Soziologie und politische Bildung Schriften zur politischen Didaktik Band 28 Siegfried Lamnek (Hrsg.) Soziologie und politische Bildung Leske + Budrich, Opladen 1997 Gedruckt auf säurefreiem und altersbeständigem Papier. Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Soziologie und politische Bildung / Hrsg.: Siegfried Lamnek. - Opladen : Leske und Budrich, 1997 (Schriften zur politischen Didaktik; Bd. 28) ISBN 978-3-8100-1841-0 ISBN 978-3-322-95817-4 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-95817-4 NE: Lamnek, Siegfried [Hrsg.] © 1997 Leske + Budrich, Opladen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fiJr Vervielfdltigungen, Übersetzungen, Mi kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Kath. Universität Eichstätt Inhaltsverzeichnis Seite I Zur Einrlihrung Siegfried Lamnek Soziologie und politische Bildung ............................ 9 11 Soziologische Theorie der politischen Bildung Bernhard Claußen Zum Stellenwert der Soziologie in Theorie und Praxis der politischen Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Kornelia Hahn Politische Bildung als angewandte Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Ronald HitzIer Politisches Wissen und politisches Handeln. Einige phänomenologische Bemerkungen zur Bergriffsklärung ...... 115 111 Soziologie in der politischen Bildung Helge Peters Abweichung und Normalität - Praktische Implikationen der Soziologie für den Umgang mit "den anderen" 135 Hans-Peter Müller Ungleichheit und Gerechtigkeit im heutigen Deutschland. Ein Beitrag zur politischen Bildung ......................... 151 Siegfried Lamnek Soziologie sozialer Probleme als politische Bildung . . . . . . . . . . . . .. 165 Marek Fuchs/Jens Luedtke Gesellschaftsbilder statt Politikmodelle. Sozialstrukturanalyse in der politischen Bildung ................ 199 Lothar Bossle Der Beitrag der Soziologie zur Neufassung der Lehrgehalte politischer Bildung im vereinten Deutschland .... . . . . . . . . . . . . . . 229 IV Die Praxis der politischen Bildung in Schule und Universität Michael Meuser Auf dem Weg zur marginalen Soziologie? Strategien gegen eine Verdrängung aus der politischen Bildung ..................... 241 Hajo Weber/Johannes Bauerdick Die Thematisierung der Gesellschaft zwischen den Stühlen der Sozialwissenschaften -eine 'Evolution' von Lehrplänen ........... 261 Theodor W. Beine Politische Bildung in der Grundschule? Überlegungen zur Lehrkräfteausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 KarlOtto Die Bedeutung der Soziologie in der sozialwissenschaftlichen Lehramtsausbildung ................................... 299 V Die Autoren I Zur Einführung Soziologie und politische Bildung Siegfried Lamnek 1 Politische Bildung als Herausforderung der Soziologie Die politische Bildung -in den 50er Jahren als Schulfach und universitäre Disziplin (wieder) ein- und seitdem länderspezifisch in unterschiedlichen Konzeptionen, Bezeichnungen und Gewichtungen durchgefiihrt - sieht sich insbesondere seit der Vereinigung der bei den deutschen Staaten veränderten und schwieriger gewordenen AufgabensteIlungen gegenüber. Der wohl eher desolate Ist-Zustand auf allen Ebenen schulischer und universitärer Praxis - minimale Stundenzahl bei ins Haus stehenden Kürzungen, geringes Prestige bei Lehrenden wie Lernenden etc. -ist in seinen sozialen Konsequenzen für Gesellschaft und Demokratie langfristig nicht ab und kaum zu unterschätzen. Aufgrund der gegenwärtig existierenden, gravierenden sozialen Probleme, ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, daß die unsere Gesellschaft tragenden Werte nicht mehr allseits in wünschenswerter und erforderli cher Weise geschätzt, gebilligt, gelebt und durchgesetzt werden. Ein sozial ver träglicher (und zugleich kritischer) Umgang mit den sich veränderten Lebens bedingungen wird nur mehr begrenzt erfahren und erlernt. Besonders im Blick auf die neuen Bundesländer und deren historisch begründetetes Defizit an politisch demokratischer Bildung und Erfahrung sind Nachholprozesse zu initiieren. Politi sche Bildung darf schon deshalb nicht (weiter) marginalisiert werden. Diese Forde rung bezieht sich nicht allein auf die politische Dimension politischer Bildung, sondern insbesondere der soziale Aspekt muß vermittelt und einer Inferiorisierung entzogen werden. Nicht erst seit den (politisch und ökonomisch motivierten) Intentionen zur Kürzung der gymnasialen Ausbildungsdauer um ein Jahr geraten Überlegungen über die Möglichkeiten und Notwendigkeiten sowie die Chancen und Restriktionen der Soziologie, fruchtbar auf den Bereich der politischen Bildung in der Schule ein zuwirken, zur conditio sine qua non. Aus der Verknappung der Ressource Zeit resultieren für den Bereich der politischen Bildung - mithin der sozialkundlichen Ausbildung in Gymnasium und Universität - Kürzungen der Anteile, mit denen einzelne Disziplinen in die Gestaltung der Lehrpläne einwirken (können). Bourdieu (1985) geht in seinem konflikttheoretischen Sozialstrukturmodell von Auseinandersetzungen in den einzelnen Feldern des sozialen Raumes aus, die sich um die Definition der als legitim geltenden Kriterien für die Besetzung der Positio nen in den jeweiligen Feldern ranken. In dieser Weise dürfen auch Auseinanderset- 10 Siegfried Larnnek zungen bzw. Konkurrenzen um den Einfluß auf die Gestaltung des Faches "Politi sche Bildung" interpretiert werden. Prekär zeigt sich die Lage insofern, als damit auch erhebliche Auswirkungen auf die Möglichkeiten der universitären Ausbildung angehender Lehrer in Soziologie als zentralem Element politischer Bildung resultie ren, verschärft vor allem in Zeiten z. T. undifferenzierter Kürzungen von Ressour cen und Stellen. , Für die Soziologie als Integrationswissenschaft besteht somit Anlaß zu erheb licher Besorgnis, wie der Blick auf die schulische Praxis beweist. Wenn Weber/ Bauerdick konstatieren, daß in Rheinland-Pfalz Sozialkunde fast zur "Staatsbürger kunde" geraten sei, dann bedeutet dies die Dominanz des politikwissenschaftlichen Bereiches. Daher muß die Soziologie die Gefahr sehen, nicht auf den Weg zur "marginalen Größe" im Bereich der Sozial- und Gemeinschaftskunde zu geraten (Meuser). Dies nicht (allein) um der Soziologie selbst willen, sondern um politische Bildung hinsichtlich ihrer Wirkungen optimieren zu können. Aufmerksam muß sich die Soziologie daher (polemischen und/oder defätisti schen) Äußerungen entgegenstellen, wie sie in jüngster Zeit etwa Warnfried Dett ling als Abgesang auf die Soziologie in den öffentlichen Diskurs einbrachte (vgl. DIE ZEIT vom 05.01.1996 oder Fritz-Vannahrne 1996, S. 11 ff.), daß nämlich der modemen Soziologie durch die Individualisierung ihre Voraussetzung abhanden gekommen sei, d. h. eine Gesellschaft im gewohnten Sinne. Zudem seien die gesellschaftlichen Entwicklungen so komplex geworden, daß sie (auch) kein Soziologe mehr verstünde. Abwehrtendenzen finden sich allerdings auch anderenorts: So wenden sich z. B. die Autoren des "Darmstädter Appells" gegen eine eigenständige Beteiligung der Soziologie an der politischen Bildung, wenn sie in einem "umfassenden sozialwis senschaftlichen Ansatz" die Gefahr sehen, daß die "Besonderheit des Politischen verkannt werde". Unter der Leitfrage nach dem "Standort Deutschland", der Her ausforderung durch internationale Arbeitsteilung und der gleichzeitig zu sichernden "Überlebensfähigkeit der hiesigen Wirtschaft" (S. 1) werden wirtschaftlich-techni scher Erfolg sowie die kontinuierliche sozial- und rechtsstaatliche Demokratie zu Schlüsselgrößen. Übertragen auf ein Fach "Politische Bildung" bedeutet dies eine didaktische Zentrierung auf die Größen Wirtschaft und besonders Politik, was sich überdeutlich in der Forderung niederschlägt, bei der Gestaltung des Lehramts studiums fiir das Kernfach "Politische Bildung" seien "unter koordinierender Verantwortung der Politikwissenschaft (Hervorhebung durch S. L.) die sozial wissenschaftlichen Disziplinen Soziologie, Wirtschaftswissenschaft sowie relevante Aspekte der Rechtswissenschaft und der Zeitgeschichte zu beteiligen" (dialog 1995, S. 7). Ungeachtet der Frage, woher diese politologische Position ihre Legitimation ableitet, bei letztlich gesellschaftsumfassender Thematik fachkompetent und - dominant vorzugehen, muß vor allem auf die damit drohende Randständigkeit der Soziologie und politische Bildung 11 Disziplin "Soziologie" im Hinblick auf die curriculare Gestaltung der politischen Bildung hingewiesen werden, die auf diese Weise zur reinen Dienstleistungsdiszi plin mit reduziertem Auftrag degeneriert. Die Mechanismen, nach denen entsprechende Stimmungsbilder erzeugt werden, können in vielfaItiger Weise abgebildet werden. Ein Modell stammt (nolens volens oder bezeichnenderweise?) aus der Politikwissenschaft, nämlich das Konzept von einander überlagernden Arenen: der Bereich politischer Eliten, der Bereich an onymer Gruppen und kollektiver Akteure mit Interessenkoalitionen, sowie darunter die eher diffuse Arena "in der schwer greifbare Kommunikationsströme die Gestalt der politischen Kultur bestimmen und mit Hilfe von Realitätsdefinitionen um ( ... ) kulturelle Hegemonie ( ... ) wetteifern" (Habermas 1985, S. 159). Nun kann der Mechanismus, den Habermas (1985) für eine Verbesserung solidarischer Steue rungsleistung positiv nutzen will, nämlich die Mobilisierung der dritten Arena gegen die oberen, auch anders funktionalisiert werden, indem nämlich interessierte Akteure der ersten und/oder zweiten Arena mittelbar Realitätsdefinitionen inszenie ren (lassen), die scheinbar gegen die "oberen" Arenen gerichtet sind, letzIich aber nur eine Legitimation für Vorstellungen bilden, die innerhalb dieser Arenen bereits bestehen. Praktische Relevanz können solche "verschwörungsnahen" Szenarien dann erlangen, wenn in absehbarer Zeit Neubesetzungen von Soziologieprofessuren in erheblichem Umfange anstehen: hier ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, daß die an sich unscheinbaren Versuche, einen begrenzten Nutzen der Soziologie zu propagieren, von politischer Seite zum geronnenen Wissen gemacht werden, das sich dann in kurzsichtigen Streichungen von Soziologieprofessuren, Stellen- und Mittelkürzungen niederschlagen dürfte. Damit würde die Soziologie institutionell im Rahmen der universitären Ausbildung in politischer Bildung zu einem unbedeu tenden Subelement degradiert, was nicht ohne negative Auswirkungen auf die politische Bildung in der Gesellschaft bleiben würde. Mindestens insoweit sind öffentliche und veröffentlichte Diskussionen um Wert oder Unwert, Nutzen oder Schaden, Selbstbild oder Fremdbild der Soziologie kontraproduktiv. Selbstreferen tialität ist bestenfalls eine disziplininterne, wissens-und wissenschaftssoziologische Dimension.