaktion Kognition Peter Auer (Hrsg.) Sprachwissenschaft Grammatik – Interaktion – Kognition Herausgegeben von Peter Auer Mit Beiträgen von Heike Behrens, Pia Bergmann, Alice Blumenthal-Dramé, Andrea Ender, Susanne Günthner, Martin Hilpert, Bernd Kortmann, Peter Öhl, Stefan Pfänder, Claudia Maria Riehl, Guido Seiler, Anja Stukenbrock, Benedikt Szmrecsanyi und Bernhard Wälchli Mit Abbildungen und Grafiken Verlag J. B. Metzler Stuttgart · Weimar Der Herausgeber Peter Auer ist Professor Germanistische Linguistik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. ISBN 978-3-476-02365-0 ISBN 978-3-476-00581-6 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-00581-6 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2013 Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprünglich erschienen bei J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2013 www.metzlerverlag.de [email protected] Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Vorwort IX 1 Einleitung (Peter Auer) 1 1.1 Sprache – Die vielen Facetten eines Untersuchungsgegenstands 1 1.1.1 Laute 1 1.1.2 Wörter 6 1.1.3 Sätze 10 1.1.4 Bedeutung 13 1.1.5 Text und Interaktion 14 1.2 Sprachwissenschaftliche Arbeitsgebiete 20 1.3 Paradigmen der Sprachwissenschaft 25 1.3.1 Historisch-vergleichende Sprachwissenschaft 26 1.3.2 Junggrammatiker 29 1.3.3 Strukturalismus 31 1.3.4 Generative Grammatik 34 1.3.5 Die ›pragmatische Wende‹ in der Linguistik 35 1.3.6 Neuere Entwicklungen 36 1.4 Und wozu brauchen wir das? 38 2 Laute (Pia B ergmann) 43 2.1 Einleitung 43 2.2 Gesprochene Sprache und Schrift 44 2.3 Die Substanz von Lauten 46 2.3.1 Akustische Phonetik 46 2.3.2 Artikulatorische Phonetik 52 2.3.3 Auditive Phonetik 57 2.4 Die Funktion von Lauten im Sprachsystem 60 2.4.1 Bedeutungsdifferenzierung: Das Phonem 60 2.4.2 Allophone 62 2.4.3 Distinktive Merkmale 63 2.5 Über Laut und Phonem hinaus 65 2.5.1 Koartikulation 67 2.5.2 Phonologische Prozesse 67 2.5.3 Prosodische Domänen und ihre Hierarchie 72 2.5.4 Suprasegmentalia 77 2.5.5 Funktionen der Prosodie: Grenzmarkierung und Akzentuierung 78 2.6 Lautsubstanz und Funktion 82 2.6.1 Die Trennung von Substanz und Funktion 83 2.6.2 Das Invarianz-Problem 84 2.6.3 Eine alternative Modellierung der mentalen Repräsentation: Die Exemplartheorie 86 3 Wörter (Bernhard Wälchli und Andrea Ender) 91 3.1 Grundbegriffe 91 3.2 Wie werden Wörter gebildet? 93 3.2.1 Morphologische Grundbegriffe 93 3.2.2 Das Morphem – oder die Segmentierung von Wörtern 96 3.2.3 Morphologische Prozesse, oder der Aufbau von Wörtern 98 3.2.4 Paradigmen, oder die Konstellation von Wörtern 100 3.2.5 Zwischen Wort und Satz 102 3.2.6 Lexikon und Wortbildung 106 V Inhaltsverzeichnis 3.3 Die Beziehung von Form und Bedeutung im Wort 109 3.3.1 Arbitrarität und Konventionalität von Wörtern 109 3.3.2 Zeichen und Konstruktionen 111 3.3.3 Grenzen der Arbitrarität: Ökonomie und Ikonizität 113 3.4 Was bedeuten Wörter? 117 3.4.1 Bedeutungen und ihre Bestandteile 117 3.4.2 Familienähnlichkeit und Prototypen 120 3.4.3 Paradigmatische Bedeutungs relationen 123 3.4.4 Übertragene Bedeutung 125 3.4.5 Wortfelder und Bedeutungsspektren 127 3.4.6 Semantik von Eigennamen 129 3.5 Wörter als Informationsträger 131 3.5.1 Wörter in Texten 131 3.5.2 Informationsgehalt und Sprachwandel 132 4 Wörter und Sätze (Peter Öhl und Guido Seiler) 137 4.1 Grundlagen und Überblick 137 4.2 Konstituenten, Phrasen, Köpfe 139 4.2.1 Konstituentenzerlegung 139 4.2.2 Phrasenstruktur 140 4.2.3 Konstituententests 143 4.3 Syntaktische Funktionen 145 4.3.1 Das Subjekt 146 4.3.2 Objekte 147 4.3.3 Adverbiale 149 4.3.4 Das Pronomen es 151 4.3.5 Attribute 152 4.4 Argumentstruktur 154 4.4.1 Grundlagen 154 4.4.2 Dependenz und Valenz 154 4.4.3 Arten der Valenz 156 4.4.4 Freie Angaben vs. obligate und fakultative Argumente 159 4.4.5 Passivierung und Transitivität 161 4.5 Topologisches Feldermodell, eingebettete Sätze und Satzarten 164 4.5.1 Das topologische Feldermodell 164 4.5.2 Verbstellung in eingebetteten Sätzen 167 4.5.3 Verbstellungstypen und Satzarten 168 4.6 Abfolge der Satzglieder 170 4.6.1 Basisstruktur und Informationsstruktur 170 4.6.2 Abfolgeregularitäten im Mittelfeld 171 4.6.3 Topik-Kommentar-Gliederung in Hauptsätzen 173 4.7 Analyse des Gesamtsatzes 174 4.7.1 Vollständige topologische Satzanalyse 174 4.7.2 Satzanalyse in einer Phrasen strukturgrammatik 175 4.7.3 Das generative Phrasenstrukturmodell 178 4.7.4 Das CP-IP-Modell in Bezug auf das topologische Feldermodell 182 5 Satz und Text (Martin Hilpert) 187 5.1 Grundbegriffe 187 5.1.1 Satz 187 5.1.2 Text 189 5.1.3 Parataxe und Hypotaxe 190 5.1.4 Koordination, Subordination, Integration 192 5.1.5 Koreferenz 193 VI Inhaltsverzeichnis 5.2 Typen integrierter Sätze 195 5.2.1 Koordinierte Sätze 195 5.2.2 Adverbialsätze 195 5.2.3 Relativsätze 197 5.2.4 Komplementsätze 198 5.2.5 Infinitiv- und Partizipialsätze 199 5.3 Zur Entstehung der Hypotaxe 203 5.4 Satz- und Textverstehen – Modelle und Mechanismen 205 5.4.1 Parsing einfacher Sätze 205 5.4.2 Verarbeitung von Anaphern 210 5.4.3 Textverstehen 212 6 Sprachliche Interaktion (Anja Stukenbrock) 217 6.1 Grundbegriffe: Sprache als Handeln 217 6.2 Sprechakttheorie 218 6.3 Ethnomethodologie 220 6.4 Konversationsanalyse 223 6.4.1 Grundannahmen und Methoden 223 6.4.2 Sequenzielle Organisation 230 6.4.3 Präferenzorganisation 233 6.4.4 Sprecherwechsel (turn-taking) 235 6.4.5 Reparaturen 241 6.5 Interaktionale Linguistik 246 6.6 Multimodalität 252 7 Variation und Wandel (Benedikt Szmrecsanyi) 261 7.1 Begriffsklärung und Überblick 261 7.2 Sprachinterne Einflussfaktoren auf sprachliche Variation 263 7.2.1 Lautliche Faktoren 263 7.2.2 Grammatische Faktoren 264 7.2.3 Lexikalisch-semantische Faktoren 265 7.2.4 Pragmatische Faktoren 266 7.2.5 Prozessierungsfaktoren 268 7.3 Außersprachliche Dimensionen sprachlicher Variation 270 7.3.1 Diatopische Variation 270 7.3.2 Diaphasische Variation 272 7.3.3 Diachrone Variation 274 7.3.4 Diastratische Variation 276 7.3.5 Gender 277 7.4 Sprachwandel im Licht der Variationslinguistik 278 8 Die Verschiedenheit der Sprachen (Alice Blumenthal-Dramé und Bernd Kortmann) 285 8.1 Grundbegriffe 285 8.1.1 Sprachtypologie und Universalien 285 8.1.2 Typologie als Zweig der komparativen Linguistik 290 8.1.3 Funktionale Gründe für Ähnlichkeiten zwischen Sprachen 293 8.2 Wichtige typologische Parameter 298 8.2.1 Relationale Typologie 298 8.2.2 Wortstellungstypologie 299 8.2.3 Morphologische Sprachtypen 302 8.3 Arealtypologie (am Beispiel Europas) 307 9 Die Entstehung von Sprache (Heike Behrens und Stefan Pfänder) 319 9.1 Grundlagen 319 9.2 Sprachentstehung in der Phylogenese 319 VII Inhaltsverzeichnis 9.3 Sprachentwicklung beim Kind 322 9.3.1 Die Rolle der Umwelt für den Spracherwerb 323 9.3.2 Der Verlauf des ungestörten Spracherwerbs 326 9.3.3 Generalisierung von sprachlichem Wissen 331 9.4 Die Entstehung von Pidgins und Kreolsprachen 332 9.4.1 Roots of Language 334 9.4.2 Kreolkinder: Sprachlerner ohne grammatischen Input? 335 9.4.3 Haben alle Kreolsprachen dieselbe Syntax? 335 9.4.4 Ist die Ähnlichkeit der Kreolsprachen biologisch-genetisch oder kognitiv- interaktional bedingt? 337 10 Sprache und Kultur (Susanne Günthner) 347 10.1 Einleitung 347 10.2 Die Erforschung sprachlicher Handlungen im kulturellen Kontext 350 10.3 Schlüsselkonzepte 353 10.4 Kommunikative Gattungen 357 10.5 Sprache und Geschlecht 361 10.6 Sprache, Denken, Wirklichkeit 367 10.7 Doing Culture – die interaktive Konstruktion von Kultur 369 11 Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (Claudia Maria Riehl) 377 11.1 Mehrsprachigkeit 377 11.1.1 Typen von Mehrsprachigkeit 377 11.1.2 Erwerb von Mehrsprachigkeit 378 11.1.3 Mentale Repräsentation von Mehrsprachigkeit 382 11.1.4 Code-Switching 384 11.2 Sprachkontakt 390 11.2.1 Was ist Sprachkontakt? 390 11.2.2 Formen des Sprachkontakts 391 11.2.3 Entwicklungstendenzen im Sprachkontakt 397 11.3 Mischsprachen 398 11.3.1 Pidgin- und Kreolsprachen 398 11.3.2 Sprachliche Charakteristika von Pidgins 399 11.3.3 Zur Entstehung von Pidginsprachen 400 11.3.4 Bilinguale Mischsprachen 401 Anhang 405 1 Literaturverzeichnis 407 1.1 Grundlagenwerke, Zeitschriften, Internet-Ressourcen 407 1.2 Zitierte Literatur 409 2 Abkürzungen für grammatische Kategorien 430 3 Materialien 432 3.1 Phonetische Transkriptionskonventionen (IPA) 432 3.2 Konversationsanalytische Transkriptionskonventionen (GAT2) 433 4 Lösungen der Aufgaben 436 5 Die Autorinnen und Autoren 457 6 Bildquellenverzeichnis 457 7 Sachregister 459 VIII Vorwort Vorwort Diese Einführung versteht sich als ein Grundlagen- Wir haben uns nicht auf die sog. Kerngebiete buch der Linguistik, das nicht auf eine bestimmte der Linguistik – nämlich die Grammatik und Pho- Philologie hin orientiert ist. Es führt in die Struktur nologie – beschränkt, weil wir davon überzeugt von Sprachen, ihre Verwendung und ihre kognitive sind, dass Sprache kein abstraktes System ist; es Repräsentation ein. Es geht darum, was menschli- kann weder von seiner kognitiven Repräsentation che Sprache ist und wie man sie analysieren kann. und Verarbeitung noch von seiner interaktionalen Es liegt in der Natur der Sache, dass es im Rahmen Funktion als Ressource des Kommunizierens und einer Einführung, die in erster Linie für deutsch- Sich-Verstehens getrennt werden. Aus diesem Grund sprachige Studierende geschrieben ist, trotzdem finden sich in diesem Buch auch (Teil-) Kapitel, die ein gewisses Übergewicht deutscher Beispiele gibt. man in vielen (deutschsprachigen) Einführungen Manche Kapitel setzen aber den Schwerpunkt auch vergeblich suchen wird – von der Sprachverarbei- auf eine andere Sprache, und mehrere Kapitel wid- tung bis zur Kreolistik, von der multimodalen In- men sich der Verschiedenheit der Sprachen der teraktionsanalyse bis zum Code-Switching, von der Welt sowie den Unterschieden zwischen Sprachge- Sprachtypologie bis zur anthropologischen Lingu- meinschaften. Sie fragen danach, wie solche Unter- istik. Dennoch gibt es natürlich auch Lücken, vor schiede typisiert und erklärt werden können. Ein allem in den mehr anwendungsbezogenen Berei- weiteres Kapitel beschreibt Mehrsprachigkeit und chen der Linguistik, etwa der Computerlinguistik Sprachkontakt als grundlegende Eigenschaften von und linguistischen Informatik. Sprechern und Sprachen, ein anderes befasst sich Dies ist ein Gemeinschaftswerk; die einzelnen mit der Frage, wie neue Sprachen entstehen und Kapitel wurden von verschiedenen Linguisten und wie sich Kinder die Sprache(n) ihrer Umgebung Linguistinnen geschrieben, die Spezialisten für das aneignen. Andererseits ist das Buch keineswegs jeweilige Gebiet sind. Als Herausgeber habe ich (nur) für Studierende der allgemeinen Sprachwis- versucht, die Argumentations- und Schreibweisen senschaft geschrieben; vielmehr sollten alle, die über die Kapitel hinweg anzugleichen – mehr als ein philologisches Fach studieren und dabei mit ich das sonst bei einem herausgegebenen Band ge- Sprache zu tun haben, von der Lektüre des Buchs macht hätte – und dabei verständlicherweise nicht oder einzelner Teile daraus profitieren können. immer nur für Begeisterung gesorgt. Deshalb ge- Umfang und Aufbau des Buchs machen schon bührt an dieser Stelle allen Autoren und Autorin- klar, dass wir uns nicht auf die Kondensierung des nen mein Dank für ihre Bereitschaft, sich auf die- sprachwissenschaftlichen Wissens in Form jener ses Buch einzulassen und daran in all den Phasen Mikrodosierungen beschränkt haben, die unter mitzuarbeiten, die dafür notwendig waren. Zu Titeln wie »Kompaktwissen Germanistik« oder stark theorieabhängige Auffassungen haben wir »Sprachwissenschaft für’s B. A.-Studium« verkauft übrigens vermieden; dennoch wird bei der Lektüre werden. Das vorliegende Buch lässt sich nicht in nicht zu übersehen sein, dass die Verfasser der Ka- wenigen Stunden überfliegen, denn es will mehr, pitel teils unterschiedlichen Richtungen in der Lin- als nur einen groben, ersten Eindruck von der Lin- guistik angehören. Das ist durchaus beabsichtigt. guistik zu vermitteln. Zwar ist der Text so ge- Verschiedenen Personen haben wir zu danken: schrieben, dass er von jedem und jeder ohne wei- Pia Bergmann dankt Ulrike Gut für inhaltliche tere Vorkenntnisse gelesen und verstanden werden Kommentare und Michaela Oberwinkler für die kann; dabei haben wir jedoch die Komplexität des Übersetzung aus dem Japanischen, Stefan Pfänder Gegenstands ›Sprache‹ nicht trivialisiert und ver- dankt Philippe Maurer, Joseph Farquharson und sucht, den erreichten Forschungsstand in der Maximilian Feichtner, und Peter Auer dankt Anni- Sprachwissenschaft zumindest in Ansätzen er- ka Hörenberg für die geduldige und extrem genaue kennbar werden zu lassen. Wir hoffen, dass das Durchsicht des Manuskripts sowie Ute Hecht- Buch auf diese Weise nicht nur ein Grundlagen- fischer vom Metzler-Verlag, die bewiesen hat, dass buch für Einführungsveranstaltungen werden kann, es in wissenschaftlichen Verlagen auch heute noch sondern linguistisch interessierte Studierende auf ein Lektorat geben kann! B. A.-Level sowie Master-Studierende sprachwis- senschaftlicher Fächer bis zu ihrem Examen be- Freiburg, im Juli 2013 gleiten wird. Peter Auer IX 1.1 1 Einleitung 1.1 Sprache – Die vielen Facetten eines Untersuchungsgegenstands 1.2 Sprachwissenschaftliche Arbeitsgebiete 1.3 Paradigmen der Sprachwissenschaft 1.4 Und wozu brauchen wir das? 1.1 | Sprache – Die vielen Facetten eines Untersuchungsgegenstands Natürlich kann Sprache die Welt verändern. Dazu stande, die die aus seiner Lunge entweichende sind keine großen rhetorischen Anstrengungen nö- Luft v. a. in Kehlkopf, Mund- und Rachenraum auf tig; einfache, ungeschliffene und zögerliche Äuße- verschiedene Weise modulierten. Da die Äuße- rungen haben manchmal ungeheure Effekte. Eine rung – dem Anlass einer Pressekonferenz entspre- historische, dabei recht unspektakulär daherkom- chend – aufgezeichnet wurde, können wir diese mende sprachliche Äußerung war zum Beispiel Schallwelle immer noch darstellen (s. Abb. 1). die folgende: Eine solche Darstellung der Schallwelle in ei- nem Oszillogramm sagt natürlich noch überhaupt (1) das tritt nach meiner Kenntnis is das sofort, unverzüglich nichts über Sprache aus. Das menschliche Ohr, auf das eine solche Schallwelle trifft, ist jedoch in der Mit dieser Äußerung in einer vom DDR-Fernsehen Lage, sie so zu analysieren, dass im Gehirn des live übertragenen Pressekonferenz löste bekannt- Hörers daraus die Laute einer Sprache – des Deut- lich SED-Politbüromitglied Günter Schabowski am schen – erkennbar werden. Das konnten auch die 9.11.1989 um ca. 19 Uhr eine Entwicklung aus, die Teilnehmer der Pressekonferenz und die Zuschau- wesentlich zum Untergang eines ganzen Staates er an den Fernsehgeräten in der DDR. Mit Mitteln beitrug. Nehmen wir dieses Beispiel, um zu erläu- der Physik ist es möglich, etwas Vergleichbares zu tern, aus welch unterschiedlichen Perspektiven sich tun und die komplexe Welle in die einzelnen die Sprachwissenschaft heute ihrem Gegenstand Schwingungen zu zerlegen, aus denen sie zusam- nähert. Die Analyse des Beispiels wird uns zeigen, mengesetzt ist. Eine solche sog. Fourier-Analyse wie komplex der Untersuchungsgegenstand ›Spra- und das daraus resultierende Spektrogramm las- che‹ ist – und zwar selbst dann, wenn wir uns mit sen – anders als das einfache Oszillogramm in Ab- sehr trivialen Äußerungen beschäftigen. bildung (1) – ›Verdichtungen‹ im Frequenzspek- trum (sog. Formanten) erkennen, die man mit einzelnen gehörten Lauten oder Lautkombinatio- nen korrelieren kann. In Abbildung (2) ist zum 1.1.1 | Laute Beispiel das Wort meiner aus dem Munde Scha- bowskis (das etwa 0.4 Sekunden dauert) heraus- Lautgestalt: Zunächst war die Äußerung in (1) gegriffen und sein Frequenzspektrum so in der physikalisch gesehen nichts anderes als eine kom- Zeit aufgelöst, dass Formanten im Bereich bis zu plexe Schallwelle von knapp 5 Sekunden Dauer, 2000 Hz und damit eine gewisse Struktur sichtbar die an jenem Tag von einem bestimmten Sprecher werden. Spezialisten können solche Spektralana- produziert wurde – ein in dieser Form einmaliges lysen ›lesen‹ und mit einer gewissen Wahrschein- Schallereignis. Es kam durch das Zusammenspiel lichkeit darin bestimmte Muster erkennen. Die x- der Artikulationsorgane Günter Schabowskis zu- Achse entspricht dem Zeitverlauf, die untere Abb. 1: Oszillogramm der Äußerung in (1) 1