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Soziologie zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit: Plädoyer für eine projektive Soziologie PDF

69 Pages·1968·1.771 MB·German
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Helmut Klages Soziologie zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit Helmut Klages Soziologie zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit Plädoyer für eine projektive Soziologie Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH ISBN 978-3-663-04004-0 ISBN 978-3-663-05450-4 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-05450-4 Verlags-Nr. 041 047 © Springer Fachmedien Wiesbaden 1968 Ursprünglich erschienin bei Westdeutsmer Verlag GmbH, Köln und Opladen 1968 Inhalt I. Die doppelte Aufgabe der Soziologie. . . . . . . . . . . . . . . . 7 II. Soziologie als Geschichtsphilosophie der Civil Society .. 10 III. Soziologie als Naturgeschichte industrieller Eigengesetz- lichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 13 IV. Die Herausforderung des Fin de Siede: soziale Macht- offenheit ...................................... 19 V. Versuche zur Rettung der älteren Theoriemodelle im 20. Jahrhundert ................................ 25 VI. Die subjektivistische Kehre Max Webers ............ 30 VII. Das Schicksal der instrumentellen Rationalität: etablier- ter und planstabilisierter Pluralismus .............. 35 VIII. Plädoyer für eine projektive Soziologie. . . . . . . . . . . .. 47 IX. Aktionsformen und wissensmethodische Leitlinien pro- jektiver Soziologie .............................. 53 X. Vorläufig abschließende Fragen: Humanität, Chilias- mus, Vested Interests ............................ 64 5 1. Die doppelte Aufgabe der Soziologie In einer Arbeit aus den letzten Jahren sagt Alex Inkeles: »Falls jemand darauf bestehen würde, die grundlegende Problematik, mit der sich die Soziologie beschäftigt, in einem einzigen Satz vorgestellt zu bekommen, dann würden wir antworten, daß sie versucht, die Voraussetzungen gesellschaftlicher Ordnung und ihres Fehlens zu e1"gründen.« 1 Inkeles beeilt sich, wenige Zeilen später nachdrücklich zu versichern, die Beschäftigung mit den Grundproblemen der gesellschaftlichen Ordnung dürfe keinesfalls mit der Bejahung irgendeines sozialen status quo oder mit dem Versuch seiner Rechtfertigung gleichgesetzt werden. Vielmehr gehe es für den Soziologen darum, ZiU erkennen, daß es in jedem Zustand gesellschaftlichen Lebens Kräfte gebe, die auf die Stabilisierung des Gegebenen ausgehen, und andere, die um gekehrt seine Zerstörung bezwecken, und daß »Ordnung« insofern mehr als Balance zwischen diesen antagonisnischen Kräften begrif fen werden müsse. Im selben Atemzuge eröffnet uns Inkeles noch, er halte die gegenwärtige Neigung der Soziologen, die gegensätz lichen Positionen einer »Gleichgewichtstheorie« und einer »Kon flikttheorie« einzunehmen, für steril, da eine richtig ansetzende Soziologie gleichermaßen das Studium von Beharrungstendenzen wie auch von Konflikt- und Wandlungstendenzen einschließe. Die Soziologie müsse zwar einerseits eine Wissenschaft sein, die nach den Voraussetzungen der Koordination und Integration sozialer Handlungen fragt und die sich damit das Problem stellt, diejenigen Mechanismen zu ergründen, welche die Entstehung von Chaos ver hindern. Andererseits müsse die Soziologie aber auch gleichermaßen darum bemüht sein, »diejenigen grundlegenden Prozesse zu entzif- 1 What is Sociology? An Introduetion to the Discipline and Profession, Engle wood Cliffs, New Jersey; Prentice-Hall, Ine., 1964, S. 25. 7 fern, durch welche - unter bestimmten Bedingungen und gege benenfalls auch unter Einbeziehung von Desorganisations- und Auflösungserscheinungen - ein Zustand des Systems in einen ande ren überführt wird« 2. Inkeles beschreibt hier - ganz offensichtlich mit einiger Mühe - eine gewissermaßen synthetische Position und Funktion, welche die Soziologie gegenüber antagonistischen Grundkräften und -tenden zen in der sozialen Wirklichkeit selbst wahrnehmen muß. Er postu liert, daß die Soziologie ein fundamentales Doppelproblem der Gesellschaft - einerseits die Entstehung von Chaos zu verhindern und andererseits doch Bewegung, Entwicklung und Wandel sicher zustellen - als Gesamtthema in sich aufzunehmen habe, wenn sie vollgültig sein wolle. Gleichzeitig stellt er noch fest, daß die gefor derte Synthese von der Soziologie bisher keineswegs zufriedenstel lend vollbracht worden sei, sondern daß sich, frei interpretiert, viel mehr umgekehrt Symptome für ein Wirksamwerden des gesell schaftlichen Unvermögens, auf das gestellte Doppelproblem anders als mit antagonistischen Lösungsformeln zu antworten, in der Sozio logie selbst auffinden ließen. Die Soziologie trägt, so können wir diesen soziologiekritischen Gedanken weiterdenken, in einer der maßen direkten Bestimmtheit durch ihr gesellschaftliches Objekt mehr zur Abspiegelung und Artikulation sozialer Konfliktstellun gen bei als zur Entschlüsselung der hinter ihnen stehenden gesell schaftlichen Grundprobleme. Sie ist überall da, wo sie für die eine oder andere Seite des gesellschaftlichen Grundantagonismus >Stel lung< bezieht, mehr Exponent sozialer Kräfte als gesamtgesell schaftliche Reflexionsinstanz. Sie hat sich, wo dies der Fall ist, noch nicht voll als »Gesellschaftswissenschaft« konstituiert, hat den Standpunkt eines sich unlimitiert mit dem von ihm beanspruchten Objekt konfrontierenden wissenschaftlichen Subjekts noch nicht gewonnen. In der Tat belehrt uns nun der Blick auf die Soziologiegeschichte darüber, daß derjenige gesellschaftliche Grundantagonismus, den Inkeles anspricht, einen recht guten Leitfaden für die Entzifferung und Zuordnung der meisten prinzipiellen Standortunterschiede dar stellt, die sich innerhalb der Soziologie selbst auffinden lassen. 2 A.a.O., S. 27. 8 Immer wieder stoßen wir nämlich auf die Gegenüberstellung von sozialer »Statik« und »Dynamik«, auf die Hervorhebung der Pro bleme des sozialen »Gleichgewichts« auf der einen, der sozialen »Entwicklung« auf der anderen Seite, der »Stabilität« gegenüber dem »Fortschritt«, der »Systemerhaltung« gegenüber dem »Wan del«, der Bewältigung gegebener »Komplexität« gegenüber den Perspektiven der gesellschaftlichen »Evolution« oder »Innovation«. Immer wieder handelt es sich alternativ um die Gegenwart oder um die Zukunft, um das Existente und unmittelbar Gewisse oder um das noch nicht Realisierte und ungewiß Ausstehende, entweder um das» Wirkliche« oder um das »Mögliche«. Die Geschichte der Sozio logie erweist sich als ein Manifestationsort derjenigen Grundspan nung, die sich vielleicht als die entscheidende Elementarproblema tik der menschlichen Gesellschaft ansprechen läßt: die positive Seite der Weltoffenheit, Unfestgelegtheit und Entfaltungsfähigkeit des Menschen mit ihrer negativen zu vermitteln, d. h.: nicht nur Daseins organisation zur Nutzung der innovativen Möglichkeitsspielräume des Menschen zu sein, sondern gleichzeitig auch die Aufbewahrung und stete Verfügbarkeit des jeweils Erreichten und die Absehbar keit seines künftigen Schicksals sicherstellen zu müssen. Wenn wir gerade sagten, daß die Soziologie bemüht sein müsse, mehr gesamtgesellschaftliche Reflexionsinstanz als Exponent sozia ler Problem- und Konfliktstellungen zu sein, dann scheint dies nun nach dem Vorstehenden darauf hinauslaufen zu müssen, für die Soziologie eine >richtige< Ansiedlung zwischen dem »Wirklichen« und dem »Möglichen« zu fordern. Soziologie muß von daher ge sehen danach streben, sich zu einer Wissenschaft zu entwickeln, die gleichermaßen der erkenntnismäßigen Durchdringung des Gegebe nen und seiner Erhaltungsbedingungen wie auch der Entfaltung der innovativen sozialen Potenzen zugewandt ist und die insofern auch einen eigenen Beitrag zur Vermittlung dieser beiden so schwer auf einen Nenner zu bringenden gesellschaftlichen Elementarbedürf nisse zu leisten vermag. Diese Feststellung muß allerdings gerade dann, wenn man ihre Prämissen akzeptiert, ebenso evident wie trivial erscheinen. Bei näherem Zusehen zeigt sich nämlich sehr schnell, daß die Vermitt lung von »Stabilität« und »Fortschritt«, von »Gegenwart« und 9 »Zukunft«, von» Wirklichkeit« und »Möglichkeit« selbst eine recht traditionsreiche Maxime ist, die als solche keinerlei Neuigkeits charakter für sich in Anspruch nehmen kann. Anders steht es indessen, sobald wir uns die Frage nach der bis herigen Verwirklichung dieser Vermittlungsmaxime in der Soziolo gie vorlegen. Wir können dann nämlich mit einigem Mut zur These die Behauptung wagen, daß der Soziologie zwar im Laufe ihrer Ge schichte in einer Reihe von Fällen Vermittlungsformeln gelangen, die für den jeweiligen >historischen Augenblick< durchaus angemes sen waren, daß diese Formeln jedoch durch den geschichtlichen Wan del selbst immer wieder überholt und entwertet wurden. Diese Behauptung zu erhärten, soll die eine Hauptaufgabe der nach folgenden Ausführungen sein. In dem hier gegebenen Rahmen kann dabei keine soziologie- und sozialgeschichtliche Vollständigkeit an gestrebt werden. Wir müssen uns zufriedengeben, wenn es uns ge lingt, in der Beschränkung auf besonders wesentlich erscheinende Abschnitte der Soziologie- und Sozialgeschichte einige grobe Um rißlinien der bestehenden Beziehungen aufzudecken, ohne uns den Vorwurf allzu großer Flüchtigkeit zuzuziehen. Die zweite Hauptaufgabe der nachfolgenden Ausführungen soll sein, aufzuzeigen, daß die Soziologie gegenwärtig noch keine aktuell befriedigende Vermittlungsformel für das Verhältnis von Wirk lichkeit und Möglichkeit ausgebildet hat. Den Abschluß bildet der Versuch, eine solche Formel zu entwickeln. Dabei werden natürlich im Prinzip alle Positionen tangiert, aus denen heraus gegenwärtig auf das Verhältnis zwischen Soziologie und Gesellschaft reflektiert wird. Daß hier nur ,ein Teil dieser Positionen aufscheint, sei der Vorläufigkeit des hier Vorgelegten zugute gehalten. 11. Soziologie als Geschichtsphilosophie der Civil Society Einen groß angelegten Versuch zur Zusammendenkung von Wirk lichkeit und Möglichkeit finden wir zunächst im Bereich der euro päischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts und des von ihr ent wickelten geschichtsphilosophischen Theoriemodells. 10 Einerseits ist es ein entscheidendes Grundanliegen dieses Theorie modells, den Durchbruch zur Einfachheit und Klarheit vernünftiger Weltgesetze zu vollziehen, die man hinter dem vielfarbigen Erschei nungsschleier der überkommenen historischen Realitäten vermuten zu müssen glaubt. Die Theorie soll dasjenige Organon sein, mit des sen Hilfe der Mensch wissensmäßig und praktisch dazu befähigt werden soll, die naturwüchsige Komplexität, wie sie das ausgehende Mittelalter hinterlassen hat, zu bewältigen, ohne sein Heil bei den absolutistisch-bürokratischen Herrschaftsstrukturen suchen zu müs sen, wie sie im 17. Jahrhundert verschiedentlich entstanden sind. Man denkt an die »Auffindung von Theorien, die einfache Schlüssel zum Universum abzugeben vermochten, und nimmt an, daß jeder mann fähig sei, selbst über die schwierigsten Fragen zu urteilen« 3. Andererseits lassen die geschichtsphilosophischen Gesellschaftstheo rien des 18. Jahrhunderts dieses eine Grundanliegen unmittelbar mit dem anderen nach Auslotung und Ausschöpfung der innova tiven Möglichkeitsspielräume des Menschen und der Gesellschaft zusammenfallen. Inthronisation der »Vernunft« und Ingangset zung des »Fortschritts« sind hier überall eins. Das Fortschrittsprin zip ist den »Gesetzen«, in deren Kenntnis das Vernunftprinzip kulminiert, inhärent. Vernünftig zu sein bedeutet notwendig - nicht also durch irgendeine Art von zusätzlichem Entschluß - fortschrittlich zu sein, d. h. im Sinne der Erreichung zukünftig mög licher höherer menschlicher Zustände zu wirken. Der Vernünftige hat diesbezüglich gar keine Wahl, ebenso wie letzten Endes trotz aller Widerstände gegen die Inthronisation der Vernunft der Mensch im ganzen keine Wahl hat, denn diese Widerstände sind nichts als Symptome menschlicher Kindheit und Unreife, die aber mit zunehmendem Entwicklungsalter der Menschheit absterben. In allen hier in Frage kommenden Gesellschaftstheorien gelangt eine ganz außerordentliche Aussagesicherheit und Anleitungsbereit schaft gegenüber der gesellschaftlich-politischen Praxis zum Aus- 3 J. B. Bury: The Idea of Progress - An Inquiry into its Origin and Growth, New York: Dover Publications, Ine. 1955 (Unabridged and unaltered republi eation of the 1932 edition), S. 202; vgl. hinsichtlich einer Zusammendenkung des Bedürfnisses nach »Erfassung und Reduktion von Komplexität« und Auf klärung auch Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung, in: Soziale Welt, Jg. 18/1967, Heft 2/3, S. 97 H. 11 druck, die ohne ein fundierendes Gewißheitserlebnis im Bereich der sozialen Wirklichkeit selbst gar nicht denkbar ist. Wir finden dieses Gewißheitserlebnis ohne große Schwierigkeit im historischen Aufstieg des Bürgertums und der von ihm getragenen civil society während des 17. und 18. Jahrhunderts. Schon Werner Sombart hat die Gewalt und Vielschichtigkeit dieses Prozesses einer erschöpfende Analyse unterzogen, die auch heute noch Gültigkeit beanspruchen darf Seiner Darstellung zufolge gibt die Errichtung 4. der absolutistischen Territorialstaaten zusammen mit einigen wei teren historischen Ereignissen wie z. B. der Entdeckung Amerikas, der Entdeckung der doppelten Buchführung und verschiedenen tech nischen Innovationen den Anstoß zu einer tiefgreifenden Umgestal tung des europäischen Gesellschaftslebens. Insbesondere, so erklärt Sombart, ergeben sich im »Zeitalter des Frühkapitalismus« ein schneidende Veränderungen der europäischen »Wirtschaftsform «, die in allen Bereichen der wirtschaftlichen Macht, Vermögens-, Ar beits- und Berufsorganisation wirksam werden Während in die 5. ser Epoche der Großteil der Bevölkerung noch bodenständig und in die überlieferten Feudalstrukturen eingeschlossen bleibt, entwickeln sich in den Städten langsam Keimzellen der bürgerlichen Welt. Sie finden ihr geistiges Zentrum in dem sich allmählich aus seinen reli giösen Ursprungsbindungen lösenden kapitalistischen Denken, das seinerseits in einem historisch völlig unerhörten Sinne als rationa lisierende und das heißt: enttraditionalisierende und emanzipie rende Kraft wirkt. Philosophie, Wirtschaft und Wissenschaft schei nen in einer natürlichen Allianz des Fortschritts vereinigt, deren stets wirksame Durchsetzungskraft und Dynamik groß genug ist, um mit einigem Mut zur Extrapolation den zukünftigen Sieg der Vernunft über ihre gegenwärtigen Widersacher als unausweichliches Ereignis und Entwicklungsgeschick des Menschen prognostizierbar werden zu lassen. Insbesondere in England entwickelt sich aus dieser Erfahrung ein gleichsam metaphysisches Vertrauen in die evolutionäre Selbstdurch- 4 Vgl.: Der moderne Kapitalismus, Zweiter Band (1. u. 2. Halbband) : Das europäische Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frühkapitalismus, München und Leipzig: Verlag von Duncker und Humblot, 1828 passim. 5 A.a.O., S. 66. 12

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