Niklas Luhmann . Soziologische Aufklärung 4 Niklas Luhmann Soziologische Aufklärung 4 Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft Westdeutscher Verlag CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung/Niklas Luhmann. - Opladen: Westdeutscher Verlag 4. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. - 1987. ISBN 978-3-531-11885-7 ISBN 978-3-663-01341-9 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-01341-9 Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann. Alle Rechte vorbehalten © 1987 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, übersetzungen, Mikrover filmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Horst Dieter Bürkle, Darmstadt Satz: Marianne LOTenz, Nauheim Vorwort Neben der Publikation von Monographien und systematischen Abhandlungen gibt die Ausarbeitung von Aufsätzen und Vorträgen eine etwas freiere Mög lichkeit, die Entwicklung einer facettenreichen Theorie voranzutreiben. Man kann dabei Einzelaspekte herausgreifen oder auch ausprobieren, welche Re gister des Instruments aus welchen Anlässen am besten gezogen werden. Oft entstehen bei solchen Gelegenheiten systemträchtige überlegungen und liegen dann bereit für eine Ermittlung ihrer Tragweite im Prozeß einer ständigen Re vision theoretischer Grundlagen. Der Nachteil ist, daß diese Arbeiten, obwohl von einheitlichen theoretischen Grundlagen aus konzipiert, sehr verstreut publiziert oder auch gar nicht publiziert werden - wie es der Zufall will. Ich bin dem Westdeutschen Verlag daher dankbar, daß er erneut die Gelegenheit bietet, eine Auswahl dieser Aufsätze und Vorträge in einem Band zusammen zufassen und auf diese Weise ihren Zusammenhang sichtbar werden zu lassen. Der Leitgedanke für die Zusammenstellung dieses Bandes ist die These, daß die moderne Gesellschaft am besten durch das Prinzip ihrer Differenzie rung gekennzeichnet wird, nämlich durch funktionale Differenzierung. Das impliziert einige, gegenwärtig sehr umstrittene Folgethesen, vor allem: Auto nomie und Selbstregulierung der Funktionssysteme ; scharfe, selbstproduzierte Abgrenzbarkeit; Fehlen jeglicher Möglichkeit zur Selbststeuerung der Gesamt geseIlschaft (heute: Weltgesellschaft); Fehlen eines Zentrums oder einer Spitze als Bezugspunkt für semantische oder steuerungspraktische Orientierungen (Stichwort: Orientierungslosigkeit) und statt dessen: rekursive Vernetzung von Beobachtungen und Beschreibungen als Modus der sozialen Konstruktion. Dabei sieht jeder "moderne" Beobachter das, was andere Beobachter sehen; aber er sieht auch das, was andere Beobachter beim Vollzug ihrer eigenen Be obachtung nicht sehen können; und er sieht auch, daß sie nicht sehen können, was sie nicht sehen können. Die "Klassik der Moderne" hatte diese Beobachtungsweise als "Kritik" verstanden, weil sie noch voraussetzte, daß es eine nichtkonstruierte Welt gibt. Sie hatte daher in der Annahme, selbst am richtigen Zugang zu stehen, Ent larvungsabsichten verfolgt, Sichtverzerrungen aufheben, Irrtümer korrigieren wollen. In diesem Sinne hatte man von Aufklärung gesprochen. Auch die großen Sophisten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, Carlyle, Marx, Nietzsche, Freud, um nur einige zu nennen, hatten versucht, durch Anlegen inkongruenter Perspektiven zur Wahrheit zu kommen. Die radikalisierte Wis senssoziologie dieses Jahrhunderts hatte zwar nicht mehr daran geglaubt, sich aber auch nicht davon lösen können. Sie hat eine universalisierte Art von Ideo logiekritik fortgesetzt, sich selbst aber mit Hilfe des Theorems der frei schwe benden Intelligenz (Mannheim) davon auszunehmen versucht. Sie hatte ein Beobachten von Beobachtern mit Hilfe des Schemas manifest/latent (bzw. bewußt/unbewußt) eingeübt, hatte aber ihren eigenen blinden Fleck nur ahnen können. Auf dieser Stufe der Theorieentwicklung war die Frage nicht mehr zu vermeiden, wer über die "Wahrheitskriterien" entscheidet. Aber man hätte 6 Vorwort fragen müssen: wer beobachtet die Beobachter der Beobachter? Und dann wäre die Antwort leicht gefallen. Sie lautet: wer immer es tut! Denn inzwischen haben Entwicklungen auf Forschungsgebieten, die sehr verschieden bezeichnet werden, diesen Sachstand überholt. Man spricht von naturalistischer Epistemologie oder von "cognitive sciences" oder von ICyber netik zweiter Ordnung: in jedem Falle wird alles Beobachten als eine empi rische (und deshalb: beobachtbare) Operation angesehen und das Problem der Wahrheitskriterien und ihrer Geltung - sei es apriori, sei es durch vernünftig ermittelten Konsens - wird ersetzt durch die Rekursivität der Beobachtungs verhältnisse!. Die Frage lautet dann, welche stabilen Eigenzustände entwickeln sich in einer Gesellschaft, die alles Beobachten dem Beobachtetwerden aus setzt und dabei jeden Beobachter mit der Möglichkeit ausrüstet, zu sehen, was der andere sieht, und zu sehen, was der andere nicht sieht. Es gibt nur Ratten im Labyrinth, die einander beobachten und eben deshalb wohl zu System strukturen, nie aber zu Konsens kommen können. Es gibt kein labyrinthfreies, kein kontextfreies Beobachten. Und selbstverständlich ist auch eine Theorie, die dies beschreibt, eine Rattentheorie. Sie kann sich im Labyrinth einen guten Beobachtungsplatz suchen. Sie kann eventuell mehr sehen als andere und vor allem das sehen, was andere nicht sehen; aber sie kann sich nicht selbst der Beobachtung entziehen. Diese Theorie einer "polykontexturalen" Beobachtung des Beobachtens entspricht genau dem, was eine funktional differenzierte Gesellschaft über sich selbst aussagen kann. Mit allen Privilegien einer konkurrenzfreien Reprä sentation der Gesellschaft in der Gesellschaft, mit allen Positionen, die für sich reklamieren könnten, sie seien die Spitze der Hierarchie oder das Zentrum der Welt, müssen auch Erkenntnistheorien aufgegeben werden, die eine mono kontexturale Welt voraussetzen und folglich einen richtigen Zugang zu dieser Welt und folglich Autorität derjenigen, die wissen, was andere (noch) nicht wissen. Anspruch und Krise der Soziologie können, wenn dies einmal akzep tiert wird, unbefangener gewürdigt werden. Und das Programm der soziolo gischen Aufklärung ist dann nicht mehr ein Programm der entlarvenden Kritik und auch nicht ein Programm, das andere (nun endlich) darüber informiert, wie es sich mit der Gesellschaft in Wirklichkeit verhält. Sondern Aufklärung ist eine sich selbst beobachtende Beobachtung, eine sich selbst beschreibende Beschreibung, und sie erfordert eine Theorie, die in sich selbst eintreten kann. Wichtige Anregungen hierzu sind ausgegangen von Wittgenstein einerseits und der Neu rophysiologie andererseits. Vgl. vor allem Ludwig Wittgenstein, Remarks on the Foun dation of Mathematics, Oxford 1956, und Warren S. McCulloch, The Embodiments of Mind, Cambridge, Mass. 1965. Die Konsequenzen für die Wissenssoziologie sind noch kaum erkannt. Vgl. immerhin David Bloor, Wittgenstein and Mannheim on the Sociolo gy of Mathematics, Studies in History and Philosophy of Science 4 (1973), S. 173-191. Siehe für neuere Arbeiten zur operativen Epistemologie und zur Theorie reflektierter Beobachtungsverhältnisse ferner Humberto R. Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig 1982, und Heinz von Foerster, Sicht und Einsicht: Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie, Braunschweig 1985. Vorwort 7 Die in diesem Band zusammengestellten Beiträge reflektieren an Einzel themen die auf diese Weise entstandene Situation. Die Schwierigkeiten der modernen Gesellschaft mit Gott, mit einem unbeobachtbaren Beobachter, dienen als ein Paradigma. Die Sondersemantiken der einzelnen Funktions systerne, in diesem Band der Begriff der Demokratie und der Begriff der Bil dung, werden der Beobachtung ausgesetzt - mit inkongruenten Perspektiven, aber ohne besserwisserische oder gar belehrende Absicht. Das zentrale Theorie stück, das die Theorie funktionaler Differenzierung mit den Semantiken der Funktionssysteme verbindet, liegt im Begriff der binären Codierung. Binäre Codes, etwa wahr/unwahr, immanent/transzendent, Regierung/Opposition, sichern die Autonomie der Funktionssysteme, indem sie Unterscheidungen fixieren, für die es in der Umwelt des jeweiligen Systems kein Äquivalent gibt; und sie stimulieren als Leitdifferenz zugleich den Aufbau system eigener Seman tiken, im Falle des Religionssystems zum Beispiel einer Theologie. Diese Gedanken bedürften einer systematischen Ausarbeitung. Die dafür zuständige Gesellschaftstheorie erweist sich jedoch als ein langwieriges Unter nehmen. Für diesen Band habe ich neben einigen einleitenden Studien zu Pro blemen der Struktur und der Semantik der modernen Gesellschaft Beiträge zu den Funktionsbereichen Politik, Erziehung und Religion ausgewählt. So weit die Texte bereits publiziert sind, ist die Originalfassung beibehalten wor den. Soweit sie nur in fremden Sprachen publiziert sind, liegt dem Abdruck hier der deutsche Originaltext zugrunde. Bisher nicht veröffentlichte Vorträge halten sich an die schriftlichen Vorlagen (nicht an die mündliche Darstellung). Nur die beiden Vorträge, die den Schluß bilden, habe ich für diese Publikation überarbeitet und beträchtlich erweitert. Bielefeld, im März 1987 Niklas Luhmann Inhalt I. Gesellschaftliche Differenzierung "Distinctions directrices". über Codierung von Semantiken und Systemen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 13 Die Differenzierung von Politik und Wirtschaft und ihre gesellschaftlichen Grundlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 32 Gesellschaftsstrukturelle Bedingungen und Folgeprobleme des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 49 11. Politik Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft 67 Staat und Politik. Zur Semantik der Selbstbeschreibung politischer Systeme .......................................... 74 Der Wohlfahrtsstaat zwischen Evolution und Rationalität ............. 104 Gesellschaftliche Grundlagen der Macht: Steigerung und Verteilung ..... 117 Die Zukunft der Demokratie ................................... 126 Enttäuschungen und Hoffnungen. Zur Zukunft der Demokratie ........ 133 Machtkreislauf und Recht in Demokratien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 142 Partizipation und Legitimation: Die Ideen und die Erfahrungen ........ 152 Widerstandsrecht und politische Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 161 III. Erziehung Sozialisation und Erziehung 173 Codierung und Programmierung. Bildung und Selektion im Erziehungssystem ............................................ 182 Zwischen Gesellschaft und Organisation. Zur Situation der Universitäten . 202 Zwei Quellen der Bürokratisierung in Hochschulen .................. 212 Perspektiven für Hochschulpolitik ............................... 216 10 Inhalt IV. Religion Läßt unsere Gesellschaft Kommunikation mit Gott zu? 227 Die Unterscheidung Gottes ..................................... 236 Brauchen wir einen neuen Mythos? .............................. 254 Drucknachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 275 I. Gesellschaftliche Differenzierung "Distinctions directrices" Über Codierung von Semantiken und Systemen 1. Das Wort Code wird verwirrend vielsinnig benutzt. Die lateinische Herkunft legt es zunächst nahe, an einen Text zu denken, der eine Reihe von Direktiven zu sammenstellt. Besonders in den romanischen Sprachen ist diese Assoziation fast unvermeidlich. Linguisten haben diesen Wortgebrauch abstrahiert, den Di rektionswert abschwächend. Dann bezeichnet der Begriff einen nichtbeliebi gen, in sich abgestimmten, Widersprüche aber nicht ausschließenden Zusam menhang von Symbolen!. Auf diese Weise ist ein theoretisch nahezu unbrauch barer Begriff entstanden, der kein Abgrenzungskriterium enthält, es also nicht erlaubt, festzustellen, welche Direktiven oder Symbole zu einem Code gehö ren und welche nicht. Man muß demnach eine besondere Kultur, eine Tradi tion, eine regionale Eigenart usw. schon kennen, um intuitiv darüber entschei den zu können, was zum Code dieses Ausschnitts gehört und was nicht. Daneben hat sich ein völlig anderer Sprachgebrauch entwickelt, der etwa an Formulierungen wie "Geheimcode" , "Morse-C:ode", "genetischer Code" oder an der kommunikationstheoretischen Rede von Codierung, Decodierung, Recodierung ablesbar ist. Auch hier könnte man, und das wird sprachgeschicht lich diese Abzweigung motiviert haben, zunächst an eine zusammenhängende Reihe von Symbolen denken - etwa an das "Morse-Alphabet". Das Auffällige dieser Codes ist jedoch, daß hier eine Duplikationsregel vorliegt, die es ermög licht, jedem Item des einen Symbolsystems ein Korrelat in einem anderen zu geben - im Falle des genetischen Code also alle Information, die als Erb gut weitergegeben wird, auch zum Aufbau eines lebenden und sterbenden Organismus zu benutzen. In diesem Sinne kann man schon die Sprache als einen Code bezeichnen - nicht weil sie viele kombinationsfähige Symbole enthält, sondern weil sie es ermöglicht, alles, was kommuniziert wird, in J a Fassung und in Nein-Fassung zu kommunizieren, und dies, obwohl man weiß, daß es Negatives, außer in der Kommunikation, gar nicht gibt. Der Sprach code kann dann seinerseits dupliziert werden, nämlich durch Schrift; und min destens seit der Erfindung phonetischer Schriften ist dies für jeden sprach lichen Ausdruck, also als universelle Codierung möglich. Angesichts solcher Tatbestände liegt es nahe, dem Begriff des Code eine In diesem Sinne spricht z. B. Eisenstadt von "codes of tradition" - etwa in S.N. Eisen stadt, Tradition und Modernity, New York 1973.