Niklas Luhmann . Soziologische Aufklärung 1 Niklas Luhmann Soziologische Aufklärung 1 Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme 6. Auflage Westdeutscher Verlag 6. Auflage, 1991 Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann International. Alle Rechte vorbehalten © 1970 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere flir Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mikrover filmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Horst Dieter Bürkle, Darmstadt Titelbild: Uwe Kubiak, 17.4.88, Tusche auf Karton, 1988 ISBN 978-3-531-11161-2 ISBN 978-3-322-96984-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-96984-2 Vorwort Die Soziologie blickt, was praktische Verwendung und theoretische Konsolidierung anlangt, in eine offene, höchst ungewisse Zukunft. All ihren Beständen und jedem ihrer Einsätze fehlt die Gewißheit, dauerhafte Erkenntnis zu sein. Das gilt selbst für empirische Forschung, besonders aber für rein theoretische Überlegungen. In dieser Lage wäre ein Verzicht auf zusammenfassende Theorie verhängnisvoll, aber es emp fiehlt sich, solche Theorie zunächst einmal ins Unreine zu schreiben. Dafür schien mir, über eine Reihe von Jahren hinweg, der Zeitschriftenaufsatz die geeignete Form der Mitteilung zu sein. Die Zahl und die Zerstreuung solcher Aufsätze erschweren jedoch den Zugang, den Überblick, die Kontrolle und die Kritik. Diesen Mangel soll die hiermit vorgelegte Sammlung beheben. Im Sinne dieser Zweckbestimmung lag es, von einer Überarbeitung der bereits gedruckten Aufsätze abzusehen. So blieben Überschneidungen stehen und auch Un ebenheiten in der Formulierung, die bei einem Neuentwurf vermeidbar wären. Es war jedoch notwendig und sinnvoll, eine Auswahl zu treffen, und daraus ergab sich die Anregung, zur Abrundung zwei neue Aufsätze zu schreiben. Ausgewählt habe ich Beiträge zur allgemeinen theoretischen Soziologie und zur Theorie der Gesellschaft und ihrer primären Teilsysteme. Unter diesem Gesichtspunkt war es erforderlich, einen Beitrag zur Theorie der Gesellschaft neu zu verfassen, da die bereits veröffentlichten Gedanken zu diesem Thema zu sehr vom jeweiligen Anlaß der Publikation geprägt waren. Und ferner schien es mir sich zu lohnen, die in Ansätzen skizzierte theoretische Konzeption auch für den Fall des Sozialsystems der Wirtschaft durchzuspielen. Nicht aufgenommen wurden dagegen Arbeiten mit speziellerer Thematik - etwa zur Rechts soziologie, zur Verwaltungswissenschaft, zur Neuinterpretation klassischer Themen politischer Theorie. Die Zusammenstellung dieser Aufsätze wird manche Schwächen des verwendeten analytischen Instrumentariums deutlicher hervortreten lassen. Sie finden sich teils in Schwierigkeiten empirischer Verifikation, teils in einer "Überlastung" der leitenden Grundbegriffe bzw. der Termini, mit denen sie mehr oder weniger beiläufig erläutert werden, etwa der Begriffe System, Grenze, Problem, Äquivalent, Sinn, Komplexität, Kontingenz, Selektivität sowie aller Formulierungen, die sich - explizit oder impli zit - der Vorstellung von Möglichkeiten bedienen. Wer in bezug auf empirische Ver ifikation oder in bezug auf begriffliche Konsistenz absolute Anspruchsniveaus vertritt, wird daher rasch urteilen können. An andere Leser geht die Frage, ob der erzielte Interpretationserfolg ausreicht, um zu einer Weiterarbeit an empirischer Überprüfung und an grundbegrifflicher Klärung zu ermutigen. Bielefeld, im Dezember 1969 Niklas Luhmann Vorwort zur dritten Auflage Schneller als erwartet waren die ersten beiden Auflagen dieser Aufsatzsammlung ver griffen. Das Interesse an dieser Publikation und die Aktualität der Diskussion scheinen es daher zu rechtfertigen, auch weiterhin zur Vorwegmitteilung von Teilergebnissen aus größeren Arbeitszusammenhängen die Aufsatzform zu benutzen und nicht jede Veröffentlichung zuri;ckzuhalten, bis umfangreichere und systematisch ausgereiftere Arbeiten vorgelegt werden können. Damit stellt sich die Frage einer Erweiterung dieses Sammelbandes. Ich habe mit verständnisvoller Zustimmung des Verlages davon ab gesehen, in den bereits publizierten Band neue Arbeiten einzufügen, da das die bereits verkauften Exemplare entwerten würde. Die Erweiterung soll vielmehr in Form eines zweiten Bandes erfolgen, sobald genügend Beiträge dafür gesammelt sind. Deshalb erscheint der bisherige Text auch in der dritten Auflage im unveränderten Neudruck mit der Bezeichnung Band 1. Bielefeld, im März 1972 Niklas Luhmann Inhaltsverzeichnis Vorwort .......................................... . 5 Funktion und Kausalität ................................ . 9- 30 Funktionale Methode und Systemtheorie ..................... . 31-- 53 Wahrheit und Ideologie ............................... . 54- 65 Vorschläge zur Wiederaufnahme der Diskussion Soziale Aufklärung ................................. . 66- 91 Reflexive Mechanismen ................................ . 92-112 Soziologie als Theorie sozialer Systeme ...................... . 113-136 Gesellschaft ........................................ . 137-153 Soziologie des politischen Systems ......................... . 154-177 Positives Recht und Ideologie ............................ . 178-203 Wirtschaft als soziales System ............................ . 204-231 Selbststeuerung der Wissenschaft .......................... . 232-252 Die Praxis der Theorie ................................. . 253-267 Drucknachweis ...................................... . 268 7 Funktion und Kausalität Die funktionalistische Methode gilt in den Sozialwissenschaften als eine Forschungs methode unter anderen, als eine besondere Art der Begriffsbildung und des In Beziehung-Setzens. Manche Forscher verschreiben sich ihr und erreichen gute Erfolge. Andere lehnen den Funktionalismus ab, weisen auf die Unklarheit seines Grundbegriffs hin, werfen ihm Wertimplikationen vor oder Unempfindlichkeit für die Probleme des sozialen Wandels. Oder man bestreitet, daß die funktionalistische Methode sich von den üblichen Techniken kausaler Erklärung unterscheide. Offen ist auch die Frage der empirischen Relevanz und Kontrollierbarkeit funktionalistischer Feststellungen, gemessen an den strengen Standards kausalwissenschaftlicher Verifikation. Diese Behandlung der funktionalen Methode als einer begrenzt sinnvollen und begrenzt erfolgreichen Sondermethode der Sozialwissenschaften ist kürzlich von Kingsley Davis (1)* in Frage gestellt worden. Die Stoßrichtung seines Artikels zielt jedoch gegen die Eigenständigkeit der funktionalistischen Methode. Die methodologischen Schwierigkeiten, in denen der Funktionalismus gegenwärtig steckt, werden teils als unnötig, teils als allgemeine Probleme der Soziologie und der sozialen Anthropologie dargestellt. Der Funktionalismus sei im Kampf gegen einseitige Kausalerklärungen, gegen positivistischen Empirismus und evolutionistischen Historismus entstanden; im gegenwärtigen, reiferen Stadium der Sozialwissenschaft sei er überflüssig und könne eingeschmolzen werden. So faszinierend dieser Gedanke einer einheitlichen funktionalistischen Sozialwissen schaft sein könnte: Er wird nicht in Richtung auf eine Vereinheitlichung der Sozial wissenschaften, sondern in Form einer Kritik der funktionalistischen Methode ent wickelt. Diese Aussicht auf eine methodisch-einheitliche Sozialwissenschaft wird so in einem Zuge angedeutet und zerstört. Haben wir uns damit abzufinden? Die Sonderstellung der funktionalistischen Methode und damit auch die Kritik von Davis haben ihren Angelpunkt in bestimmten Voraussetzungen über das Verhältnis von Funktionalismus und Kausalforschung. Diese Voraussetzungen sind jedoch selten erforscht und eigens zum Thema methodologischer Überlegungen gemacht worden. Und wenn dies geschah, war die Blickbahn durch den alten Gegensatz von teleologi scher und mechanischer Kausalität festgelegt. Die Funktion wurde durch Kausal begriffe definiert. Die Frage war dann, ob die Funktion einer Handlung, Rolle oder Institution deren faktisches Vorkommen kausal erklären könne, und die Antwort natürlich negativ. Denn seitdem die Kausalbeziehung einen eindeutigen zeitlichen Richtungssinn erhalten hat (den sie weder für griechische noch für mittelalterliche Denker besaß), können Wirkungen irgendwelcher Art das Vorkommen von Ursachen nicht mehr erklären. Wir brauchen die berühmten Argumente gegen die causae finales nicht zu wiederholen. Die Frage ist, ob sie den Funktionalismus als wissenschaftliche Methode treffen. Um * Anmerkungen siehe S. 28-30. 9 das Ergebnis vorwegzunehmen: Sie treffen, solange das Selbstverständnis der funk tionalistischen Methode in den Grenzen der traditionellen ontologischen Kausalauf fassung bleibt und damit in die Alternative von teleologischer Erklärung durch Wirkun gen oder mechanischer Erklärung durch Ursachen gespannt wird. Sie treffen nicht mehr, wenn die funktionalistische Methode selbständig bestimmt und die funktionale Beziehung nicht länger als eine spezielle Art der Kausalbeziehung, sondern umgekehrt Kausalität als ein besonderer Anwendungsfall funktionaler Kategorien betrachtet wird. In ausdrücklichem Gegensatz zum logisch mathematischen Funktionsbegriff definieren die Sozialwissenschaften die funktionale Beziehung durchweg als eine Art von Wirkung und unterstellen sie damit der kausalwissenschaftlichen Methode. Das geschieht zuweilen in unmittelbarer Anwendung teleologischer Begriffe. Die besondere Art von Wirkung wird dann als Zweck gesehen, Funktionen gelten als zweckdienliche Leistun gen (2). Diese Auffassung gerät indes bei der näheren Erläuterung ihres Zweckbegriffs in Schwierigkeiten. Sicherlich können nicht nur vorgestellte und beabsichtigte Zwecke gemeint sein, denn die wichtigsten Probleme der Sozialwissenschaften liegen gerade im Bereich der unbedachten Folgen des Handeins. Was sonst aber ist ein Zweck, und wie grenzt er sich ab gegen andere Folgen des Handeins? Eine überzeugende Antwort auf diese Frage hat sich nicht finden lassen. Deshalb haben die Sozialwissenschaften, besonders Soziologie und Anthropologie, in Anlehnung an Forschungsmethoden der Biologie einen zweckfreien Funktionsbegriff entwickelt: Als funktional gilt eine Leistung, sofern sie der Erhaltung einer komplex strukturierten Einheit, eines Systems dient (3). Am grundsätzlichsten wird dieser Gedanke durch Talcott Parsons ausgearbeitet. Für ihn sind Systeme Aktionssysteme, deren Handlun gen voneinander abhängig und in dieser Abhängigkeit gegen die Umwelt relativ invari ant, das heißt: von Umweltveränderungen relativ unabhängig sind. Jede Leistung, die zur Erhaltung eines solchen Systems beiträgt, hat dadurch eine Funktion. Eine Funk tion wird also als eine besondere Art von Wirkung charakterisiert. Wenn man sich klarmacht, daß Formulierungen wie "Beitrag zur Erhaltung eines Systems", "Lösung von Systemproblemen", "Förderung der Integration oder Anpas sung eines Systems" schlichte Kausalbeziehungen meinen, daß im Grunde Feststel lungen des Typs "A bewirkt B" getroffen werden sollen (4), drängen sich viele Fragen auf. Diese Voraussetzung, einmal ans Licht gehoben, verweist auf die üblichen metho dischen Regeln der Kausalwissenschaft: auf das Ziel des Voraussagens und Erklärens empirischer Daten durch Feststellung invarianter Relationen zwischen bestimmten Ursachen und bestimmten Wirkungen und auf die dazu erforderlichen theoretischen und experimentellen Techniken. Diese strenge kausalwissenschaftliche Methodologie bedingt die Wahrheitsfähigkeit kausaler Urteile; ohne ,sie haben Kausalaussagen über Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen keine wissenschaftliche Relevanz. Es war daher berechtigt, daß Nagel (5) und Hempel (6) den sozialwissenschaftlichen Funktionalismus mit diesen methodischen Anforderungen konfrontierten. Das Ergebnis war im wesentlichen negativ. Wir wollen versuchen, diese Kritik in einigen wesentlichen Zügen nachzuzeichnen und auszubauen. Als Ausgangspunkt mag die Einsicht dienen, daß es nicht ohne weiteres möglich ist, Ursachen durch ihre Wirkungen zu erklären, daß also die Funktion einer Handlung, als 10 Wirkung gesehen, noch kein zureichender Grund ist, der das faktische Vorkommen dieser Handlung erklärt oder eine Voraussage gestattet. Deshalb ist die funktionali stische Theorie genötigt, die Wirkungen, auf die sie ihre Funktionen bezieht, durch eine kausale Hilfskonstruktion näher zu qualifizieren. Wir sahen vorhin schon, daß als funktionale Bezugsgesichtspunkte nur bestimmte Arten von Wirkungen in Betracht gezogen werden. Jetzt wird deutlich, welchen methodischen Sinn diese besondere Qualifikation der Wirkungen hat: Sie soll die Wirkungen zu einer tragfähigen Erklä rungsgrundlage ausbauen. Auf welche Weise man das versucht hat, sollen drei Beispiele zeigen. I. Die ältere funktionalistische Theorie bezog funktionale Erklärungen vornehmlich auf Bedürfnisse und ging davon aus, daß Bedürfnisse als Motiv, also als Ursache für ein Befriedigungshandeln kausal wirksam werden (7). Wenn man diese Gleichsetzung von Bedürfnis und Motiv (8) ernst nimmt, kommt man jedoch zu einer Gleichsetzung von vorgestellter Wirkung und Ursache ihrer Bewirkung und gerät damit in einen tautolo gischen Zirkel (9). Trennt man dagegen Bedürfnis und Abhilfemotiv (10), treten schwierige Probleme der gesonderten empirischen Feststellung beider, der logischen (gesetzmäßigen? ) Beziehung zwischen ihnen und der empirischen Verifikation dieser Beziehung auf. Und außerdem verliert der Bedürfnisbegriff damit seinen kausalen Erklärungswert. Ganz ähnlich verlocken auch Begriffe wie "Spannung" oder "Konflikt" dazu, Abhilfe motive zu unterstellen. Diese Begriffe rücken dadurch in den Mittelpunkt funktionaler Analysen, die zugleich kausale Erklärungen sein wollen (11). Es entsteht damit ein wissenschaftliches Weltbild, in das - aus rein methodenbedingten Gründen - ein scheinbar natürliches Gefälle zur Entspannung, zur konformen Anpassung und Kon fliktlösung eingebaut ist. Dem liegt letztlich die optimistische Annahme zugrunde, daß Probleme selbst Ursachen zu ihrer Lösung mobilisieren. 2. Eine andere Antwort auf dieses kausalwissenschaftliche Erklärungsproblem versucht die Gleichgewichtstheorie. Auch sie definiert den Funktionsbegriff durch eine nähere Charakterisierung von Wirkungen, die als Gründe funktionaler Erklärungen verwendet werden: Sie bezieht funktionale Erklärungen ausschließlich auf Systeme, die sich gegenüber ihrer Umwelt im Gleichgewicht halten (12). Es gibt unzählige Erläuterungen des Gleichgewichtsbegriffs. Der entscheidende Gedanke ist jeweils der einer latenten Kausalität: Im System sind Ursachen angelegt, die im Falle von Störungen wirksam werden, um das System in einen stabilen Zustand zurückzubringen. So gibt es zum Beispiel Systeme mechanischer Kräfte, die so ange setzt sind, daß sie sich gegenseitig blockieren und, wenn durch eine Störung freigesetzt, im Sinne der Wiederherstellung des Gleichgewichts wirken. Oder es gibt Anlagen im lebenden Organismus, die mit bestimmten Umweltveränderungen zusammen eine Ursachenkombination eingehen, welche die Körpertemperatur konstant hält, blutende Wunden schließt, kurz: im Sinne der Erhaltung bestimmter Eigenschaften des Organis mus wirkt (Horneostasis) (13). Oder es gibt konstruierte Rückkoppelungssysteme, die den Ausstoß eines Systems durch Informationen über gewisse Daten der Umwelt steuern. All diesen Systemen ist gemeinsam, daß sie bei wechselnden Umwelteinwirkungen bestimmte Merkmale stabil halten, indem sie solche Einwirkungen durch systeminterne Ursachen kompensieren. Ihre Stabilität beruht also nicht nur auf dem regelmäßigen Auftreten bestimmter notwendiger Ursachen, die den Bestand des Systems bewirken, sondern zusätzlich auf kausalen Querverbindungen unter den Ursachen, so daß die Folgen der Änderung einer Ursache bewirken, daß andere kompensierend eingreifen. II Die Bestandfestigkeit solcher Systeme ist demnach lediglich durch eine komplexe Kombination einfacher Kausalbeziehungen gesichert: Sie ist auf Beziehungen zwischen bestimmten Ursachen und bestimmten Wirkungen zurückführbar. Diese Beziehungen lassen sich jedoch nur dann als Gesetze formutieren, wenn das System determiniert ist, das heißt: nur je eine Veränderungsmöglichkeit besitzt (14). In diesem Sinne ver wenden auch Thermodynamik und Wirtschaftswissenschaften das Gleichgewichts modell als methodisches Hilfsmittel zur Formulierung invarianter Gesetze. Nur unter dieser Voraussetzung kann man aus einem Zustand des Systems Schlüsse auf einen anderen ziehen; nur so ist die Voraussage möglich, daß bei bestimmten umweltbe dingten Variationen im Bereich der bestandsnotwendigen Ursachen kompensierende Mechanismen eingreifen, die wichtige Systemzüge konstant halten. Solche determinier ten Systeme gibt es indes im Bereich des sozialen Lebens nicht. Im allgemeinen bleibt daher die Übertragung des Gleichgewichtsgedankens auf soziale Systeme in vagen Analogien und Metaphern stecken (15). Und wenn - methodisch vorsichtiger - der Gleichgewichtsgedanke als idealtypisches Modell ohne empirisch-deskriptive Bedeu tung eingeführt wird (16), so bleibt eben damit seine Erklärungsleistung problematisch. Eine bemerkenswerte Variante bringt der Versuch von Parsons, den Gedanken des reaktiven Mechanismus mit dem Begriff der Generalisierung zu verbinden (17). Parsons geht davon aus, daß durch solche Mechanismen ein System in gewisser Weise indiffe rent gegen Umweltschwankungen und insofern generell gefestigt werde. Der Begriff "Mechanismus" suggeriert noch eine Beziehung von bestimmten Ursachen und be stimmten Wirkungen, so auch der korrespondierende Funktionsbegriff von Parsons. Der Begriff der Generalisierung ist jedoch konträr dazu gebildet: Das Generelle ist in eigentümlicher Weise unspezifisch und gerade dadurch stabil, daß es mehrere empirisch-unterschiedliche Möglichkeiten offenhält. Seine Stabilität beruht, wie wohl Hippolyte Taine (18) zuerst formuliert hat, nicht auf spezifischen Wirkungen, sondern auf Substitutionsmöglichkeiten (18a). Parsons' generalisierende Mechanismen, z. B. Symbole, Geld, Macht, Lusterleben, verlangen vermutlich eine Interpretation außer halb der traditionellen Kausalwissenschaft, soll ihre Ordnungsleistung deutlich an den Tag treten. 3. Bevor wir dieser Frage weiter nachgehen, verdient noch eine dritte Antwort auf das Erklärungsproblem unser Interesse. Gouldner sucht einen Ausweg mit Hilfe des Begriffes der funktionalen Reziprozität (19). Er geht von der Einsicht aus, daß eine Funktion als solche niemals eine funktionale Leistung erklären könne. Deshalb trans poniert er das Problem auf eine höhere Ebene: die der Beziehung zwischen mehreren Systemen. Funktionale Leistungen werden in der Regel nicht einseitig, sondern im Rahmen eines zwei- oder 'mehrseitigen Austausches erbracht, der jedem der beteiligten Systeme (Personen, Gruppen, Organisationen) die bestandsnotwendigen Leistungen zuführe. Auch dieser Gedanke löst unser Problem nicht; er verschiebt es nur. Zunächst setzt er voraus, daß Bedürfnisse motivieren oder daß in jedem Einzelsystem gleichgewichtser haltende Mechanismen vorhanden sind, die die Austauschleistungen steuern. Damit gerät er in die schon erörterten Schwierigkeiten. Außerdem macht er die Erhaltung der Systeme und die Fortgewähr der wechselseitigen Leistungen abhängig von der Erhal tung eines übergeordneten Systems, eines "Marktes", der diesen Leistungsaustausch regelt. Dieses Tauschsystem selbst ist in seinem Fortbestand ungesichert und kein hinreichender Grund für die Annahme, daß die notwendigen Einzelleistungen weiter hin erbracht werden. Demgemäß muß Gouldner offenlassen, in welchem Umfange die beteiligten Systeme von dem Austausch leben, in welchem Maße "kompensatorische 12