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Sprache und Tabu: Interpretationen zu französischen und italienischen Euphemismen PDF

468 Pages·2009·2.523 MB·German
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BEIHEFTEZUR ZEITSCHRIFTF(cid:1)RROMANISCHEPHILOLOGIE BEGR(cid:1)NDETVONGUSTAVGR(cid:2)BER HERAUSGEGEBENVONG(cid:1)NTERHOLTUS Band346 URSULA REUTNER Sprache und Tabu Interpretationen zu franzçsischen und italienischen Euphemismen n MAX NIEMEYERVERLAG T(cid:1)BINGEN 2009 Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort BibliografischeInformationderDeutschenNationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National- bibliografie;detailliertebibliografischeDatensindimInternet(cid:1)berhttp://dnb.ddb.deabrufbar. ISBN978-3-484-52346-3 ISSN0084-5396 (cid:2)MaxNiemeyerVerlag,T(cid:1)bingen2009 EinImprintderWalterdeGruyterGmbH&Co.KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich gesch(cid:1)tzt. Jede Verwertung außerhalb derengen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes istohne Zustimmungdes Verlages unzul(cid:3)ssigundstrafbar.Dasgiltinsbesonderef(cid:1)rVervielf(cid:3)ltigungen,(cid:4)bersetzungen,Mikro- verfilmungenunddieEinspeicherungundVerarbeitunginelektronischenSystemen. PrintedinGermany. Gedrucktaufalterungsbest(cid:3)ndigemPapier. Satz:JohannaBoy,Brennberg Gesamtherstellung:Hubert&Co.,Gçttingen Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung. Zielsetzung und Aufbau der Untersuchung . . . . . . . . . . . 1 2. Begriffl iche Vorklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.1 Tabu und Tabuisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.1.1 Zum Tabubegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.1.2 Vom Themen- zum Lauttabu. Ein Kontinuum . . . . . . 12 2.1.3 Tabuisierung aus zeichentheoretischer Sicht . . . . . . . . 14 2.2 Tabuisierung und Enttabuisierung. Der Euphemismus . . . . . . . 19 2.2.1 Auswertung historischer und aktueller Defi nitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.2.2 Über Motive und Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.2.3 Zu Euphemismen aus soziolinguistischer Sicht . . . . . 31 2.3 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3. Tabubereiche im französischen und italienischen Wortschatz . . . . . 37 3.1 Technische Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3.1.1 Zur Wahl lexikographischer Korpora . . . . . . . . . . . . . . 37 3.1.2 Zur Erstellung und Darstellung der Korpora . . . . . . . 39 3.2 Euphemismen einzelner Bereiche im Vergleich . . . . . . . . . . . . . 42 3.2.1 Glaube, Aberglaube und Magie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 3.2.2 Sterben und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3.2.3 Krankheiten und andere Einschränkungen . . . . . . . . . 53 3.2.4 Eigenschaften und Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . . . . 56 3.2.5 Liebes- und Sexualleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.2.6 Körperteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.2.7 Weiblicher Lebenszyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3.2.8 Toilettengang und Toilette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 3.2.9 Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung und Militär . . . . . . 80 3.3 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 4. Auswertung der Korpora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4.1 Zur lexikographischen Behandlung von Euphemismen . . . . . 85 4.1.1 Zur Systematik der Markierungskennzeichnung . . . . 85 4.1.2 Markierungsangaben im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . 94 4.1.3 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 V 4.2 Vergleiche zu den von Sprachtabus belegten Themenbereichen der Korpora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4.2.1 Der euphemistische Ertrag beider Korpora im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4.2.2 Sprachtabus als Ergebnisse von Umfragen . . . . . . . . . 109 4.2.3 Weitere Aufstellungen zu Euphemismen . . . . . . . . . . . 116 4.2.4 Resüme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 4.3 Zum Kontinuum der Arten euphemistischer Neuperspektivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 4.3.1 Formale Modifi kationen des Signifi kanten . . . . . . . . 121 4.3.1.1 Kürzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 4.3.1.2 Deformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .124 4.3.2 Semantischer Ersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 4.3.2.1 Lexikon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 4.3.2.2 Vom Lexikon zur Morphosyntax . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 4.3.3 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 5. Zur Einteilung und Raison d’être der Euphemismen . . . . . . . . . . . . . 155 5.1 «Ethik und Religion». Sprachliche Verhaltenskodizes zwischen Furcht und Scham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 5.1.1 Mythisch-religiöses Sprachdenken und Wortverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 5.1.2 Blasphemie auf der Basis von Christentum, Kirche und Magie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 5.1.2.1 Das Alte Testament. Vom Dekalog bis Hiob . . . . . . . 161 5.1.2.2 Über Blasphemie in Kirchengeschichte und weltlicher Legisl ative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 5.1.2.3 Psychologische Aspekte blasphemischen Fluchens. Zur Funktion tabuisierter Ausdrücke und zur Genese von Euphemismen . . . . . . . . . . . . . . . 170 5.1.2.4 Zu Veränderungen im Charakter der Flüche. Le mot de Cambronne als Wendepunkt. . . . . . . . . . . . 176 5.1.3 Sprachtabus bei Krankheit und Tod . . . . . . . . . . . . . . . 182 5.1.3.1 Krankheiten zwischen Furcht und Scham . . . . . . . . . . 182 5.1.3.2 Das Ende des Lebens. Zwischen Furcht und Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 5.1.4 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 5.2 «Ethik und Ästhetik». Rücksichtnahme im Verhalten und Sprachverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 5.2.1 Die Epoche von Renaissance und Humanismus als Markstein im Zivilisationsprozess. Italien als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 5.2.1.1 Zum Stellenwert der Sprache in Castigliones Cortegiano . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 VI 5.2.1.2 Giovanni della Casas Galateo als Schule der Höfl ichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 5.2.1.3 Stefano Guazzos Civil conversazione . . . . . . . . . . . . . . 212 5.2.1.4 Zwischenresümee. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 5.2.2 Die Entwicklung in Frankreich. Von der Kritik am Hofl eben zum Preziösentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 5.2.2.1 Heinrich IV. und das Hôtel de Rambouillet . . . . . . . 216 5.2.2.2 Sprachethik, Ästhetik und Distinktionswille. Die Preziösität und der Euphemismus . . . . . . . . . . . . 222 5.2.2.3 Zwischenresümee. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 5.2.3 Zur allgemeinen Charakteristik der weiteren Entwicklung der Manieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 5.2.3.1 Die Verinnerlichung des Schamgefühls . . . . . . . . . . . . 234 5.2.3.2 Das Abstecken der Schamgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 5.2.4 Achtung und Selbstachtung im Spiegel des Wortschatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 5.2.4.1 Liebes- und Sexualleben im Wandel des Schamgefühls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 5.2.4.2 Nacktheit und Prüderie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 5.2.4.3 Der weibliche Lebenszyklus zwischen Dämonisierung und Normalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 5.2.4.4 Skatologie. Von der Unbefangenheit zur Scham . . . . 261 5.2.5 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 5.3 «Ethik und Sozialpolitik». Die Politische Korrektheit und vergleichbare Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 5.3.1 Entstehung und Geschichte. Die Wurzeln in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 5.3.1.1 Der soziokulturelle Kontext der Entstehung . . . . . . . 270 5.3.1.2 Die Gesellschaft der Opfer sowie Ridikülisierung und Erweiterung des Ausdrucks politically correct . . 275 5.3.2 Zur Kontroverse um den Sinn «politisch korrekten Sprachgeb rauchs» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 5.3.2.1 Die Macht der Sprache und ihre Ideologiebesetztheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 5.3.2.2 Die Frage der Wertepräferenz innerhalb einer Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 5.3.2.3 Der Euphemismus zwischen Sprache und Denken . . 296 5.3.3 Vom politically correct zum politiquement correct bzw. politicamente corretto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 5.3.3.1 Der unterschiedliche soziokulturelle Kontext . . . . . . . 312 5.3.3.2 Die Ausweitung des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 5.3.4 Politisch korrekte Euphemismen thematisch geordnet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 5.3.4.1 Rasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 VII 5.3.4.2 Physische Einschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 5.3.4.3 Alter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 5.3.4.4 Sexuelle Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 5.3.4.5 Geringes Sozialprestige. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 5.3.5 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 5.4 «Ethik ohne Moral». Profi t- und Profi lierungsdenken im öffentlichen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 5.4.1 Defi nitorische Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 5.4.1.1 Die Notwendigkeit der Abgrenzung zur Politischen Korrektheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 5.4.1.2 Die Unterschiede zum doublespeak . . . . . . . . . . . . . . . 370 5.4.1.3 Sprachtäuschung, Lüge und die Frage der Relation zwischen Bezeichnung und Realität . . . 372 5.4.1.4 «Ethik und Sozialpolitik» oder «Ethik ohne Moral» als Frage der Perspektive . . . . . 374 5.4.2 Euphemismen ohne Moral unter thematischem Aspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 5.4.2.1 Arbeit, Arbeitslosigkeit und die neue Wirtschaftsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 5.4.2.2 Kriegsereignisse und kriegerische Handlungen . . . . . 383 5.4.3 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 6. Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 6.1 Rückblick: Lexikographische und kulturhistorische Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 6.2 Refl exe: Qualis homo, talis eius oratio? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 6.3 Resümee: Das Phänomen Euphemismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Wortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 VIII 1. Einleitung. Zielsetzung und Aufbau der Untersuchung Sprachwissenschaft, richtig verstanden, ist Erfors chung der Welt mit allem, was darin ist, allem Irdischen und allem Seelischen, ist Form und Inhalt des menschli- chen Denkens. Elise Richter Das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein bestimmter Tabus in einer Gesellschaft ist ein exzellentes Kriterium, um Aussagen zum Entwicklungs- stand ihrer civilité und zu ihrem kulturellen Selbstverständnis zu treffen, und kann als Ausdruck ihrer Mentalität und ihrer Wahrnehmung der Realität interpretiert werden. Es handelt sich dabei um Verhaltensgebote mythisch- religiöser oder profaner Natur, teilweise sogar um strafbewehrte Verbote, deren Existenz und Stellenwert dem gesell schaftlichen Wandel unterliegen und daher je nach Gesellschaft und Zeitr aum unterschiedliche Ausprägungen erfahren. Als Bestandteile eines Verhaltenskodexes betreffen Tabus immer auch sprachl iches Verhalten, in dem sie in einem Kontin uum greifbar wer- den, das vom Schweigen oder vom Verschweigen tabuisierter Themen oder Aus drucksweisen bis zu deren vielfältigen euphemistischen Ersatzmöglich- keiten reicht. Aufgrund der soziokulturellen Bedingtheit von Tabus impli- ziert dies eine in jeder Sprachkultur unterschiedlich erfolgende Entwicklung von Bezeichnungsmöglichkeiten, mit deren Hilfe die jeweils wirksamen Ar- ten sprachlicher Tabuisierung in der Gesellschaft um gangen werden können. Dabei drängt sich zunächst die Frage auf, ob angesichts der heute weit- gefassten Semantik von Tabu, die ursprünglich auf den kultischen Bereich begrenzt war, (2.1.1) die verschiedenen Arten sprachlicher Äußerungsbe- schränkungen immer noch unter einem einzigen Begriff, dem des sprachli- chen Tabus, subsumiert bzw. auf einen gemeinsamen Nenner gebracht wer- den können (2.1.2). Schließlich handelt es sich dabei um Phänomene, die entweder aus der Tradition heraus okt royiert erscheinen oder mit unter- schiedlicher Zielsetzung und Beg ründung meist zeit- und gesellschaftsspezi- fi sch neu oder wiederholt selbst aufer legt werden. Zu Ersteren gehören vor allem die Tabus des magischen und religiö sen Bereichs, zu Letzteren, den profanen Tabus, so unterschiedliche Erschei nungen wie das viel leicht zuviel belächelte Preziösentum im Frankreich des 17. Jahrhunderts oder neueren Datums die Politische Korrektheit. Dazu stellt sich auch die von der Dis- 1 kussion oft auf Sach- oder Sprachtabu zentrierte Frage, was denn eigentlich tabui siert wird, eine Frage, die zeichentheoretisch klar beantwortet werden kann (2.1.3). Die damit präzisierte sprachliche Tabuisierung hängt genetisch eng mit der von ihr ausgelösten Enttabuisierung zusammen. Letztere fi ndet ihren Ausdruck in den vielfältigen Erscheinungsformen, die unter dem Be- griff des Euphem ismus zusammengefasst werden. Dieser vielschichtig gese- hene Begriff ist auf der Basis der bestehenden Defi nitionen nicht einfach zu greifen (2.2.1) und in seinen Motiven und Funktionen (2.2.2) sowie soziolin- guistisch (2.2.3) zu erfassen, kann aber unbestrit ten als der geeignetste Maß- stab für das Erkennen und Bewerten sprachlicher Tabuisierung im Wort- schatz gelten. Denn er dient dazu, den sprachl ichen Tabubruch zu vermeid en, der eben erst durch die euphemistische Bezeichnung als onomasiolo gische Umgehung von Sprachtabus greifbar wird. Obwohl diese Sachverhalte weitgehend bekannt sind, fanden der Ver- gleich zweier Sprachen und damit auch die sich aus ihm möglicher weise ergeben den Erkenntnisse in der Sprachtabuforschung bislang noch keine systematische Beachtung. Hierfür wurden die französische und italienische Sprache ausgewählt, deren Sprecher sich zwar in ihrem Sprachverh alten und ihrer Mentalität sowie in ihren traditionellen Sitten und Gebräuchen klar un- terscheiden, die aber gleichzeitig zu zwei für die europäische Kulturgeschichte phasenweise besonders richtungsweisenden Sprachkulturen gehören, deren Entwicklung über Jahrhunderte eng miteinander vernetzt war, so dass sich die jeweils zivilisatorische Bedingtheit von Tabu und Euphemismus hier in exemplarischer Weise auftut. Dabei lässt sich sehr schnell erkennen, dass die Euphemismusforschung in den beiden Sprachen bisher sehr unterschiedlichen Stellenwert hat. Seit Nyrop (1913) im siebten Buch des vierten Bandes seiner Grammaire historique eine aus führliche und materialreiche Behandlung des Themas vorgelegt hat, sind zum Französischen keine vergleichb aren Darstel- lungen mehr erschienen, sondern led iglich Aufsätze zu Einzelphän omenen oder -fragen. Lebsanft bezeichnet es daher zu Recht als «parent pauvre ro- manistischer Sprachtabu- und Euphemismusfors chung» (1997, 112) und gibt selbst einen sehr anregenden «Anstoß zu einer neuen Form der Analyse von Sprachtabu und Euphemismus als sprach- und kult urhistorischen Phänome- nen» (1997, 125). Für das Italienische ist als umfas sende Untersuchung v.a. diejenige von Nora Galli de’ Paratesi (1964) zu nennen, ferner die thematisch auf Ers atzmechanismen begrenzte Arbeit von Widłak (1970) und die dem Teilbereich des sexuell-erotischen Vokabulars gewidmete Studie von Radt- ke (1980), die auch Hinweise auf andere romanische Sprachen enthält. Es handelt sich also durchweg um ältere Arbeiten, die angesichts der Ent- und Neutabuisierung, wie sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgte, den aktuellen Euphemismenstand nicht mehr belegen können.1 1 Zum Stand in anderen romanischen Sprachen cf. zum Portugiesischen die material- 2

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