ebook img

Spinnen - Sinne PDF

2004·3.5 MB·German
Save to my drive
Quick download
Download
Most books are stored in the elastic cloud where traffic is expensive. For this reason, we have a limit on daily download.

Preview Spinnen - Sinne

© Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Spinnen - Sinne F.G. BARTH Abstract: Spider - Senses. Spiders show a wealth of complex behavior which relies on a corresponding richness of sensory capabilities. They represent a large group of arthropods and their sensors and nervous systems and the roles played by them in the guidance and programming of behavior such as prey capture, web building, courtship and reproduction deserve our attention both in their own right and from a com- parative point of view. This review introduces to the diversity of spider sensory systems. It highlights their specializations as interfaces and filters mediating between the environment and behavior. As will be seen, some of the evolutionary achievements exhibited by spider sensors are outstanding, even when considered at the larger scale of animal sensors in general. The "clever design" of the sensors way out in the periphery to a large extent also explains why spider behavior may be so complex despite the small size of the spider central nervous system. Key words: Sensory systems, spiders, neuroethology, neurophysiology. „Einst hatten wir uns gestanden, wie wir samkeit verdienen. Diese erzählen dem Spinnen hassten und uns vor Spinnen ekel- Kundigen die spannendsten aller Geschich- ten und sie fürchteten. Wir versicherten uns ten, ganz ohne Mythologie und Magie. gegenseitig, dass wir tot umfallen würden, Leben ohne Sinnesorgane und die wenn je eine Spinne es wagen sollte, auch nachgeschalteten nervösen Strukturen und nur über einen von unseren Holzpantinen Leistungen ist kaum denkbar. Jeder Orga- zu krabbeln." (REINIG 1991) nismus, von den Bakterien bis hinauf zum Menschen, bedarf ausreichender Informa- Vorbemerkung tion über die Umwelt, in der er lebt, und über die Zustände, die in seinem eigenen Die Liebe zu den Spinnen ist für viele Körper herrschen. Weder „sinnvolles" Ver- Zeitgenossen eine unverständliche Eigen- halten noch Homöostase wären ohne Sinne schaft einiger weniger Forscher, deren Neu- möglich. So kann es nicht verwundern, dass gierde auf Abwege geraten zu sein scheint. wir in der belebten Natur eine faszinierende Welch eine enge Sicht der Dinge! Zunächst Fülle und Diversität von sensorischen Syste- ist festzuhalten, dass die in unseren Breiten men finden. Diese bestechen immer wieder weitverbreitete Antipathie gegen Spinnen sowohl wegen des aus technischer Sicht ein in vielen anderen Kulturen gänzlich un- perfekten „Designs" und extremer Leistungs- bekanntes Phänomen ist. Zahlreiche Erzäh- fähigkeit als auch wegen der bei genauer lungen aus der indianischen Mythologie Analyse sich offenbarenden, oftmals bis ins und wundervolle „Anansi"-Geschichten aus feinste Detail gehenden Angepasstheit an Afrika sind beredte Beispiele dafür. Es soll die artspezifischen, vom Verhalten in einem hier jedoch nicht ein Essay über Arachno- speziellen Habitat her zu denkenden Anfor- phobie und Arachnophilie geschrieben wer- derungen an die Verfügbarkeit ganz be- den, zumal sich der Autor längst auf die Sei- stimmter, meist stark gefilterter Information. te der oben genannten merkwürdigen For- scher geschlagen hat. Vielmehr wird es da- Spinnen sind (auch) in dieser Hinsicht rum gehen zu zeigen, dass Spinnen schon bemerkenswerte Kreaturen. Die Erfolgsge- Denisia 12, zugleich Kataloge allein wegen ihrer Sinne unsere Aufmerk- der OÖ. Landesmuseen schichte der etwa 40.000 bisher beschriebe- Neue Serie 14 (2004). 63-92 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at nen Arten, die Fülle der von ihnen untergeordnete Rolle spielen. Spinnen le- bewohnten Habitate und ihre Individuen- ben in einer Welt voller mechanischer Rei- zahlen und ganz besonders ihr komplexes ze: in einer Welt voller Vibrationen, wie die Verhalten sind ohne eine reichhaltige Aus- im Spinnennetz, und einer Welt voller Luft- stattung mit leistungsfähigen sensorischen strömungsreize; zudem verfügen sie über ei- Systemen nicht vorstellbar. Die etwa 400 nen Dehnungs-Sinn, der uns gänzlich fehlt Millionen Jahre dauernde evolutionäre Ge- und ihnen ein ständiges hochauflösendes schichte der Spinnen hat in der Tat „Sensor- „Bild" von den mechanischen Vorgängen in Konstruktionen" faszinierender Qualität ihrem Außenskelett verschafft. Bei einer hervorgebracht. Der Selektionsdruck auf Reihe von Spinnen spielt auch der Ge- den sensorischen Systemen muss groß gewe- sichtssinn eine hervorragende Rolle: bei den sen sein. Die ständige Rückkopplung mit tagaktiven Spring- und Wolfspinnen etwa, der Erfahrung hat das „Weltbild" der Spin- oder auch bei den nachtaktiven Käscher- nen ständig berichtigt und verfeinert. spinnen. Ohne Zweifel ist die von den Sin- nesorganen vermittelte und im zentralen Spinnen sehen und schmecken, sie ha- Nervensystem gestaltete Spinnenwelt eine ben einen ausgeprägten Vibrationssinn, sie ganz andere als die Welt unserer eigenen riechen und nehmen die feinsten Luftströ- mungen wahr. Sie besitzen ein System von sinnlichen Erfahrungen. mehr als 3000 biologischen Dehnungsmes- Im Vergleich zu den Insekten fällt bei sern in ihrem cuticularen Außenskelett. Bei den Spinnen besonders der Besitz von so ge- vielen von ihnen trägt dieses Skelett Hun- nannten Linsenaugen anstatt der für eine derttausende von tastempfindlichen Haa- Libelle, eine Biene oder ein anderes Insekt ren. Wer verstehen will, weshalb und wie typischen Komplexaugen auf. Die bei den sich Spinnen etwa bei der Balz, beim Beute- Insekten weit verbreiteten und dem Hören, fang, oder beim Bau eines Netzes verhalten, dem Vibrationssinn und der Propriorezep- der muss sich fragen, wie die sensorische tion dienenden Chordotonalorgane fehlen Welt der Spinnen aussieht. Sinnesorgane den Spinnen. Zudem ist deren zentrales und die ihnen nachgeschalteten nervösen Nervensystem anders gebaut. So gebührt Strukturen entwerfen arteigene „Bilder" der den Spinnen auch in der vergleichenden Umwelt. Sie sind nicht dazu da, im physika- Neurobiologie ein angemessener Platz lischen Sinne allumfassende Information einer abstrakten Wirklichkeit zu liefern. Die folgende Darstellung stellt die Sin- Vielmehr sind sie in hohem Maße spezifi- nesorgane selbst und die Prinzipien ihrer sche und selektive Filter, die bevorzugt oder Funktionsweisen in den Mittelpunkt. Die ausschließlich die biologisch relevanten (für an der Neurobiologie und speziell der die Fitness, d.h. das Überleben des Indivi- Neuroethologie interessierten Leser finden duums und die Weitergabe seiner Gene an mehr bei BARTH (1985) und BARTH (2001, die nächste Generation wichtigen) Zustän- 2002a). Zudem sei auf die kompetente Ein- de in der Um- und Inweit registrieren und führung in die Biologie der Spinnen von fast immer besonders stark auf Veränderun- FOELIX (1996) hingewiesen. gen dieser Zustände reagieren, also auf dynamische (im Gegensatz zu statischen) Augen - acht Augen, zwei Vorgänge. Dies gilt auch für unsere eigenen menschlichen Sinne, die uns - so wie bei visuelle Systeme den Spinnen - ein stark gefiltertes, verzerr- tes und im physikalischen Sinne unvollstän- Augentypen diges Bild unserer Umwelt vermitteln. Spinnenaugen sind also Linsenaugen oder Ozellen und keine Komplexaugen. Der Begriff Linsenauge ist etwas irreführend, weil Eigenheiten der Spinnen natürlich auch die Komplexaugen der Insek- Obgleich die Spinnen wie wir über meh- ten Linsen besitzen. Besser ist es, von Kame- rere Sinne verfügen, sind die meisten von raaugen zu sprechen. Die allermeisten Spin- ihnen ganz besonders auf Sinne und Signale nen verfügen über acht solcher Einzelaugen angewiesen, die in unserem Leben nur eine mit je einer Linse. Deren genaue Anordnung 64 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at am Vorderkörper spielt ab Erkennungsmerk- Abb. 1: Oben: Die vier Augen einer mal für die systematische Zugehörigkeit eine Körperseite der große Rolle und oftmals ist die Augenstel- insgesamt acht Augen lung so typisch, dass sie dem Kenner rasch von Cupiennius salei. die Familienzugehörigkeit verrät. Nach ihrer AM = Hauptaugen oder inneren Struktur sind Haupt- und Nebenau- Anteriomedianaugen; PM, AL, PL = Neben- gen zu unterscheiden. Die Hauptaugen sind augen oder Posterio- die vorderen Medianaugen. Alle anderen medianaugen, Anterio- Augen sind Nebenaugen (Abb. 1). Trotz ih- lateralaugen und res Namens sind die Hauptaugen durchaus Posteriolatera laugen. Unten: Bei den nicht immer die wichtigsten oder größten Springspinnen sind die Augen. Gegensätzlich zu den Nebenaugen Hauptaugen (AM, Pfeil) sind Hauptaugen evers: Die lichtempfind- die größten. Foto lichen Abschnitte ihrer Sehzellen (Rhabdo- unten: H. HOMANN. mere) in der Retina sind dem Lichteinfall zu- gewandt. Bei den Nebenaugen sind diese Abschnitte ähnlich wie in unseren eigenen Augen vom Lichteinfall abgewandt. Ein wei- terer Unterschied ist die Beweglichkeit der Retina der Hauptaugen: Augenmuskeln (zwei bei Cupienrdus, sechs bei Springspin- nen) können sie hinter der starren Linse be- wegen, dadurch in gewissem Umfang das Gesichtsfeld „abrastern" und einen beweg- ten Gegenstand verfolgen. Springspinnen können die Retina ihrer Hauptaugen um bis zu 50° drehen (LAND 1969b) und damit auch deren funktionelles Gesichtsfeld erheblich erweitern. Bei anderen Spinnen ist die Be- äugen von Deinopis, einer Käscherspinne weglichkeit wesentlich geringer. Ein Tape- (Deinopidae) reagieren halbmaximal schon tum, also eine das Licht reflektierende auf Beleuchtungsstärken, die zwischen den- Schicht am Augenhintergrund wiederum jenigen bei Sternen- und Mondlicht liegen besitzen nur die Nebenaugen. So sind es (LAUGHLIN et al. 1980). Die Linsen dieser auch die Nebenaugen und nur diese, die Augen haben eine Lichtstärke F (f/D, das demjenigen wie Katzenaugen entgegen- Verhältnis von Brennweite f zum Linsen- leuchten, der nachts Spinnen mit der durchmesser D) von 0,58 (BLEST & LAND Taschenlampe aufspürt (Abb. 2a). Das Tape- 1977). Bei Cupienrdus salei (Ctenidae), ei- tum erhöht die Empfindlichkeit des Auges, ner nachtaktiven Jagdspinne aus Mittelame- indem es das Licht ein zweites Mal durch die rika, fanden wir Werte für F zwischen 0,58 Sehzellen schickt. und 0,74 (LAND & BARTH 1992). Den üb- lichen Objektiven von Fotoapparaten sind die Linsen der Spinnenaugen bezüglich der Visuelle Leistung Helligkeit des Bildes also klar überlegen! Die Spring- und die Käscherspinnen Man muss demnach auch bei dämmerungs- sind die für ihre visuellen Leistungen be- und nachtaktiven Spinnen mit verhaltens- kanntesten Spinnen. Für Portia, eine relevanter Sehtüchtigkeit rechnen. Springspinne (Salticidae), beträgt die räum- liche Auflösung der Hauptaugen 2,4 min Nach bisherigem Wissen haben nur (WILLIAMS & MCINTYRE 1980), was nur um Jagdspinnen wie die Springspinnen (Saltic- etwa den Faktor 6 schlechter als bei uns idae), Krabbenspinnen (Thomisidae), Wolf- Menschen ist, jedoch um das Zehnfache spinnen (Lycosidae) und „huntsmen spi- besser als bei einer Libelle, die gewiss zu den ders" (Sparassidae) Augen mit so eindrucks- Insekten mit den leistungsfähigsten Augen vollen Eigenschaften. Radnetzspinnen gehört (LABHART & NILSSON 1995; LAND (Araneidae) verfügen nach weitverbreiteter 1997). Die Sehzellen der hinteren Median- Ansicht nur über einen vergleichsweise 65 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Abb. 2: a: Nur die mit Beute jagen, Artgenossen erkennen, Nebenaugen besitzen zwischen Beute und Sexualpartner unter- ein das Licht scheiden und Sexualpartner auswählen reflektierendes Tapetum (Cupiennius (FORSTER 1985; CLARK & UETZ 1992; JACK- salei, Foto: Ch. SON & POLLARD 1996). Auch bei tagaktiven BECHERER). Wolfspinnen (Lycosidae) ist der Sehsinn am b: Die Gesichtsfelder Balzgeschehen beteiligt (ROVNER 1996). In der Augen von Jagdspinnen wie der Welt der Radnetzspinnen spielt der Vi- Cupiennius (Ctenidae) brationssinn eine ähnlich dominante Rolle. und Portia (Salticidae) gewährleisten eine Mechanismen zur Einstellung der Optik weitgehend (Linse) auf unterschiedliche Entfernungen vollständige Rundumsicht. AM, AL, eines Sehgegenstandes, also Nah- und Fem- PM, PL = Augentypen, akkomodation durch Verschieben der Linse s. Abb. 1. Die (Veränderung des Abstands zur Retina) oder Gesichtsfelder der Änderung ihrer Krümmung (Brennweite) Augen sind auf die Projektion eines ganzen wie bei den Augen der Wirbeltiere, sind von Globus gezeichnet. Die Spinnen nicht bekannt. Viele Spinnenaugen Gesichtsfelder der AM- sehen schon ab einer Minimalentfernung und PM-Augen einer Körperseite von des Sehgegenstandes von wenigen Millime- Cupiennius überlappen tern oder Zentimetern alles scharf (LAND weitgehend. Die 1981). Für die Hauptaugen von Cupiennius Abbildung zeigt wegen besserer ergaben sich rund 4 mm, für die Nebenaugen bis zu 19 mm, um ein konkretes Beispiel zu Übersichtlichkeit das Gesichtsfeld der AM- geben (BARTH 2001). Offensichtlich benö- Augen der anderen tigt man für solche Augen keinen Akkomo- Körperseite (nach LAND dationsmechanismus. Eine Besonderheit der & BARTH 1992). Hauptaugen von Springspinnen ist eine c: Eine Eigenart der Hauptaugen (AM) ist Retina, die vier hintereinander liegende ihre besonders bei Schichten von Sehzellen bildet (LAND Springspinnen große 1985). Die Debatte über die funktionelle Be- Beweglichkeit. Die deutung dieser Besonderheit ist noch nicht Abbildung zeigt die reizbedingte abgeschlossen. Eine der bereits von LAND Verschiebung der (1969b, 1985) diskutierten Möglichkeiten Gesichtsfelder von C. ist die Vergrößerung der Tiefenschärfe des salei nach dorso-lateral (1), lateral (2) und Auges (s.a. BLEST et al. 1990). ventro-lateral (3) (KAPS & SCHMID 1996). Gesichtsfelder Die Komplexaugen der Insekten sind aus- gesprochene Weitwinkelaugen. Spinnenau- gen haben vergleichsweise kleine Gesichts- felder. Ihr Gesamtgesichtsfeld vergrößern Spinnen jedoch durch den Besitz von acht Augen erheblich. Die Abbildung 2b zeigt schlecht ausgebildeten Sehsinn mit geringer dies beispielhaft für unser langjähriges Ver- räumlicher Auflösung und Linsen, die den suchstier Cupiennius salei und für Portia, eine Sehgegenstand außerhalb der Ebene der Springspinne. Die Gesichtsfelder der hinte- Sehzellen scharf abbilden (LAND 1985; ren Median- und Seitenaugen von Cupien- YAMASHITA 1985). Mit anderen Worten: nius decken zusammen fast die gesamte obere Radnetzspinnen brauchten eigentlich eine Hemisphäre ab und reichen noch etwa 40° Brille zum Scharfsehen! Aber sie zeigen ja unter den Horizont. Die vorderen Seitenau- auch nicht ansatzweise ein so weitgehend gen schauen direkt nach unten - vor die über den Sehsinn gesteuertes Verhalten wie Chelizeren. Interessant ist das weitgehende etwa die tagaktiven Springspinnen, die da- Überlappen der Sehfelder der vorderen 66 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at (Hauptaugen) und hinteren Medianaugen. spektraler Empfindlichkeit in dem uns grün Weshalb mit zwei Augen in dieselbe Rich- erscheinenden Wellenlängenbereich (510 tung schauen? Vieles spricht dafür, dass die nm). Die verwandtschaftlich nahe stehende Erklärung hierfür die unterschiedlichen Cupiennius (Ctenidae) allerdings besitzt drei Funktionen der beiden Augen sind: Sie sind Sehzelltypen: UV-, Blau- und Grünrezepto- unterschiedlich gebaut (evers bzw. invers), ren mit größten Empfindlichkeiten bei 340 die von ihren Sehzellen gelieferte visuelle In- nm, 480 nm und 520 nm (BARTH et al. 1993; formation geht getrennte Wege im Gehirn WALLA et al. 1996). Theoretisch wäre dem- und nur die Retinae der Hauptaugen können nach ein trichromatisches Farbensehen von Muskeln hinter der starren Linse bewegt möglich. Allerdings müssen darüber letztlich werden (Abb. 2c). Sehr wahrscheinlich ver- Verhaltensversuche entscheiden. Ein Fehlen hindern diese Bewegungen die Adaptation der Farbtüchtigkeit würde bei Cupiennius der Sinneszellen. Mikrosakkaden, also kleine wegen seiner Nachtaktivität nicht wirklich Augenbewegungen, gestatten der Spinne, überraschen. Während die UV (Ultravio- sich ab und zu ein Bild auch von der unbe- lett-)Empfindlichkeit noch etliche Rätsel wegten Umgebung zu machen. Unbewegte aufgibt, scheint der Nutzen der in allen Au- Reize verschwinden vermutlich zwischen sol- gen häufigen Grünrezeptoren einsichtig: Das chen Mikrosakkaden wegen der Adaptation von den Pflanzen und vom Boden reflektier- der Sehzellen aus dem Gesichtsfeld, wodurch te Licht wird von Wellenlängen über 450 sich bewegte Objekte umso besser vom nm dominiert (MENZEL 1979), was in unserer Hintergrund abheben. Einen bewegten Reiz menschlichen Wahrnehmung grünem und verfolgt Cupiennius mit reizbedingten Sakka- gelbem Licht entspricht. Die bei Cupiennius den. Demnach eignen sich die Hauptaugen für drei der vier Augen nachgewiesenen besonders für die Analyse stationärer Objek- Blaurezeptoren steigern ihre absolute te, während die Nebenaugen sich besonders Empfindlichkeit bei Einbruch der Dunkel- zur Erfassung bewegter Objekte eignen soll- heit (der Aktivitätszeit von Cupiennius) um ten (LAND 1969a, b; KAPS & SCHMID 1996; das Zehnfache. Grünrezeptoren zeigten diese SCHMID 1998). Die Forschung zu dieser The- Änderung nicht, so dass auf eine besonders matik ist noch im Gange und lässt noch viel wichtige Rolle der Blaurezeptoren für das Se- Neues erwarten. Wie wir seit den Pionierar- hen bei Nacht bzw. bei schwachem Licht zu beiten von LAND (1969a,b; Übersicht: 1985) schließen ist. Wie die Wolfspinnenaugen, so wissen, besitzen Springspinnen besonders raf- besitzen auch die eindrucksvoll vergrößerten finiert gebaute Augen. Ihre Hauptaugen kön- hinteren Medianaugen von Deinopis, die nen sie mit Hilfe von sechs Muskeln präzise beim nächtlichen Beutefang mit dem selbst- seitwärts bewegen und drehen. gesponnenen Käscher eingesetzt werden, nur Grünrezeptoren (LAUGHLIN et al. 1980). Gleiches gilt für alle anderen bisher unter- Farbensehen suchten Nebenaugen von Spinnen. Das be- Sehen Spinnen Farben? Auch hier hat deutet: kein Farbensehen. Allerdings sind künftige Forschung noch ein weites Feld. neben Cupiennius einige wenige weitere Daten zur spektralen Empfindlichkeit von Ausnahmen bekannt - mehrere Arten von Sehzellen gibt es für Vertreter aus vier Spin- Radnetzspinnen der Gattung Argiope (hinte- nengruppen, die sich bezüglich ihrer Lebens- re Seitenaugen und Hauptaugen mit UV-, weise und der Bedeutung des Sehsinnes für Blau- und Grünrezeptoren) und Springspin- ihr Verhalten stark voneinander unterschei- nen, die mit ihrem di-, tri- oder tetrachro- den (YAMASHITA 1985; WALLA et al. 1996): matischen Sehen vermutlich auch farbtüch- Netzspinnen (Araneidae), Käscherspinnen tig sind (YAMASHITA 1985). (Deinopidae), Jagdspinnen (Lycosidae, Cte- nidae) und Springspinnen (Salticidae). Bei den Wolfspinnen (Lycosidae) muss man Polarisationssehen nach den vorliegenden Befunden auf Farb- Insbesondere bei Insekten ist Polarisa- untüchtigkeit schließen. Sowohl in den tionssehen ein wichtiger und gut bearbeite- Hauptaugen als auch in den Nebenaugen ter Forschungsgegenstand. Überraschender- wurde nur je ein Sinneszelltyp gefunden (DE weise kommt die Nachricht über einen VOE 1972), ein „Grünrezeptor" mit größter neuen Mechanismus zur Bestimmung der 67 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Verhaltensnachweise für die Fähigkeit :ur Orientierung nach polarisiertem Licht gibt es für andere Spinnen seit langem. Dies gilt besonders für die Wolfspinne ATctosa va~ riana (Lycosidae) (MAGNI et al. 1964) und die Trichterspinne Agelena labyrinthica (Agelenidae) (GöRNER 1962, GöRNER & CLAAS 1985). Allerdings: Nur Drassodes be- sitzt die genannten spezialisierten PM-Au- gen zur Navigation nach polarisiertem Licht. Bei den anderen Spinnen scheint die Polarisationssichtigkeit in den Hauptaugen (AM) zu liegen (DACKE et al. 2001). Das für Drassodes typische kanuförmige Tapetum ist jedoch von den Nebenaugen vieler Spinnen bekannt, ebenso das Fehlen einer scharfen Abbildung auf der Retina (ein Rätsel, das sich vielleicht im Kontext der Polarisations- sichtigkeit löst) (LAND 1985). Welche Rol- le die unterfokussierten Augen tatsächlich im Verhalten spielen, ist jedoch noch weit- gehend unklar. Phylogenie der Augen Abb. 3: Erwachsenes Weibchen von [auction des Himmelslichtes von einer 1st es nicht merkwürdig, dass unter den Cupiennius salei, aufgenommen in Mexico Spinne. Die nach oben zum Himmel schau- Arthropoden nur die Arachniden Kamera- im Staate Veracruz, woher auch die Tiere enden PM-Augen (= Posteriomedianaugen stammten, die Eugen Graf KEYSERLING, der augen und nicht die sonst in diesem Tier- Erstbeschreiber, am 4.10.1876 anlässlich oder Nebenaugen) von Drossodes cupreus, stamm üblichen Komplexaugen besitzen? einer Versammlung der zoologisch- einer Plattbauchspinne (Gnaphosidae), po- Wie stand es bei den Vorfahren der Spinnen? botanischen Gesellschaft Wien als Ctenus salei vorstellte. C. salei ist eine nachtaktive larisieren das von ihrem Tapetum reflektier- Verwandte der Xiphosuren, zu denen die Jagdspinne. Sie baut keine Netze zum te Licht. Sie besitzen demnach eine polari- heute noch lebenden Pfeilschwanzkrebse Beutefang, sondern lebt in enger sierende Optik in ihren Augen, was eine (Limulus) gehören, besaßen ebenso wie die Assoziation mit bestimmten Pflanzen wie Besonderheit im Tierreich darstellt. Als nicht mehr existierenden Eurypteriden so- Bromelien. Beutetiere, meist Insekten, verraten sich diesen Spinnen vorwiegend Folge davon hängt die Reflexion polarisier- wohl einfache als auch zusammengesetzte durch Substratvibrationen und ten Himmelslichts von dessen Polarisa- Augen. Es wird postuliert, dass sich die Luftströmungen. tionsrichtung ab. Stimmt diese mit der Hauptaugen der Spinnen von dem einen Richtung der Längsachse des Auges über- Paar einfacher Augen ihrer Vorfahren ablei- ein, dann ist die Reflexion viermal stärker ten, die Nebenaugen jedoch deren in Einzel- als bei einer Polarisationsrichtung des ein- augen „zerfallenen" Komplexaugen entspre- fallenden Lichts senkrecht dazu. Sinniger- chen (PAULUS 1979). Aber wie kann es zur weise stehen die Längsachsen der beiden Aufgabe eines so erfolgreichen Augentyps PM-Augen im rechten Winkel zueinander. wie dem des Komplexauges kommen? Da- Zudem überlappen sich die Gesichtsfelder hinter könnten funktioneile Gründe ste- der beiden Augen weitgehend. So ist anzu- cken: Die optisch bessere Lösung ist das Ka- nehmen, dass bei Drassodes die beiden PM- meraauge, da bei ihm Beugungseffekte an der Augen als Polarisationsdetektoren zu- Linse wesentlich weniger ins Gewicht fallen sammenwirken und nachgeschaltete Neu- als bei den vielen kleinen Linsen des Kom- rone die Signale von beiden Augen verglei- plexauges. Wollte man in Gedanken die Au- chen. Dafür spricht auch, dass diese Augen gen einer Springspinne durch Komplexau- so gut wie linsenlos sind und keine Bilder gen gleichen räumlichen Auflösungsvermö- eines Sehgegenstandes entwerfen, sondern gens ersetzen, käme man in Schwierigkeiten. bereits in der Peripherie über einen weiten Solche Komplexaugen müssten sehr groß Bereich ihres Gesichtsfeldes integrieren sein und würden gewiss nicht in das Prosoma der Spinne passen (LAND 1985). (DACKE et al. 1999). 68 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Trichobothrien - perfekte Strömungsmessung Wenn eine Jagdspinne wie Cupiennius salei in der Dunkelheit der Nacht hungrig auf dem Blatt einer Bromelie sitzt (Abb. 3). dann verraten ihr vor allem zwei Sinne die Anwesenheit von Beutetieren: Der Vibra- tionssinn, der von der Beute (etwa einer auf der Pflanze laufende Schabe) verursachte Vi- brationen des Substrates registriert und der Luftströmungssinn, der von der Beute (zum Beispiel fliegenden Insekten) verursachte Luftströmungen registriert. Im vorliegenden Abschnitt geht es um die Fähigkeit, Luft- strömungen wahrzunehmen. Wie wir nach langjähriger Forschung und Kooperation mit Technikern heute wissen, sind die reizauf- nehmenden Strukturen der Luftströmungs- sensoren bis ins feinste Detail voller techni- Tarsus Metatarsus Tibia scher Raffinesse. Diese verdient wegen ihrer DP2 D2, D1 , offensichtlichen Perfektion schon für sich D6 D5 D4 . D3 DP? D betrachtet unsere Aufmerksamkeit. Wie bei fet- a • ^. -~- allen Sinnen geht es letztlich aber auch hier *£^Z . um die sensorische Bewältigung von Verhal- 5 mm ten, also um die Angepasstheit an ganz be- stimmte biologisch relevante Reize. Sinnes- Abb. 4: Oben: Das Ende eines Laufbeins (Tarsus) von Cupiennius salei mit den physiologie, Neuroethologie und Sensori- Trichobothrien auf der Dorsalseite (Pfeil). Unten: Anordnung aller Trichobothrien eines Laufbeins (BARTH et al. 1993). sche Ökologie liegen aufs engste beieinan- der. Werfen wir zuerst einen Blick auf die Trichobothrien per se und sehen wir dann an einem Beispiel, wie dieses technische Meis- terwerk zum Verhalten passt. Wenn man von außen mit dem Mikro- skop auf ein Spinnenbein schaut, sieht man gewöhnlich eine Fülle von cuticularen Haa- ren. Die meisten dieser Haare sind inner- viert, also Haarsensillen. Während einige von ihnen Chemorezeptoren sind, gehört die Mehrzahl zu den mechanisch empfind- lichen Haaren. Deren Sinneszellen liefern dem Zentralnervensystem Information über die Auslenkung des Haarschafts. Die Tri- chobothrien oder Becherhaare (die Haarba- sis steckt in einem auffälligen cuticularen Becher) fallen dadurch auf, dass sie gegen- sätzlich zu allen anderen Haaren bereits vom zartesten Lufthauch in Schwingungen versetzt werden (Abb. 4, 5). Friedrich DAHL Abb. 5: Becher (links, Sternchen) und gefiederter Haarschaft (rechts) eines (1856-1929), ein renommierter Arachnolo- Trichobothriums von Cupiennius salei. Der Pfeil weist in Richtung Beinende. ge, hat schon 1883 in einer im Zoologischen ne auf einer Geige bewegen. Es reicht auch Anzeiger (Zool Anz 6: 267-270) veröffent- das leichteste Zittern einer Hand dazu aus. lichten Arbeit davon berichtet, dass sich die Kurz gesagt werden die Trichobothrien Trichobothrien beim Anstreichen tiefer Tö- wegen ihrer geringen Masse und extrem be- 69 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at weglichen Aufhängung im Skelett von der spinnen an einer besonders wichtigen Stelle feinsten Bewegung der Luft mitgenommen des Reizfeldes liegen. Untersuchungen mit und ausgelenkt. Cupiennius haben gezeigt, dass die Luftströ- mungsgeschwindigkeit über festem Substrat Lage und Bau (wie den Blättern der Bromelien, auf denen Trichobothrien findet man auf den Lauf- Cupiennius sitzt) erhöht ist (BARTH et al. beinen und Pedipalpen der Spinnen, ge- 1993). Bei Spinnennetzen, die für Luftströ- nauer: auf deren Tarsus, Metatarsus und mungen vergleichsweise transparent sind, Tibia (Abb. 4). Dass die meisten von ihnen ist dieser Effekt nicht zu erwarten. In diesem auf der Dorsalseite des Beines liegen, hat Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass vermutlich damit zu tun, dass sie in dieser sich bei Netzspinnen wie Nephila und Zygiel- Position den in der Regel eher von oben als la mit Luftströmungsreizen im Gegensatz zu von unten kommenden Luftströmungen be- Jagdspinnen kein Beutefangverhalten auslö- sonders ausgesetzt sind. Cupiennius salei be- sen lässt - im besten Fall nur ein Heben von sitzt 936 ± 31 (Mittelwert ± Standardabwei- Beinen, welches als Abwehrreaktion gedeu- chung) Trichobothrien, rund 100 pro Bein. tet wird (KLÄRNER & BARTH 1982). Dies ist die größte bisher von Spinnen be- Bei Cupiennius erreichen die Tricho- kannte Zahl. Wir schließen daraus, dass die bothrien eine Länge von etwa 1,4 mm. Die Wahrnehmung von Medienbewegungen für kürzesten von ihnen messen nur 0,1 mm. Ihr die Steuerung des Verhaltens besonders Durchmesser beträgt an der Basis 5 bis 15 wichtig ist. Viele Trichobothrien bilden um und an der Haarspitze 1 bis 5 um. Trotz Gruppen von bis zu 24 Sensillen und zeigen der Variationen im Detail ist festzuhalten, dann typische Abstufungen der Haarlänge. dass dies der für alle Luftströmungs-Sensil- Philodromus aureoius (Philodromidae) und len der Arthropoden typische Größenbe- Pardosa pmtivaga (Lycosidae), beides kleine- reich ist, seien es neben den Spinnen die re Jagdspinnen, besitzen nur 22 bzw. 37 Tri- Trichobothrien der Skorpione oder die Fa- chobothrien auf jedem Bein, Agelena laby- denhaare der Insekten. Die letzteren sind rinthica (Agelenidae), eine Trichterspinne, ein eindrucksvolles Beispiel für eine konver- die auf einem dichtgewobenen Deckennetz gente Entwicklung: Unter dem Zwang der jagt, ebenfalls nur 25 (REIßLAND & GöRNER den Luftströmungen eigenen physikalischen 1985; PETERS &. PFREUNDT 1986). Neben Eigenschaften haben sich nicht-homologe der Größe der Spinne scheint die Zugehö- Strukturen zu bemerkenswert ähnlichen rigkeit zu Jagd- beziehungsweise Netzspin- Sensoren entwickelt. Ein wesentliches Indiz nen Bedeutung zu haben: mehr Trichoboth- für die Nicht-Homologie der bezüglich ihrer rien bei Jagd- als bei Netzspinnen! Larinio- Funktionsweise so ähnlichen Fadenhaare ides comutus (= Araneus c.) und Metellina und Trichobothrien sind Unterschiede in segmentata (= Meta reticulata) (Radnetzspin- der Innervation. Fadenhaare besitzen nur ei- nen, Araneidae und Tetragnathidae) und ne Sinneszelle, Trichobothrien mindestens auch Linyphia triangularis, eine Baldachin- drei. Zudem sind deren reizaufnehmende spinne (Linyphiidae), haben nur 7 bis 11 Endstrukturen anders an den Haarschaft ge- Trichobothrien auf jedem Laufbein (LEHTI- koppelt als die Sinneszelle des Fadenhaares NEN 1980; PETERS & PFREUNDT 1986) und (Fadenhaare: GNATZY & SCHMIDT 1971, selbst bei Nephila clavipes, einer Radnetz- GNATZY & TAUTZ 1980; Trichobothrien: spinne, die bezüglich ihrer Größe Cupien- GÖRNER 1965; CHRISTIAN 1971, 1972; nius salei kaum nachsteht, sind es nur 40 BARTH 2001). (BARTH 2001). Empfindlichkeit Auffälligerweise fehlen bei Netzspinnen die Trichobothrien auf dem letzen Bein- Die Trichobothrien von Spinnen gehö- glied, dem Tarsus. Auch der Metatarsus be- ren wie die Fadenhaare von Insekten zu den sitzt nur ein einziges Trichobothrium oder allerempfindlichsten biologischen Sensoren. nur einige wenige. Was hat das zu bedeuten? Ja, es sieht so aus, als wären sie bezüglich ih- Eine sinnvolle Vermutung ist, dass die vie- rer absoluten Empfindlichkeit die „Welt- len Trichobothrien auf den Tarsen von Jagd- meister". Die dieser Behauptung zugrunde- 70 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at liegenden Untersuchungen wurden bei den Abb. 6: Eine Gruppe von Trichobothrien auf Spinnen an Cupiennius salei (Zusammenfas- der Tibia mit der sung s. BARTH 2000, 2001; HUMPHREY et al. charakteristischen 2001, 2003) und bei den Insekten an der Längenabstufung Grille (Gryüus bnwculatus) (THURM 1982; (Cupiennius salei}. Wie SH1MOZAWA et al. 2003) am weitesten voran- auf dem unteren Bild zu sehen ist, getrieben. Physikalischen Analysen und den unterscheiden sich die entsprechenden Berechnungen zur Folge be- mechanischen trägt die Arbeit, die erforderlich ist, um ein Frequenzempfindlich- Trichobothrium durch einen Schwingungv keiten der Haare. Von einem oszillierenden zyklus zu bewegen, unter Optimalbedingun- Luftströmungsreiz von gen nicht mehr als 2,5 x 10:o Wattsekunden 50 Hz werden die oder Joule. Die für die Fadenhaare von Gril- langen Haare len bestimmten kleinsten Werte liegen mit wesentlich stärker 10"2' Ws sogar noch niedriger. Das bedeutet, ausgelenkt als die kurzen. dass wir es mit Werten zu tun haben, die et- wa einem Hundertstel der in einem Photon grünen Lichts enthaltenen Energie entspre- chen! Bei einer solchen Extremleistung muss man annehmen, dass die Interaktion zwi- schen der Luftströmung und dem Haar eine sehr innige und das „technische Design" des Sensillums in hohem Maße perfektioniert ist. Ein Großteil des Verständnisses dieser Interaktion ergibt sich aus der Überlegung, dass die Prozesse und Strukturen der Reizauf- nahme und Reiztransformation in hohem Maße die physikalischen Eigenschaften des Reizes widerspiegeln. Dies gilt für alle Sin- nesorgane, wird jedoch besonders da sicht- bar, wo die Leistung im Verlaufe einer langen Evolutionsgeschichte auf ein offensichtlich kaum mehr zu steigerndes Maß getrieben wurde. Zur Biophysik des Reizes was zum Einfluss von Masse, Länge und Durchmesser eines Trichobothriums für des- Im vorliegenden Falle bedeutet „Physik" sen Empfindlichkeit. So zeigt sich in Über- „Strömungsmechanik". Ein Trichobothrium einstimmung mit der abgestuften Länge in lässt sich physikalisch als invertiertes Pen- den Trichobothriengruppen, dass die Ab- del begreifen und dessen Verhalten mit Hilfe der klassischen Analyse von STOKES stimmung auf einen bestimmten Bereich (1851) über „The effect of the internal fric- von Reizfrequenzen am leichtesten durch tion of fluids on the motion of pendulums" Veränderung der Länge L zu erreichen ist, weitgehend quantitativ bestimmen (BARTH weniger wirkungsvoll jedoch durch eine et al. 1993; HUMPHREY et al. 1993). Eine der Änderung der Werte von S und R (HUMPH- wichtigen Größen hierbei ist das Drehmo- REY et al. 2003). In der Tat geht die Varia- ment T (Nm), welches den Haarschaft aus- tion der Haarlänge zwischen 0,1 mm und lenkt und auf die Reibungskräfte des Me- 1,5 mm bei Cupiennius mit unterschied- dienstromes zurückgeht (Abb. 9b). Andere lichen Bestfrequenz-Bereichen zwischen 40 wichtige Größen wirken der Auslenkung Hz und 600 Hz einher (Abb. 6). So er- durch T entgegen: die elastische Rückstell- schließen sich uns auch wesentliche Aspek- kraft S (Nm/rad) und die Dämpfungskon- te der Gruppenbildung: Gegensätzlich zu ei- stante R (Nms/rad). Die mathematische nem einzelnen Trichobothrium stellt eine Modellierung des Systems sagt uns auch et- Gruppe, in der die Länge L nur im Bereich 71 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Interessanterweise ist die Abhängigkeit a der Frequenzabstimmung von der Haarlänge nicht primär auf die mit der Längenänderung einhergehende Masseänderung oder auf die elastische Rückstellkraft zurückzuführen. Vielmehr besteht eine wichtige Beziehung zwischen dem unteren Ende (niedere Fre- quenzen) der Bandpasseigenschaften eines Trichobothriums und der sogenannten x-[cm] Grenzschicht. Dies ist eine Zone reduzierter Strömungsgeschwindigkeit in unmittelbarer Nähe einer umströmten Oberfläche, also auch derjenigen einer Spinne. Die Dicke dieser Schicht hängt von den in der Strö- 1 2 0 100 200 300 400 mung enthaltenen Frequenzen ab. Sie ist bei Frequenz [Hz] Frequenz [Hz] niedrigen Frequenzen größer als bei hohen Abb. 7: Trichobothrien ermöglichen Jagdspinnen wie Cupiennius salei empfindliche und liegt im biologisch relevanten Frequenz- Verhaltensreaktionen auf Luftströmungsreize, wie sie etwa von einem vorbei fliegenden bereich in der Größenordnung der Tricho- Insekt ausgehen, a: Videobild einer Fangreaktion auf das Surren einer an einem Faden bothrienlängen (BARTH et al. 1993). Die befestigten Fliege, b: Das Spektrum des im Freiland zur typischen Jagdzeit von Cupiennius gemessenen Hintergrundwindes, c: Spektrum des „Fliegensignals" (Luftströmungsreiz) in Folge: Kurze Trichobothrien bleiben bei nie- Abhängigkeit von der Entfernung x' zur Fliege (nach BRITTINGER 1998; BARTH & HÖLLER 1999). drigen Frequenzen in der Grenzschicht wegen der geringen Strömungsgeschwindig- keiten stehen, während längere Trichoboth- rien in Zonen höherer Strömungsgeschwin- digkeiten hineinragen und von diesen erfasst und mitgenommen werden (Abb. 6). Die obere Grenze des von einem Trichobothrium beantworteten Frequenzbereiches hängt von der Trägheit des Haarschafts und der mit ihm mitbewegten Luft ab. Das Trägheitsmoment wächst mit der dritten Potenz der Haarlänge, so dass das Haar mit zunehmender Frequenz zunehmend unbeweglich wird. Auch bei den Trichobothrien steckt der Sinn der Sinne nicht in der technischen Perfektion per se, auch wenn diese sehr ein- Abb. 8: Physiologische Antwort eines Trichobothriums auf einen „Fliegenreiz". Von oben nach unten: der von der Fliege produzierte Luftstrom, der Verlauf der drucksvoll ist. Dem Tier geht es ja auch Momentanfrequenz der Aktionspotenziale und die Abfolge der Aktionspotenziale in der nicht um abstrakte Erkenntnisse, sondern Originalregistrierung (nach BARTH & HÖLLER 1999). um Überleben und Fortpflanzung. Die von von Bruchteilen eines Millimeters variiert, den Sensoren ans zentrale Nervensystem ge- eine Reihe von Bandpassfiltern dar, die den schickten Signale werden erst in Bezug zu Gesamtbereich der Empfindlichkeit erwei- einem bestimmten Verhalten zu Informa- tern. Das mathematische Modell ermöglicht tion. Das diesbezüglich untersuchte Beute- sinnvolle Voraussagen über die adaptive fangverhalten von Cupiennius soll dies bei- Evolution des Sensors, indem es uns zeigt, spielhaft erläutern. mit welchen Parametern und welchen Ef- fekten überhaupt „gespielt" werden kann Beutefangverhalten (BARTH 2000; HUMPHREY et al. 2001). Zu- Bei Cupiennius kann Beutefangverhalten dem erlaubt es Entwürfe für die Umsetzung durch Luftströmungen leicht ausgelöst des biologischen Vorbildes in einen tech- werden: Eine hungrige Spinne springt bereit- nisch nutzbaren Sensor (HUMPHREY et al. willig auf eine surrende Riege oder auch 2003). künstlich erzeugte „beuteartige" Luftströ- mungen (Abb. 7a). Weshalb springt sie im 72

See more

The list of books you might like

Most books are stored in the elastic cloud where traffic is expensive. For this reason, we have a limit on daily download.