Albert Scherr (Hrsg.) Soziologische Basics Albert Scherr (Hrsg.) Soziologische Basics Eine Einführung für Pädagogen und Pädagoginnen Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. 1.Auflage November 2000 (erschienen im Westdeutschen Verlag,Wiesbaden) 1.Auflage April 2006 Alle Rechte vorbehalten ©VSVerlag für Sozialwissenschaften | GWVFachverlage GmbH,Wiesbaden 2006 Lektorat:Frank Engelhardt Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei- cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen,Handelsnamen,Warenbezeichnungen usw.in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung:KünkelLopka Medienentwicklung,Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung:MercedesDruck,Berlin Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN-10 3-531-14621-1 ISBN-13 978-3-531-14621-8 Inhalt Vorwort ....................................................... 7 KlassischeundeinflussreicheAutoren .................................. 9 Einleitung:WozuSoziologie? ........................................ 10 AutoritätundUnterwerfung ......................................... 18 Bildung,Erziehung,Sozialisation ..................................... 23 BiografienundLebenslauf .......................................... 29 Einwanderer,Einwanderung ........................................ 35 FamilienundPaarbeziehungen ....................................... 42 GenderundSex ................................................. 50 GesellschaftundGemeinschaft ....................................... 56 Gruppen ...................................................... 62 Handlung,Interaktion,Kommunikation ................................ 67 IdeologienundDiskurse ........................................... 74 IdentitätundIdentifikationen ....................................... 81 Jugenden ...................................................... 86 Jugendkulturen .................................................. 91 Kindheiten ..................................................... 97 KritikundBeobachtung............................................ 101 Kultur,KulturenundEthnizität ...................................... 107 Macht,HerrschaftundGewalt ....................................... 112 MedialitätundMassenkommunikation ................................. 117 NaturundGesellschaft ............................................ 124 NormalitätundAbweichung ........................................ 130 Organisationen .................................................. 135 PolitikundStaat ................................................. 141 PräventionundsozialeKontrolle...................................... 146 SozialeSysteme,Systemtheorie ....................................... 154 6 Inhalt SozialraumundZivilgesellschaft ...................................... 159 SpracheundSprechen ............................................. 164 Subjekt,SubjektivitätundSubjektivierung............................... 170 TheorienundPraxis .............................................. 176 UngleichheitenundDiskriminierung .................................. 181 WerteundNormen ............................................... 187 Wissensgesellschaft ............................................... 193 Sachregister .................................................... 199 Autorenverzeichnis ............................................... 201 Vorwort DasvorliegendeBuchistdaraufausgerichtet,einenproblemorientiertenundaufpädagogische Fragestellungen bezogenen Zugang zu ausgewählten soziologischen Theorien, Begriffen und Forschungsgebieten zu ermöglichen. Es erhebt also nicht den Anspruch, einen lückenlosen Überblicküber„dieSoziologie“zugeben.Beabsichtigtistvielmehr,einfürPädagogInnenre- levantes Grundlagenwissen so darzustellen, dass ein Ausgangspunkt für eine vertiefende Aus- einandersetzung bereitgestellt wird. Dieser Zielsetzung entsprechend wurden die folgenden Beiträge sowohl von SoziologInnen verfasst, die sich mit Fragen der pädagogischen Theorie und Praxis auseinander setzen, als auch von ErziehungswissenschaftlerInnen, die sich mit den soziologischen Grundlagen ihrer Disziplin befasst haben. Allen AutorInnen ist an dieser Stelle für ihr Engagement zu danken. Zu danken ist Ulrike Hormel zudem für ihre Mitarbeit bei der Lektorierung der Manuskripte. Freiburg i. Br., im März 2006 Albert Scherr Klassische und einflussreiche Autoren In den folgenden Texten wird auf eine Reihe einflussreicher bzw. klassischer sozialwissen- schaftlicher, pädagogischer und philosophischer Autoren verwiesen. Um deren theoriege- schichtlicheEinordnungzuerleichtern,werdenhierGeburts-undTodesdatengenannt.Wei- terführendeInformationenfindensichu.a.ineinschlägigenDarstellungenzurGeschichteder Soziologie (etwa: Kaesler 1999; Korte 2003) sowie im Internet etwa unter www.sociosite.net/ topics/sociologists.php. Adorno, Theodor W. (1903–1969) Heydorn, Heinz-Joachim (1916–1974) Arendt, Hannah (1906–1975) Hobbes, Thomas (1588–1679) Althusser, Louis (1918–1990) Horkheimer, Max (1895–1973) Beck, Ulrich (geb. 1944) Kant, Immanuel (1724–1804) Berger, Peter L. (geb. 1929) Kohlberg, Lawrence (1927–1987) Bernfeld, Siegfried (1992–1953) Levi-Strauss, Claude (geb. 1908) Bourdieu, Pierre (1930–2002) Locke, John (1632–1704) Butler, Judith (geb. 1956) Luckmann, Thomas (geb. 1927) Comte, Auguste (1798–1857) Luhmann, Niklas (1927–1998) Durkheim, Émile (1858–1917) Mannheim, Karl (1893–1947) Elias, Norbert (1897–1990) Marx, Karl (1818–1883) Erikson, Erik H. (1902–1994) Schütz, Alfred (1899–1959) Fromm, Erich (1900–1980) Weber, Max (1864–1920) Freire, Paolo (1921–1997) Mead, George Herbert (1863–1931) Foucault, Michel (1926–1984) Parsons, Talcott (1902–1979) Freud, Sigmund (1856–1939) Piaget, Jean (1896–1980) Geiger, Theodor (1891–1952) Popitz, Heinrich (1925–2002) Giddens, Anthony (geb. 1938) Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778) Goffman, Erving (1922–1982) Simmel, Georg (1858–1918) Gramsci, Antonio (1891–1937) Tönnies, Ferdinand (1887–1979) Habermas, Jürgen (geb. 1929) Wittgenstein, Ludwig (1898–1951) Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–1831) Wyneken, Gustav (1875–1954) Literatur Kaesler, Dirk (Hg.) (1999): Klassiker der Soziologie. Band 1 und 2. München Korte, Hermann (2003): Einführung in die Geschichte der Soziologie. 7. Aufl. Wiesbaden Einleitung: Wozu Soziologie? Der Gebrauchswert soziologischen Denkens für die pädagogische Theorie und Praxis Albert Scherr Soziologie, das ist für Nicht-Soziologen oft eine schwer verständliche Wissenschaft mit einer umständlichen Fachsprache sowie komplexen Theorien und Forschungsmethoden, deren Nutzen zunächst wenig einleuchtend ist. Entsprechend werden soziologische Lehrveranstal- tungen von Studierenden gelegentlich als eine mühsame Pflichtübung erlebt, der man sich aussetzen muss, um den Zwängen von Studien- und Prüfungsordnungen gerecht zu werden. Soziologie stellt sich dann als institutionell zugemuteter Lernzwang dar und nicht als ein Denkangebot, das neue und interessante Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit gesell- schaftlichen Problemlagen, Konflikten und Entwicklungen sowie mit den Bedingungen und Möglichkeiten der künftigen Berufspraxis eröffnet. Eine solche Rahmung verstellt eine ent- scheidendeMöglichkeitsoziologischenDenkens:dieMöglichkeitderkritischenAuseinander- setzung mit gesellschaftlichen Zusammenhängen und Entwicklungen, nicht zuletzt mit der Frage, „was eigentlich diese ganze sonderbare Gesellschaft trotz ihrer Absonderlichkeiten zu- sammenhält“ (Adorno 1968/1993: 12). Mit dem vorliegenden Buch, das als Einführung in die Soziologie für Studierende pädago- gischer Studiengänge angelegt ist, wird deshalb der Versuch unternommen, soziologisches WissennichtprimärineinerfürLehr-undPrüfungszweckegeeignetenForm–d.h.alseinen Kanon abprüfbaren Wissens – darzustellen, sondern soziologische Denkmöglichkeiten aufzu- zeigen. IndieserEinleitungsollendazuzunächsteinigeMerkmalesoziologischenDenkensverdeut- licht sowie die Frage aufgeworfen werden, worin der mögliche Gebrauchswert soziologischen Denkens liegt. I WasalsokennzeichnetSoziologieimUnterschiedzumAlltagsdenkenundzuanderenwissen- schaftlichenDisziplinen?ImSinneeinererstenAnnäherungsindfürdieBeantwortungdieser Frage v.a. drei Aspekte zu nennen: (1)SoziologiebefasstsichzumeinenmitdemErleben,DenkenundHandelnvonIndividuen inunterschiedlichensozialenKontexten–z.B.inzufälligenBegegnungenzwischenzweioder mehreren Personen, in Zweierbeziehungen und Familien, in kleineren oder größeren Grup- pen, in Organisationen wie Schulen oder Industriebetrieben, aber auch in darüber hinausrei- chendengesellschaftlichen(etwa:ökonomischen,kulturellenundpolitischen)Zusammenhän- Einleitung: Wozu Soziologie? 11 gen.Entsprechendlauteteineklassische(aberkeineswegsunumstrittene)DefinitionMaxWe- bers:„Soziologie...sollheißen:eineWissenschaft,welchesozialesHandelndeutendverstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirklungen ursächlich erklären will“ (Weber 1922/1972: 1). DiesoformulierteAufgabenstellungderSoziologie–SoziologiealsWissenschaftvomsozialen Handeln – unterscheidet diese nun nicht klar vom Alltagsdenken. Denn auch im Alltag sind wirdamitbefasst,dieMotiveundAbsichtenandererzuverstehenundunsdamitzuerklären, warum sie etwas tun oder lassen. ImUnterschiedzumAlltagsdenkennimmtSoziologiehierfürjedochwissenschaftlicheVer- fahren–diegezielte,methodischangeleiteteErhebungvonDaten,dieKlärungvonBegriffen, die Formulierung in sich möglichst konsistenter Analysen und Theorien – in Anspruch. So- ziologie als Wissenschaft betreiben, das heißt insofern auch: genauer hinsehen und gründ- licher nachdenken, als dies im Alltag gewöhnlich möglich ist sowie sich dabei mit den Beob- achtungen (Forschungsergebnissen) und Überlegungen (Theorien) auseinander zu setzen, die andere zu jeweiligen Themen vorgelegt haben. Zudem nimmt Soziologie eine bestimmte – von der Psychologie und dem gewöhnlichen Alltagsdenkenunterschiedene–StrategiedesVerstehensundErklärensinAnspruch:DasVer- stehen der Motive und Absichten von Individuen ist für SoziologInnen nicht das Ende, son- dern nur ein Ausgangspunkt für Erklärungen. Darüber hinausgehend untersucht Soziologie die sozialen Bedingungen, die zu jeweiligen individuellen Motiven, Absichten und Handlun- gen geführt, diese ermöglicht und hervorgebracht haben. In einer soziologischen Perspektive wird davon ausgegangen, dass individuelles Erleben, Denken und Handeln nicht außerhalb gesellschaftlicher Zusammenhänge angesiedelt ist. SoziologInnen gehen folglich (mit unter- schiedlicher Akzentuierung) von der Annahme eines Primats des Sozialen aus. Klassisch for- muliertGeorgeHerbertMeaddiesinBezugaufsozialeGruppenwiefolgt:Wirgehen„vonei- nem gesellschaftlichen Ganzen, einer organisierten Gruppenaktivität aus, innerhalb der wir dasVerhaltenjedeseinzelnenIndividuumsanalysieren.Dasheißtalso,dasswirdasVerhalten des Individuums in Hinblick auf das organisierte Verhalten der gesellschaftlichen Gruppe er- klären, anstatt das organisierte Verhalten der Gruppe aus der Sicht des Verhaltens der einzel- nen Mitglieder erklären zu wollen“ (Mead 1934/1968: 45). Am Beispiel von Begrüßungen verdeutlicht Ulrich Oevermann (1999: 78), dass soziale Handlungen und nicht Einzelhand- lungen Gegenstand soziologischer Betrachtungen sind: Wenn Person A Person B begrüßt, und B zurückgrüßt oder dies verweigert, dann setzen beide Begrüßungen als eine bestimmte soziale Situation voraus, für die bestimmte Regeln und Normen gelten. Die Einzelhandlung ist nur in diesem situativen Kontext verständlich. Daraus folgert er: „Nicht setzen sich Inter- aktionen aus Einzelhandlungen zusammen, sondern Einzelhandlungen stellen Abstraktionen von Interaktionen dar“ (ebd.: 79). Wennalsoz.B.beobachtetwird,dasseinSchülerwiederkehrenddemUnterrichtfernbleibt, dannistdiessoziologischnichtschondadurcherklärt,dassmitalltagssprachlichenDeutungen oder psychologischen Fachbegriffen beschrieben wird, warum er Schule als emotionale Belas- tung empfindet oder warum er die Schule als sinnlosen Zwang erlebt. Soziologie beginnt in diesem Fall dann, wenn über das Verstehen der subjektiven Motive hinaus danach gefragt wird,welchesozialenBedingungendazubeitragen,dassdasHandelndesSchülerssichfürihn als subjektiv notwendige bzw. sinnvolle Praxis darstellt. Als bedeutsame soziale Bedingungen hierfürsindu.a.diefolgendeninRechungzustellen:diefamilialeSituationdesSchülers,das Bildungsniveau und die beruflichen Positionen der Eltern, die tendenzielle Entwertung von