Bernhard Giesen/Hans Haferkamp (Hrsg.) Soziologie der sozialen Ungleichheit Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Forschung Band 101 Westdeutscher Verlag Bernhard Giesen/Hans Haferkamp (Hrsg.) Soziologie der sozialen Ungleichheit Westdeutscher Verlag CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Soziologie der sozialen Ungleichheit / Bemhard Giesen; Hans Haferkamp (Hrsg.). - Opladen: Westdeutscher Verlag, 1987. (Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Forschung; Bd.101) ISBN 978-3-531-11897-0 ISBN 978-3-322-88691-0 (eBookl DOI 10.1007/978-3-322-88691-0 NE: Giesen, Bemhard [Hrsg.J; GT Alle Rechte vorbehalten © 1987 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfaltigungen, übersetzungen, Mikrover filmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Hanswemer Klein, Opladen ISSN 0175-615-X ISBN 978-3-531-11897-0 Inhalt Bernhard Giesen und Hans Haferkamp Einleitung ......................................... . I. KLASSEN UND SCHICHTEN IN DER GESELLSCHAFT DER STAATSBÜRGER. ENTWICKLUNG UND STAND "KLASSI SCHER" ERKLÄRUNGEN Ralf Dahrendorf Soziale Klassen und Klassenkonflikt: ein erledigtes Theoriestück? ....................................... 10 David Lockwood Schichtung in der Staatsbürgergesellschaft 31 11. VERTIKALITÄT UND HORIZONTALITÄT - ALTE UND NEUE PERSPEKTIVEN AUF SOZIALE UNGLEICHHEIT Hermann Strasser Diesseits von Stand und Klasse: Prinzipien einer The- orie der sozialen Ungleichheit ...................... 50 Reinhard Kreckel Neue Ungleichheiten und alte Deutungsmuster. Über die Kritikresistenz des vertikalen Gesellschaftsmodells in der Soziologie ................................... 93 Stefan Hradil Die "neuen sozialen Ungleichheiten" - und wie man mit ihnen (nicht) theoretisch zurechtkommt .............. 115 111. STRATEGISCHES HANDELN UND SOZIALE UNGLEICHHEIT. NEUE THEORETISCHE ANSÄTZE 1 Hans Haferkamp Angleichung ohne Gleichheit ......................... 146 Erich Weede Ungleichheit als Schicksal und Notwendigkeit ........ 189 VI Reinhard Wippler Kulturelle Ressourcen, gesellschaftlicher Erfolg und Lebensqualität ...................................... 221 Veit-Michael Bader Verfügungsgewalt über direkte und indirekte Ressour cen. Ansätze zu einer allgemeinen Theorie struktu rierter sozialer Ungleichheit. Thesen und Erläute- rungen .............................................. 255 IV. KULTURELLE DEUTUNGSMUSTER UND SOZIALE UNGLEICH HEIT. NEUE THEORETISCHE ANSÄTZE 2 Bernhard Giesen Natürliche Ungleichheit, soziale Ungleichheit, ideale Gleichheit. Zur Evolution von Deutungsmustern sozia- ler Ungleichhei t .................................... 314 Hans-Joachim Giegel Individualisierung, Selbstrestriktion und soziale Un- gleichhei t .......................................... 346 V. ZUM VERHÄLTNIS VON THEORIE UND EMPIRISCHER FOR SCHUNG IN DER UNGLEICHHEITSDEBATTE Karl Ulrich Mayer Zum Verhältnis von Theorie und empirischer Forschung zur sozialen Ungleichheit ........................... 370 Uta Gerhardt Soziologische Erklärung gesundheitlicher Ungleich heit. Probleme der theoretischen Rekonstruktion empi- rischer Befunde ..................................... 393 Anschriften der Autoren ............................. 428 Einleitung Obwohl 'Soziale Ungleichheit' als ein klassisches Thema der Gesellschaftstheorie gelten muß, war die Diskussion um die Ur sachen, Formen und Veränderungen sozialer Ungleichheit gegen Ende der siebziger Jahre eher in den Hintergrund der sozial wissenschaftlichen Theoriediskussion geraten. In den letzten Jahren wurde die Debatte um die soziale Ungleichheit in einer Reihe von Sammelbänden jedoch wieder aufgenommen: Theorie stücke, die als abgeschlossen galten, wurden neu belebt, und aus der Perspektive einer Theorie 'horizontaler Disparitäten' wurden neue Formen der sozialen Ungleichheit in den Mittel punkt gerückt. Neuere Theorien, die fachuniversale Geltung beanspruchen, wurden jedoch bisher nur in seltenen Fällen explizit auf das Thema soziale Ungleichheit angewandt. Diese Lage gab den Anstoß und Anlaß für die Sektion 'Soziologische Theorien', im Oktober 1985 in Bremen eine Tagung mit dem The ma 'Soziologische Theorien der Ungleichheit' durchzuführen. Mit dieser Tagung sollte· - ausgehend vom neuesten Entwick lungsstand klassischer Positionen - einerseits die Debatte um aktuelle Beiträge der Ungleichheitsforschung auf der Seite der soziologischen Theorie aufgenommen und fortgeführt, an dererseits sollten aber auch neue allgemeine Theorieansätze zur Erklärung und Analyse sozialer Ungleichheit angeregt wer den. Weiterhin schien es geboten, nach den Wechselbeziehungen von empirischer Ungleichheitsforschung und dem Stand der Theoriediskussion zu fragen. Diese Zielsetzung bestimmte die Auswahl der Autoren und die Zusammensetzung des vorliegenden Bandes : Beiträge von Ralf Dahrendorf und David Lockwood als Repräsentanten nun schon klassischer Positionen, Stefan Hradil, Reinhard Kreckel und Hermann Strasser als Autoren und Herausgeber der Bände zur Un gleichheitsforschung aus den letzten Jahren, Veit-Michael Bader, Hans-Joachim Giegel, Bernhard Giesen, Hans Haferkamp, Erich Weede und Reinhard Wippler als Vertreter von Theorieansätzen, für die große Reichweite beansprucht wird, sowie Karl Ulrich Mayer und 2 Uta Gerhardt als Beobachter des Verhältnisses von theoretischer und empirischer Forschung. Der erste Teil des vorliegenden Bandes enthält Texte, die vor dem Hintergrund des Marshallschen Konzeptes der Staats bürgerschaft nach Entwicklungstendenzen von Klassenstruktur und Schichtung in modernen Industriegesellschaften fragen. Rückblickend auf seine Beiträge zur Ungleichheitsdiskussion gegen Ende der fünfziger Jahre setzt sich Ralf Dahrendorf mit dem Stand der Klassenbeziehungen und der Verbindung zwischen der Struktur sozialer Ungleichheit und der Dynamik sozialen Wandels auseinander. Er kritisiert sowohl Nivellierungs- wie Disparitätentheorien und hält an der Absicht fest, Marx zu überwinden, indem dessen Klassentheorie verallgemeinert wird: Herrschaftsverhältnisse und die politische Organisation der Machthaber einerseits und der Beherrschten andererseits be stimmen Tempo und Richtung des sozialen Wandels. In diesem vertrauten Bezugsrahmen stellt Dahrendorf fest, daß im demo kratischen Klassenkampf Herrschaftsunterworfene Forderung um Forderung erfüllt sehen. In der Staatsbürgergesellschaft wer den die Beherrschten zu einer profitierenden Mehrheit, die sich gegenüber der ausgegrenzten Minderheit verhärtet. Mit David Lockwoods Beitrag kann Dahrendorfs Theorie weiter differenziert werden, wenn man unterstellt, daß in der Gesell schaft der Staatsbürger die Verteilung von Macht und die Ver teilung von Bürgerrechten keineswegs deckungsgleich ausfallen. Auch die Gesellschaft der Staatsbürger hat ihre eigene Schich tung und produziert Unzufriedenheit und Unruhe. Lockwood trennt nach differentieller Macht- und Rechtsposition vier Schichten: (1) die von der Staatsbürgerschaft Ausgeschlosse nen ohne Recht und Macht, (2) defizitäre Staatsbürger mit vol lem Staatsbürgerstatus, aber ohne die Ressourcen, ihre Staats bürgerrechte wahrzunehmen, (3) aktive Bürgerrechtler, also jene, die Macht gewonnen haben, ohne daß ihnen Rechte einge räumt würden, und (4) "Staatsbürgerschaftsgewinnler", die ihre Ressourcen im Zusammenhang mit ihren Staatsbürgerrechten profitabel nutzen. 3 Die These von der horizontalen Disparität von Lebensbereichen, die von Joachim Bergmann, Gerhard Brandt, Klaus Körber, Ernst Theodor Mohl und Claus Offe 1968 zuerst vertreten wurde, hat in der weiteren Diskussion starke und langanhaltende Resonanz hervorgerufen. Auch in Bremen meldeten sich Ungleichheitsfor scher zu Wort, die entschieden um Horizontalität als Perspek tive auf soziale Ungleichheit stritten. Hermann Strasser nimmt gerade die wachsende Zustimmung, die das Konzept der horizon talen Ungleichheit findet, zum Anlaß, vehement gegen den Ver zicht auf das vertikale Ungleichheitsmodell anzutreten. Aus einer Musterung der unterschiedlichen Theorieangebote gewinnt Strasser Prinzipien der Strukturierung sozialer Ungleichheit. Er sieht sie zweifach abgesichert: einmal führt ungleiche sozia le Wertschätzung in der Interaktion zur Herausbildung sozialer Schichten, zum anderen differentielle Macht in Verteilungs- und Aneignungsprozessen zur Entstehung von Klassen. Dagegen betont Reinhard Kreckel die Unzulänglichkeit traditio neller Modelle für die Analyse sozialer Ungleichheit. Er emp fiehlt erneut als flexibleres Konzept die Zentrum- Peripherie vorstellung und fragt nach der erstaunlichen Kritikresistenz des vertikalen Gesellschaftsmodells. Dafür gibt er eine Reihe von Erklärungen an. In einern weiteren Festhalten am überholten vertikalen Gesellschaftsmodell sieht Kreckel die Gefahr, daß die vertikale Ungleichheitsforschung alle jene Bevölkerungs teile ausklammert, die nicht über die Leisten der meritokra tischen Triade von Bildung, Beruf und Einkommen geschlagen wer den können. Auch Stefan Hradil traut dem Begriff der "neuen sozialen Un gleichheiten" ein größeres Auflösungsvermögen zu als den ver trauten Klassen- und Schichtkonzepten. Wie Kreckel kritisiert er am Konzept der vertikalen Ungleichheit, daß dieses die Auf merksamkeit der Forschung allein auf die Sphäre der Erwerbstä tigkeit konzentriere. Er plädiert für die Beachtung politisch ausgehandelter bzw. bürokratisch administrierter Ungleichheiten, under stößt dabei auf ein Nebeneinander von Privilegien und Deprivationen. Eine angemessene soziologische Erfassung von 4 homogenen Lebensbedingungen kann dabei an Geigers Konzept der "Sozialen Lage" anschließen. Hradil sieht darin einen Begriff mit einem Abstraktionsgrad, der es gestattet, sehr verschiedene Modelle sozialer Lagerungen zu entwickeln. Der dritte Teil enthält vier Beiträge, in denen soziale Un gleichheit aus Merkmalen des strategischen HandeIns erklärt wird. Die Verfasser halten alle am vertikalen Ungleichheits modell fest, obwohl sie auch neue, nicht vertikale Ungleich heiten sehen. Sie gehen jedoch davon aus, daß diese neuen Ungleichheiten sich in ihrer Handlungsrelevanz nicht mit den alten und fortbestehenden Ungleichheiten messen können. - Angleichung ohne Gleichheit ist der Trend in der Moderne, der in dem Beitrag von Hans Haferkamp identifiziert wird. Es sind vor Macht-, Ressourcen- und Belohnungsdifferenzen zuerst ein mal grundlegende Leistungs- und Schädigungsdifferenzen, die soziale Ungleichheit bewirken. Das klingt nach Legitimation und ruft Ideologieverdacht hervor. Die Pointe dieses Aufsatzes liegt aber in der Begründung - und damit natürlich auch in der Legitimation - des fortdauernden Massenaufstiegs mit der zunehmenden Leistungsfähigkeit eben der Massen. Erich Weede erteilt allen sozialdemokratischen Hoffnungen auf eine Beseitigung sozialer Ungleichheit schon im Titel seines Beitrags eine Absage. Er kann auch so gelesen werden: Ungleich heit ist schicksalhaft und notwendig. In der Ausführung seiner These schlägt Weede eine Brücke zu anderen Disziplinen, vor denen Soziologen oft Berührungsängste haben. Anstatt von den - von Soziologen so geschätzten - Funktionsnotwendigkeiten auszugehen, führt Weede folgenreiche Leistungsunterschiede auf genetische Differenzen zurück. Dieser Ansatzpunkt Weedes scheint vielen Soziologen mit den paradigmatischen Grundannah men ihres Fachs unverträglich zu sein. Aber auch die sozialen Mechanismen der Verstärkung und Stabilisierung sozialer Un gleichheit selbst sind nach Weede äußerst stabil, da sie Marktverzerrungen im Gefolge haben, die nur um den Preis gro ßer politischer Ungleichheit zu beseitigen sind.