Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse Jahrgang 1993/94,5. Abhandlung Rolf Gleiter Spannende und gespannte Molekiile Vorgetragen in der Sitzung vom 7. Mai 1994 Springer -Verlag Berlin Heidelberg New York London Paris Tokyo Hong Kong Barcelona Budapest Prof. Dr. Rolf Gleiter Organisch-Chemisches Institut der Universitat Heidelberg 1m Neuenheimer Feld 270 69120 Heidelberg Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1 Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch·Naturwissenschaftliche Klasse. - Berlin; Heidelberg; New York; London; Paris; Tokyo; Hong Kong; Barcelona; Budapest: Springer Friiher Schriftenreihe Jg. 1993/94, Abh. 5. Gleiter, Rolf: Spannende und gespannte Molekiile. - 1994 Gleiter, Rolf: Spannende und gespannte Molekiile: vorgelegt in der Sitzung yom 7. Mai 19941 Rolf Gleiter. - Berlin; Heidelberg; New York; London; Paris; Tokyo; Hong Kong; Barcelona; Budapest: Springer, 1994 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse; Jg. 1993/94, Abh. 5) ISBN-13: 978-3-540-58707-1 e-ISBN-13: 978-3-642-46813-1 DOl: 10.1007/978-3-642-46813-1 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschiitzt. Die dadurch begriindeten Rechte, insbesondere die der Obersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfaltigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfaltigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch imEinzelfall nurin den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland Yom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulassig. Sie ist grundsatzlich vergiitungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1994 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daB solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daber von jederrnann benutzt werden diirften. Produkthaftung: Fiir Angaben iiber Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann Yom Verlag kein Gewiihr iibernommen werden. Derartige Angaben miissen yom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literatur stellen auf ihre Richtigkeit iiberpriift werden. SPIN 10128347 20/3140 -5 4 3 2 I 0 - Gedruckt auf saurefreiem Papier Spannende ond gespannte Molekiile Rolf Gleiter Einleitung In der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts wurde die Strukturtheorie der Or ganischen Chemie entwickelt. Wichtige Beitrage hierzu lieferten A. Kekule und A. S. Couper, indem sie die Vierbindigkeit des Kohlenstoffs erkannten (1858)[1]. Es folgte der Vorschlag von A. Kekule (1865), daB Kohlenstoff Ringe bilden kann[2], und 1874 postulierten J. H. van't Hoff und J. A. LeBel, daB vierfach koordinierter Kohlenstoff Tetraedergeometrie besitzen sollte[3]. Diese theoretischen Vorstellungen erlaubten es, die Struktur einer Vielzahl orga nischer Verbindungen korrekt zu bestimmen. Auffallend war, daB viele Strukturen Sechsringe enthielten, wahrend kleinere Ringe urn diese Zeit unbekannt waren. 1m Jahr 1876 hat Viktor Meyer darauf hingewiesen[4], daB aIle seine Versuche zur Synthese von Dreiringen nur zu ungesattigten offenkettigen Verbindungen fiihrten. Auch spater, 1882, als der junge englische Chemiker W. H. Perkin im Labor von A. v. Baeyer sich anschickte, Drei- und Vierringe zu synthetisieren, warnte ihn Victor Meyer[5]. W. H. Perkin lieB sich aber nicht abhalten, er fand 1884 einfache Wege zu Cyclopropan-und Cyclobutanderivaten[6]. CycIopropan Cyclobutan CycIopentan Cyclohexan D D O o Abweichung yom Tetraederwinkel +gD44' ·5"16' A. v. Baeyer 1885 Formell -193 - 6 Rolf Gleiter Die Beobachtung, nach der Sechsringe haufig gebildet werden, Drei- und Vier ringe dagegen seltener, fiihrte 1885 A. von Baeyer zu seiner Spannungstheorie[7]. Aufgrund einfacher geometrischer Uberlegungen schloB er, daB die Abweichungen yom Tetraederwinkel beim Cyclopropan 24°,44', beim planaren Cyclobutan 9°,44', beim planaren Cyclopentan 0°,44' und beim planaren Cyclohexan 5°, 16' sein sol1- ten (vgl. Formel 1). Diese Abweichungen verursachen eine zusiitzliche Spannung im Molekiil. Ais kurz darauf W. H. Perkin zeigte, daB Fiinfringe leicht herzuste11en und stabil sind, wertete dies v. Baeyer als Erfolg seiner Theorie. Die Chemiker Sachse (1890)[8] und Mohr (1918)19] erweiterten die Baeyersche Spannungstheorie dadurch, daB sie auch nichtplanare Formen zulieBen. So kann der Sechsring in einer Sesselform spannungsfrei sein, iihnlich wie auch hohergliedrige Ringe. Diese Erkenntnisse wurden von den Chemikern nur sehr widerstrebend akzeptiert. Beitrage zur Molekiilspannung Seit der Spannungstheorie A. von Baeyers und der Synthese der ersten gespannten Kohlenwasserstoffe sind iiber 100 Jahre vergangen. In dieser Zeit wurden unsere Vorste11ungen von der Spannung der Molekiile stark erweitert und verfeinert.[IO] Durch die exakte Messung der Verbrennungswarme einer organischen Verbin dung und die daraus berechnete Bildungswarme lassen sich Zahlen fUr Spannungs energien erhalten. Die Spannungsenergie ist eine relative GroBe und wird definiert als Differenz der Bildungswarme zwischen dem gespannten Molekiil und dem eines spannungsfreien Molekiils mit derselben Zahl und Anordnung von Atomen. Exakte Zahlen fUr Cyclopropan und Cyclobutan lagen erst 1949 bzw. 1950 vor. Solche Zahlen erlaubten es, das Konzept der Spannung zu erweitern. Man unterscheidet heute zwischen Baeyerscher Winke[spannung, Spannung durch Bindungs[iingeniinderung, Torsionsspannung und nichtbindenden Wechsel wirkungen, sie hiingen voneinander ab (vgl. Abb. 1). Die Torsionsspannung kommt dadurch zustande, daB die Ste11ung der H-Atome "auf Liicke" im Ethan gegeniiber der sogenannten "verdeckten" Ste11ung urn 3 kcal giinstiger ist. Die nicht bindende Wechselwirkung verursacht beim Propan eine Winkel aufweitung am zentralen Kohlenstoff auf 112° und beim s-cis-Butan betriigt der C-C-C Winkel 116° infolge nichtbindender Wechselwirkung. Dieselbe Wechselwir kung ist auch die Hauptursache dafiir, daB sich Cycloalkane der RinggroBe C8- Cl2 relativ miihsam darstellen lassen. Die in das Innere gerichteten H-Atome des Cyclooctans und des Cyclodecans fiihren zu einer AbstoBung (vgl. Formel 2). -194- Spannende und gespannte Molekiile 7 Spannung Winkeldeformation Langendeformation (Baeyer) Torsionsspannung Nichtbindende Wechselwirkung Abb. 1. Verschiedene Komponenten der Molekiilspannung Cyclooctan Cyclodecan Formel2 -195 - 8 Rolf Gleiter Neuere Entwicklungen Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts wurden zwei Fragen intensiv bearbeitet. a) Wie lassen sich die Bindungsverhiiltnisse in gespannten Systemen beschreiben? und b) Wieviel Spannung vertdigt ein existenzfahiges Molekiil iiberhaupt? Zur Beantwortung der ersten Frage wurden zwei iiquivalente Bindungsmodelle aufgestellt. Das eine, von Coulson und Moffit[lll bzw. T. Forsterl121, geht von lokali sierten Bindungen aus. Das von Walshl131 nimmt delokalisierte Bindungen an. Beide sagen aber gleichermaBen aus (Abb. 2), daB die Bindungen beim Cyclopropan und auch beim Cyclobutan gebogen sein sollten (banana-bonds). Abb. 2. "Gebogene" Bindungen beim Cyclopropan Definiert man die chemische Bindung als die Kurve groBter Elektronendichte zwischen zwei Atomen, so ist dies beim Cyclopropan nicht wie bei den "normalen" Verbindungen eine Gerade, sondern, wie in Abb. 2 gezeigt, eine gebogene Linie. Die Bindung ist betriichtIich liinger (1.60 A) als bei normalen Kohlenwasserstoffen (1.54 A). Der Bindungswinkel im Cyclopropan betriigt nach dieser Definition nicht 60° sondern 78°. Zu experimentellen Stiitzen fiir dieses Modell sei auf das niichste Kapitel verwiesen. In Abb. 3 sind die Spannungsenergien (SE) einer Reihe von Molekiilen auf gezeigt1lOb1• Mit Ausnahme des unsubstituierten Tetrahedrans sind aIle synthetisiert worden. Wie erwartet, steigt mit zunehmender Anzahl der deformierten Bindungen die Spannungsenergie. Interessant ist, daB hier Spannungsenergien erhalten werden, die die Energie zur Spaltung einer C,C-Einfachbindung (84 keal/mol) iibertreffen. -196- CZ> '" ~ § ('1> ::s 0-('1> e ::s 0- ~ en '" ~ § ~ 3:: 0 ~ 0' \0 ~ n a dr 0 e 4 h 1 a etr T e nt me e el ~ n Bau P' [1.1.1)Propella 98 rDJ Cuban 154,7 Vierringen als w. z b ei- Dr J A an mit >< plropentan 63,2 Blc.yclo [1.1.1) pent 68 Mo1ekiilen S n o [ v E) S ( n e n gi r butan o exan 1,8 ngsene A Blc.yclo [1.1.0] 63,4 rBlc.ycl [2.2.0) h 5 hnete Spannu c e r e B ~propan 27,5 D butan 26,5 Abb. 3. o o Cycl Cycl SE al/mol] SE cal/mol] c k k [ [ \0 -..J I 10 Rolf Gleiter Konsequenzen der Spannung fiir die Reaktivitat Die gebogenen Bindungen bedingen eine leiehtere "VerfUgbarkeit" der Valenz elektronen. Dies zeigt z. B. der Vergleich der ersten Ionisierungsenergien von Cyc1opropan (IYj = 10.6 eV) mit denen von Propan (Iy,j = 11.5 eV) und dem ungesat tigten Ethen (10.5 e V) , Mit diesen Daten in Ubereinstimmung sind die Ergebnisse der Solvolyse von Cyc1opropylverbindungen. Sie verlaufen urn den Faktor 108_1011 schneller als bei entspreehenden Vergleichsverbindungen. Die geringere Festigkeit der Valenzelektronen spiegelt sieh aueh in der Dissoziationsenergie des Molekiils wider. Die Dissoziationsenergie "normaler" C-C Einfaehbindungen betragt 84 keal! mol, beim Cyc1opropan miBt man 65 keal/mol. Tabelle 1. Freie Aktivierungsenergie fUr die thermisehe Umlagerung von drei Verbindungen mit einer 1,5-Hexadieneinheit c l>G' [kcal/mol) [~] V 40,5 1,5 Hexadien 0 • 20 :::::-- cis-Divinyl cyclopropan -- -- W A 25 4,6-Dimethylen- tricyclo [3.3.0.03,7) octan-2-on Die geringere Festigkeit der Valenzelektronen hat damit aueh versehiedene Konsequenzen fUr die Reaktivitat der gespannten Verbindungen: Cyc1opropan reagiert bereits bei Zimmertemperatur mit Brom zum 1,3-Dibrompropan. Die Aktivierungsenergie thermiseher Umlagerungen wird drastiseh herabgesetzt, wenn -198- Spannende und gespannte Molekiile II die zu lOsende Bindung "gespannt" ist. In Tabelle 1 sind die freien Aktivierungs enthalpien fUr drei Verbindungen angegeben, die aIle eine 1,5-Hexadieneinheit enthalten. Dureh Ersatz der norrnalen C,C-Einfaehbindung im 1,5-Hexadien dureh die gespannte Einfaehbindung eines Dreirings im eis-Divinylcyc1opropan (Mitte) wird die freie Aktivierungsenthalpie drastiseh reduziert. Bei 4,6-Dimethylen trieyc1o[3.3.0.03,7]-oktan-2-on (untere Zeile) ist dies zunaehst nieht einsiehtig, denn es handelt sieh hier ja urn Fiinf- bzw. Seehsringe. Beim genaueren Betraehten der Strukturdaten[l41 sehen wir aber (Abb. 4), daB die Winkel von 109° bzw 120° auf ca. 90° deforrniert sind und daB die zentralen Bindungen auf 1.61 A gedehnt sind. Das Molekiil weist also in der Mitte eine Sollbruehstelle auf. Dieses Beispiel zeigt, daB Spannung nieht nur bei Drei-und Vierringen auftritt. Abb. 4. Bindungslangen und Bindungswinkel in 4,6-Diisopropylidentricyclo[3.3.0.03,7] oktan-2-onI141 Analog zu einem gespannten Bogen, bei dem beim AbsehieBen Energie auf den fliegenden Pfeil iibertragen wird, findet sieh der hohere Energieinhalt gespannter Systeme in der gesteigerten Reaktivitat dieser Systeme. Es ist die Kunst des Chemi kers, diese teilweise hohe Energie nieht auf einmal freiwerden zu lassen, sondern sie stufenweise zu nutzen. So lassen sieh energiereiehe Systeme, wie das Prisman, je naeh den Bedingungen in das Dewarbenzol oder das Benzvalen und an schlie Bend in das Benzol umwandeln (vgl. Schema 1). Die Rontgenstrukturanalyse von zwei Prismanderivaten (Abb. 5) zeigt fUr den Dreiring einmal gleieh lange und einmal versehieden lange Bindungen[l51. Das Vor handensein der Estergruppen bedingt einen Elektronenzug, der die anliegenden -199-