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Soziologie und Sozialgeschichte: Aspekte und Probleme PDF

622 Pages·1972·20.675 MB·German
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SONDERHEFT 16 SOZIOLOGIE UND SOZIALGESCHICHTE SOZIOLOGIE UND SOZIALGESCHICHTE Aspekte und Probleme Herausgegeben von PETER CHRISTIAN LUDZ WESTDEUTSCHER VERLAG OPLADEN ISBN-13:978-3-531-11186-5 e-ISBN-13:978-3-322-83551-2 DOl: 10.1007/978-3-322-83551-2 Inhaltsiibersicht I. Theoretische Aspekte der historischen Soziologie und der Sozialgeschichte Soziologie und Sozialgeschichte. Aspekte und Probleme. Von Prof. Dr. Peter Chri- stian Ludz, Bielefeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Die Soziologie vor der Geschichte. Von Prof. Dr. Friedrich H. Tenbruck, z. Z. New york.............................................................. 29 Soziologie und Geschichte aus der Sicht des Sozialhistorikers. Von Prof. Dr. Hans- Ulrich Wehler, Bielefeld.. . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Weltzeit und Systemgeschichte. Ober Beziehungen zwischen Zeithorizonten und so zialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme. Von Prof. Dr. Niklas Luhmann, Bielefeld ........................................................... 81 Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte. Von Prof. Dr. Reinhart Koselleck, Heidel- berg............................................................... 116 Sozialgeschichte und Wirtschaftsgeschichte. Abgrenzungen und Zusammenhange. Von Prof. Dr. Wolfram Fischer, Berlin.................. ............... . 132 II. Methodologische und methodische Probleme Theoretische Probleme empirischer Geschichtsforschung. Von Prof. Dr. Peter Chri- stian Ludz, Bielefeld, und Horst-Dieter Ronsch, Bielefeld. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Zur Verwendung von Konzepten des Operations Research in der rechts-und sozial- geschichtlichen Forschung. Von Lucian Kern, Bielefeld. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Zur Anwendung von Simulationsmodellen in der sozialgeschichtlichen Forschung. Von Horst-Dieter Ronsch, Bielefeld. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Historische Tatsachen und wissenschaftliche Daten am Beispiel der Erforschung von Kriegen. Von Prof. Dr. Melvin Small, Detroit, Mich., und Prof. Dr. J. David Singer, Ann Arbor, Mich. ............................................. 221 Zur Stellung historischer Forschungsmethoden und nicht-reaktiver Methoden im System der empirischen Sozialforschung. Von Prof. Dr. Gunter Albrecht, Bielefeld 242 6 Inhaltsubersicht Ill. Komparative Ansatze Die Bildungsentwicklung im ProzeB der Staaten- und Nationenbildung. Eine ver gleimende Analyse. Von Peter Flora, Frankfurt (Main) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Die Herausbildung einer sozialen Gesinnung im Fruhindustrialismus. Ein Vergleim der Auffassungen franzosismer, britismer und deutsmer Unternehmer. Von Prof. Dr. Peter N. Stearns, New Brunswick', N. J. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Sozialer Wandel in Mitteleuropa, 1780-1840. Eine vergleimende landesgeschicht- lime Untersumung. Von Prof. Dr. Wolfgang Zorn, Munmen . .. . . . . . . . . . . . . . . 343 IV. Stadtsoziologie und Stadtgeschichte Stadtgesmichte und Kriminalsoziologie. Eine historism-soziologische Analyse ab weichenden Verhaltens. Von Prof. Dr. Fritz Sack, Regensburg . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Der WachstumsprozeB in den osterreichischen GroBstadten 1869-1910. Eine histo risch-demographisme Untersuchung. Von Prof. Dr. William H. Hubbard, Mont- real ............................................................... 386 V. Marxismus, Historische Soziologie und Sozialgeschichte Der Strukturbegriff in der marxistischen Gesellschaftslehre. Von Prof. Dr. Peter Christian Ludz, Bielefeld. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Marxismus, Positivismus und Sozialgesmimte. Zu Karl August Wittfogels Gesell- smaftstheorie. Von G. L. Ulmen, New york..... . ... ........... . . . . . .... . 448 Der Beitrag von Barrington Moore Jr. zur soziologism orientierten Sozialgesmimte. Von Dr. Harald Mey, Bielefeld. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Zur jiingeren marxistismen Sozialgesmimte. Eine kritisme Analyse unter besonderer Beriicksimtigung sozialgesmimtlimer Ansatze in der DDR. Von Dr. jurgen Kocka, Miinster ..................................................... 491 VI. Neue Forschungsergebnisse und -berichte Modernisierung und die Gebildeten im kaiser lichen Deutsmland. Oberlegungen zu einer in Arbeit befindlichen Untersumung. Von Prof. Dr. Dietrich Ruschemeyer, Providence, R. I. .................................................... 515 »La vie intime«. Beitrage zu seiner Gesmimte am Beispiel des kulturellen Wandels in den bayerismen Unterschimten im 19. Jahrhundert. Von Prof. Dr. Edward Shorter, Toronto .................................................... 530 Inhaltsubersicht 7 Wirtsmaftlicher Strukturwandel und sozialer Konflikt in der Fruhindustrialisie rung. Eine Fallstudie zum Aachener Aufruhr von 1830. Von Dr. Heinrich Volk- mann, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 Sozialgeschichte und Soziologie als soziologische Geschichte. Zur Raum-Zeit-Lehre der »Annales«. Von Dr. Manfred Wustemeyer, Dusseldorf. . . . . . . . . . . . . . . . . . 566 Die Verwendung quantitativer Daten in politik- und sozialwissenschaftlichen For smungen zur neueren deutschen Geschimte. Von Prof. Dr. James J. Sheehan, Evanston, Ill. ....................................................... 584 Auswahl-Bibliographie zu wissenschaftstheoretischen ProbleItlen von Soziologie und Geschichte. Von Prof. Dr. Peter Christian Ludz, Bielefeld .................. 615 I. Theoretische Aspekte der historischen Soziologie und der Sozialgeschichte SOZIOLOGIE UND SOZIALGESCHICHTE: ASPEKTE UND PROBLEME von Peter Christian Ludz Vorbemerkung Eine oberflachliche Betrachtung der gegenwartigen Situation in der Soziologie wie in der Geschichtswissenschaft kann zu dem SchiuB ftihren, daB die Tendenzen zu einer gleichermaBen immer weitergehenden Soziologisierung wie einer Ent-Historisierung anhalten; daB folglich die Geschichte mehr und mehr in die Soziologie einbezogen wird und ihren Charakter als selbstandige Wissenschaft tendenziell verliert. Nicht zuletzt diesen Eindruck zu widerlegen, hat sich das vorliegende Sonderheft zur Aufgabe gemacht. Gleichzeitig will es zeigen, daB eine solche Fragestellung nicht mehr von der tatsachlichen Entwicklung gedeckt ist. Ein erster Oberblick tiber die gegenwartig in der Soziologie wie in der Geschichtswissen schaft thematisierten Forschungsansatze und Problemstellungen macht bereits deutlich, daB eine einheitliche, mit einer Formel ausdrtickbare Entwicklung empirisch kaum fest stellbar ist. Vielmehr stehen innerhalb beider Disziplinen zahlreich theoretische, me thodologische und methodische Konzeptionen mit unterschiedlichen StoBrichtungen - haufig relativ unverbunden - nebeneinander. Diese Unverbundenheit der Ansatze und die Unterschiedlichkeit von Theorien und Konzepten, die auch im engeren Feld der historischen Soziologie und der Sozialgeschichte anzutreffen sind, darf Freilich nicht dar tiber hinwegtauschen, daB bestimmte Problemlagen (z. B. die Frage nach der Geschichte oder den Geschichten einer Gesellschaft, das Problem der Invarianten bzw. historischen Konstanten, die Berlicksichtigung der historischen Zeit, die neue Einschatzung biogra phischer Strukturen sowie die methodologische und methodische Problematik der ver gleichenden soziologischen und historischen Forschung) Soziologie und Geschichte im mer wieder zusammenflihren. Der Zwang zur interdisziplinaren Orientierung von Soziologie und Geschichtswissen schaft lieB durchaus gewisse vergleichbare Entwicklungen entstehen. Wesentlich ist, daB beide Disziplinen unter den Anforderungen der Theoretisierung stehen. »Theoretisie rung« wird allerdings nicht einhellig begriffen. Neben den erfahrungswissenschaft lichen, von deduktiven Aussagesystemen ausgehenden Richtungen stehen die kritisch dialektischen Ansatze, die Theorie stets im Bezug zur gesellschaftlichen Praxis sehen. Ferner ist das aus dem symbolischen Interaktionismus, der Ethnomethodologie und der Sozialphanomenologie stammen de Theorieverstandnis zu erwahnen, in dem die histo rische Dimension menschlichen Handelns ebenso wie die subjektiven Aspekte der Erfah rung als konstitutiv flir die Theoriebildung angesehen werden. Die Konkurrenz ver schiedener Konzeptionen von Theorie und damit eine Erweiterung dessen, was heute als »Theorie« akzeptiert wird, hat - das ist unsere These - die Wiederannaherung von Geschichte und Soziologie allererst ermoglicht - teilweise im Medium der Sozialge- 10 Peter Christian Ludz schichte bzw. der soziologisch orientierten Geschichtswissenschaft, teilweise im Rahmen der vergleichenden historisch ausgerichteten Soziologie, wesentlich jedoch durch die all gemeine soziologische Theorie, die im Zuge der Erweiterung ihres Theorieverstandnisses genuin die historische Dimension selbst wieder »entdeckt« hat. Die Soziologie hat, was das wissenschaftslogische Niveau der Theoretisierung betrifft, ihren urspriinglichen Vorsprung gegeniiber der Geschichte insofern prinzipiell verloren, als die aus der Ethnomethodologie, der Sozialphanomenologie, der 1nteraktionstheorie und der kritischen Soziologie kommenden Ansatze dem methodologischen Rigorismus, wie er etwa von Carl G. Hempel vertreten wird, samtlich eine Absage erteilen. Statt dessen bevorzugen sie andere Methodologien, die hier Freilich nicht behandelt werden konnen. Diese Methodologien sind wesentlich dadurch gekennzeichnet, dag das Subjekt der Erkenntnis als in den Erkenntnisprozeg mit einbezogen gedacht wird, und dag da durch der Bereich der Erfahrung ebenso wie das Erkenntnisobjekt erweitert worden sind. Die Vorstellungen davon, was Erfahrung und Realitat sind, sowie vor allem die Annahmen iiber das Verhaltnis von generellen Behauptungen iiber diese Realitat zu den Anfangs- und Randbedingungen und den Voraussagen haben sich verandert - ebenso wie die Annahmen iiber die Wahrheit/Falschheit von daraus abgeleiteten Sat zen 1. Die - recht unterschiedlichen - Ursachen fiir eine neue Phase der Annaherung zwischen Soziologie und Geschichte konnen im vorliegenden Zusammenhang nicht behandelt werden. Vielmehr empfiehlt sich eine Einfiihrung in einige Hauptaspekte und -pro bleme - schon deshalb, weil die Diskussionen in Soziologie wie Geschichte nicht abge schlossen sind, weil sie auf unterschiedlichem theoretischen und methodologischen Niveau verlaufen und weil sie einen unterschiedlichen Grad interdisziplinarer Ver flechtung erkennen lassen. Zunachst wird das Gesprach zwischen Soziologie und Geschichte durch eine Vielfalt erkenntnistheoretischer Positionen ebenso offengehalten wie belastet. Neukantianische, hegelianisch-marxistische, lebensphilosophisch-phano menologische, wissenssoziologische und wissenschaftstheoretische Erkenntnistheorien, jeweils in verschiedener Auspragung, stehen gleichsam hinter den Konzepten, Katego rien und Begriffen und beeinflussen deshalb die Diskussion. 1nsofern besitzt jeder Auf weis von Aspekten und Problemen im Verhaltnis von Soziologie und Geschichte stets auch eine erkenntnistheoretische und haufig eine geschichtsphilosophische Dimension. Zur Wiederannaherung von Soziologie und Geschichte 1m folgenden sollen einige Annahmen fiir eine Riickorientierung der Soziologie auf die Geschichte und eine tendenzielle Annaherung jedenfalls der Sozialgeschichte an eine historisch-soziologische Erfahrungswissenschaft formuliert werden. Einmal herrscht gegenwartig sowohl in der Soziologie wie in der Geschichtswissenschaft eine Unsicherheit im Grundsatzlichen. Diese Situation ist der Ausdruck der Erkenntnis, dag einerseits die grundsatzlichen Fragen zwischen beiden Disziplinen in der bisherigen Diskussion eher ausgeklammert als in Angriff genommen worden sind, dag aber ande rerseits diese Fragen im interdisziplinaren Gesprach naturgemag drangender werden 2. Soziologie und Sozialgeschichte 11 Zu diesen Grundproblemen gehort zweifellos die in beiden Disziplinen nach wie vor vorhandene unterschiedliche wissenschaftstheoretische Ausrichtung. In der Soziologie stehen sich unter den (wissenschafts-)theoretischen Positionen, die einen Bezug zur Ge schichte besitzen, gegeniiber: der empirisch-analytische Ansatz, die kritischen Richtun gen, die wissenssoziologisch-phanomenologischen Schulen, urn nur diese noch einmal zu erwahnen. In der Historie - soweit sie sim der Soziologie offnet - ist neben einem soziologisch-empirisch und verhaltenswissenschaftlich orientierten Ansatz, der gleichzei tig die Sozialgeschichte eher als Teildisziplin begreift, ein umfassenderes Verstandnis angesiedelt, das Sozialgeschichte als »Strukturgeschichte« auffaBt und das als »integrale Aspektwissenschaft« (Jurgen Kocka) gekennzeichnet worden ist 3. Zu den Grundproblemen gehort jedoch sicherlich auch der Begriff der Geschichte selbst. Zunehmend ist Geschichte einerseits zu einer Leerformel, zu einem »Blindbegriff« geworden, zu einem »Sammelbec:ken aller nur denkbaren Ideologien, die sich auf die Geschichte berufen konnen, weil die Geschichte selber nicht mehr kritism in Frage gestellt wird« 4. In der Konkretisierung solcher Oberlegungen stehen die Forderungen, die Kenneth E. Bock, Robert A. Nisbet und im AnschluB an sie Friedrich H. Tenbruck erhoben haben: das Abgehen von einem Geschichtsverstandnis, das Geschichte als »Ent wic:klungsgeschichte« begreift; der Verzicht auf die ungepriifte Annahme, daB jede tem porare Beharrung und jeder Stillstand als (unnatiirliche) Stagnation zu deuten seien. Geschichte wird andererseits als personliche Geschichte, als von Bedeutungsgehalten bestimmte Kette von Situationen begriffen. Fiir ein solches Verstandnis sind etwa Harold Garfinkel, Erving Goffman und Niklas Luhmann sowie vor all em Alfred Schutz in Ansprum zu nehmen. Verbunden mit solchen Orientierungen ist der - in der politischen Wissenschaft und den »international relations« bereits gelaufige - Gedanke, Geschichte nicht mehr nur als »Binnengeschichte« einer Gesellsmaft zu sehen, sondern wenigstens die jeweilige »AuBengeschichte« mit einzubeziehen 5. »AuBengeschichte« einer Gesellschaft konver giert in unserem Verstandnis tendenziell mit dem, was als Erweiterung der »Binnen geschichte« des Individuums und seiner Interaktionen bezeichnet werden kann. Hinzu kommen Ferner die schon seit langerem erhobenen Forderungen nach einer Ab kehr von der tradition ellen Diplomatiegeschichte sowie der politischen Ereignis geschichte - Forderungen, die besonders von einigen Vertretern der Sozialgeschichte erhoben werden ( H.-U. Wehler). Das Forschungsinteresse wendet sich zunehmend den sozio-okonomischen Hintergriinden politischer Geschehnisse und damit anderen historischen Quellen zu 6. Die Geschichtswissenschaft, die sich von hier aus der Sozio logie nahert, findet in ihr in der Tat einen eifrigen Gesprachspartner. Denn sie eroffnet ihrerseits eine Diskussion urn den Begriff der »Gesellschaft«, speziell der »Industrie gesellschaft«, und stoBt damit auf ein Grundproblem der Soziologie. In der gegenwar tigen Soziologie wird »Gesellschaft« mehr und mehr durch »Industriegesellschaft« ersetzt, ohne daB bisher Klarheit dariiber erzielt werden konnte, welche existierenden und vergangenen Gesellschaften »Industrie«- oder »industrielle« Gesellschaften sind bzw. waren, wo die historischen Einschnitte liegen und welche Begriffe und Konzepte zu deren verbindlicher Bestimmung herangezogen werden konnen. In der theoretischen Soziologie und der Sozialphilosophie sind die Verbindungslinien 12 Peter Christian Ludz zwischen den dem Konzept der »Industriegesellschaft« zugrundeliegenden makrosozio logischen Annahmen und dem Konzept der »Lebenswelt«, wie es Edmund Husserl ent worfen hat, ebenfalls noch kaum gezogen worden. Insbesondere Husserls beruhmte Be merkung: »Die schlichte Erfahrung, in welcher die Lebenswelt gegeben ist, ist letzte Grundlage aller objektiven Erkenntnis. Korrelativ gesprochen: diese Welt selbst, als die (ursprunglich) rein aus Erfahrung vorwissenschaftlich fur uns seiende, gibt in ihrer in varianten Wesenstypik im voraus alle moglichen wissenschaftlichen Themen an die Hand« 7, ist soziologisch noch kaum zureichend ausgelotet worden. Dies trifft vor all em fur die im Begriff der Lebenswelt mitgesetzten Annahmen uber historische In varianten zu 8. Ein zweiter Grund fur vergleichbare Entwicklungen in Soziologie und (Sozial-)Ge schichte, eine weitere Bedingung der Moglichkeit ihrer Wiederannaherung, ist die kri tische Besinnung beider Disziplinen auf ihre jeweils eigene Wissenschaftsgeschichte. In der neueren Soziologie wird diese reflexive Aufgabenstellung, die Forderung nach einer »Soziologie der Soziologie«, etwa bei Robert W. Friedrichs, Gideon Sjoberg/Roger Nett und Alvin W. Gouldner stark betont 9. Diese Autoren kritisieren Funktionalismus wie Behaviorismus und fordern fur die Soziologie eine Berucksichtigung der philoso phisch-phanomenologischen, der historischen, der kulturanthropologischen wie der sprachsoziologischen Dimensionen und, darauf aufbauend, eine neue, starker philo sophisch-historisch orientierte soziologische Theorie. Diese soll in erster Linie die Sub jektivitat des Subjekts sowie die gesellschaftliche Funktion von Sinn thematisieren 10. Dabei wird Sinnhaftigkeit menschlichen Erlebens und Handelns, wie Niklas Luhmann gezeigt hat, insofern konstitutiv fur die historische Dimension - in diesem Fall: die hi storische Zeit - als sie die erfahrbare Selektivitat aller Einzelbestimmungen uberhaupt erst ermoglicht 11. Als ein Ausdruck der kritischen Reflexion in der Geschichtswissenschaft ist die Begriffs geschichte einzuordnen. Begriffsgeschichte hat »die Konvergenz von Begriff und Ge schichte« zum Thema. In einem solchen Verstandnis ware Geschichte dann stets nur »insoweit Geschichte, wie sie je schon begriffen worden ist«. Geschichte ist bereits im 19. Jahrhundert zur »subjektiven Bewufhseinskategorie« geworden. Andererseits wurde Geschichte ebenfalls zu dieser Zeit »Pluralform von Einzelgeschichten«. Seit dieser Zeit spricht man von der »Arbeit der Geschichte«; von dort datiert, ruckblickend, die Um wandlung der Geschichte als eines »Organons der historischen Wissenschaften« in einen geschichtsphilosophischen, einen metahistorischen Begriff 12. Die politischen Folgen eines im spaten 19. Jahrhundert und in der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts immer mehr zur massiven Leerformel gewordenen Geschichtsbegriffs sind bekannt. Auf sie ist hier nicht naher einzugehen. Vielmehr ist auf die Reaktion der Historie hinzuweisen. Folge richtig wurde in der Geschichtswissenschaft nach 1945 die Formel: »die Geschichte selbst«, kritisch, d. h. wort- und begriffsgeschichtlich hinterfragt und damit der Grund zu einer neuen Legitimation der Historie, zu einer Geschichtswissenschaft als kritischer gelegt. Ein solcher Begriff der Kritik, der sich - iiber seine theoretisch-semantische und sprachanalytische Dimension - methodologisch ausweisen und methodisch iiberpriifen laBt, wird von der Soziologie - soweit wir sehen - noch zu wenig beachtet. Diese Bemerkungen leiten bereits iiber zu einem dritten Grund fiir gemeinsame Frage-

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