Sozialpädiatrie in der Praxis 2. Auflage Harald Bode, Hans-Michael Straßburg, Helmut Hollmann Zuschriften an: Elsevier GmbH, Urban & Fischer Verlag, Hackerbrücke 6, 80335 München Wichtiger Hinweis für den Benutzer Die Erkenntnisse in der Medizin unterliegen laufendem Wandel durch Forschung und klinische Erfahrun- gen. Herausgeber und Autoren dieses Werkes haben große Sorgfalt darauf verwendet, dass die in diesem Werk gemachten therapeutischen Angaben (insbesondere hinsichtlich Indikation, Dosierung und uner- wünschter Wirkungen) dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Das entbindet den Nutzer dieses Wer- kes aber nicht von der Verpflichtung, anhand weiterer schriftlicher Informationsquellen zu überprüfen, ob die dort gemachten Angaben von denen in diesem Werk abweichen und seine Verordnung in eigener Ver- antwortung zu treffen. Für die Vollständigkeit und Auswahl der aufgeführten Medikamente übernimmt der Verlag keine Gewähr. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden in der Regel besonders kenntlich gemacht (®). Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann jedoch nicht automatisch geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detail- lierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de/ abrufbar. Alle Rechte vorbehalten 2. Auflage 2014 © Elsevier GmbH, München Der Urban & Fischer Verlag ist ein Imprint der Elsevier GmbH. 13 14 15 16 4 3 2 1 Dieses Buch enthält auch Links auf externe Webseiten Dritter. Auf die Inhalte dieser Webseiten haben wir keinen Einfluss, da es sich nicht um unsere eigenen Inhalte handelt. Für die Richtigkeit der über die Links erreichbaren Inhalte ist der jeweilige Anbieter verantwortlich. Wir übernehmen daher keine Garantie für de- ren Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität. 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Constance Spring Herstellung: Elisabeth Märtz Satz: abavo GmbH, Buchloe/Deutschland; TnQ, Chennai/Indien Druck und Bindung: Printforce, Alphen/NL Umschlaggestaltung: Spiesz Design, Neu-Ulm ISBN Print 978-3-437-31630-2 ISBN e-Book 978-3-437-31631-9 Aktuelle Informationen finden Sie im Internet unter www.elsevier.de und www.elsevier.com. Vorwort Die „Sozialpädiatrie in der Praxis“ hat seit ihrem Erscheinen in der 1. Auflage 2009 eine erfreuli- che Akzeptanz und Verbreitung gefunden. Als Herausgeber und Autoren, denen die Sozialpädiat- rie seit vielen Jahren Anliegen und Auftrag zugleich ist, haben wir daher gern diese 2. Auflage er- stellt. Sie wurde nötig, um die aktuellen Entwicklungen für das Fach Sozialpädiatrie angemessen darzustellen. Die Sozialpädiatrie hat in den letzten Jahren ihren Stellenwert in der Kinder- und Jugendmedizin in Deutschland nicht nur behauptet, sondern weiter verbreitet und vertieft. Davon zeugen inzwi- schen über 140 Sozialpädiatrische Zentren und mehrere Lehrstühle und Professuren für Sozialpä- diatrie. Sozialpädiatrische Themen nehmen auf zahlreichen Kongressen und Fortbildungsveran- staltungen eine bedeutende Stelle ein. Die Kinder- und jugendärztliche Tätigkeit in der Praxis ist ohne sozialpädiatrische Grundkenntnisse und Fertigkeiten heute nicht mehr vorstellbar. Dies spiegelt sich neuerdings auch in ausgewiesenen sozialpädiatrischen Abrechnungsziffern für die vertragsärztliche Tätigkeit wider. Die Bedeutung des familiären und sozialen Kontextes und der Lebenswelten für die bestmögliche Entwicklung von allen Kindern und Jugendlichen ist inzwischen unbestritten. Sie spiegelt sich zunehmend in gesellschaftlichen Prioritäten und politischen Entscheidungen. Fachlich kompe- tente sozialpädiatrische Beratung ist dabei äußerst wertvoll und wird nachgefragt. Inhaltlich ist die Sozialpädiatrie mit beharrlicher Arbeit vieler engagierter Kolleginnen und Kolle- gen verschiedener Professionen in ihrem Selbstverständnis und ihrem Qualitätsanspruch weiter vorangeschritten. Dies wird in der aktuell für die ärztliche Weiterbildungsordnung vorgeschlage- nen Definition deutlich: „Die Zusatzweiterbildung Spezielle Sozialpädiatrie umfasst in Ergänzung der Facharztkompetenz in Kinder- und Jugendmedizin und zusätzlich zur sozialpädiatrischen Basisversorgung die Diag- nostik und Therapie von komplexen somatischen, seelischen und verhaltensbezogenen sowie so- zialen Folgen und Begleiterscheinungen von Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen in einem multiprofessionellen Team unter Zuhilfenahme der „Mehrdimensionalen Bereichsdiagnostik der Sozialpädiatrie“ (MBS), die zu komplexen Entwicklungs- und Verhaltensstörungen oder Behinde- rungen führen. Dabei werden Ursachen und Auswirkungen im familiären, vorschulischen, schuli- schen und beruflichen Umfeld auf der Grundlage der Klassifikation von Funktionsfähigkeit, Be- hinderung und Gesundheit berücksichtigt und entsprechende Behandlungspläne sowie Förder- programme entwickelt und koordiniert. Diagnostik und Therapie erfordern die interdisziplinäre Zusammenarbeit in einem multiprofessi- onellen Team.“ Das vorliegende Buch richtet sich aber keineswegs nur an Spezialisten. Die „Sozialpädiatrie in der Praxis“ soll ein praxisnahes und alltagstaugliches Werk sein – sowohl für die in der Praxis tätigen Kinder- und Jugendärzte als auch für nichtärztliche Fachpersonen im medizinischen, psychologi- schen und pädagogischen Bereich sowie in den Verwaltungsämtern. Das Buch soll die im Berufs- alltag notwendigen sozialpädiatrischen Grundkenntnisse vermitteln, die in den gängigen Lehrbü- chern nicht oder nur marginal dargestellt sind. Konsequenterweise wurde daher in dieser 2. Auflage der klinisch-praktische Teil stärker hervor- gehoben. So wird die Sozialpädiatrie in der kinder- und jugendärztlichen Grundversorgung von in diesem Bereich tätigen Autoren dargestellt, insbesondere die Vorgehensweise im Rahmen der iv Vorwort Früherkennungsuntersuchungen. Sozialpädiatrisch relevante Krankheitsbilder werden ausführli- cher und differenzierter besprochen, z.B. die Entwicklungsbegleitung von Kindern nach sehr und extrem früher Geburt. Neu ist auch das Kapitel über sozialpädiatrische Aspekte häufiger chroni- scher Erkrankungen und die damit verbundene Herausforderung einer gelingenden Transition. Der Praxisbezug wird durch Fallbeispiele und Merksätze vertieft. Im Bewusstsein der sich wandelnden Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen werden die Themen Kinderschutz, Krippenbetreuung, Inklusion und Medien ausführlich dargestellt. Die The- rapie- und Fördermöglichkeiten wurden stärker untergliedert, die Abschnitte zum öffentlichen Gesundheitsdienst zusammengeführt. Alle Kapitel des vorliegenden Werkes wurden von den jeweiligen Autoren gründlich überarbeitet, ergänzt und aktualisiert. Herausgeber und Autoren hoffen wiederum auf eine gute Akzeptanz und Verbreitung dieser 2. Auflage der „Sozialpädiatrie in der Praxis“, die gedruckt und – dem Zeitgeist entsprechend – auch in elektronischer Form zu beziehen ist. Sie freuen sich über konstruktive Kritik und Ergänzungs- vorschläge. Die Herausgeber danken den Mitautoren für die zeitgerechte und kompetente Erstellung der Ma- nuskripte. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlages Elsevier Urban und Fischer, ins- besondere Frau Dr. Constance Spring, danken wir für Ermutigung und Begleitung. Ulm, Würzburg, Bonn, im Oktober 2013 Harald Bode Hans-Michael Straßburg Helmut Hollmann 1 Die pädiatrische Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen Elke Jäger-Roman 1.1 Einleitung 3 1.2 Pädiater in der Grundversorgung 4 1.3 Die ambulante Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen 5 1.3.1 Definition der Grundversorgung 5 1.3.2 Versorgungs- und Patientenstruktur 7 1.3.3 Vorstellungsanlässe 8 1.3.4 Pädiatrische Grundversorgung mit Beratungsbedarf zu Problemen aus dem Bereich „Neue Morbidität“ 9 1.4 Sozialraumvernetzung 11 1.5 Weiter- und Fortbildung für die pädiatrische ambulante Grundversorgung 12 1.6 Die Zukunft der Kindergrundversorgung – ein Ausblick 12 1.1 Einleitung Die ambulante medizinische Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen ist in Deutschland traditionell Aufgabe von Ärzten/Ärztinnen der Kinder- und Jugendmedizin und der Allgemein- medizin. Sie ist im SGB V §73 gesetzlich geregelt. Dort wird festgelegt, dass Allgemeinärzte, Kin- derärzte, Internisten ohne Schwerpunktbezeichnung und andere Ärzte an der „hausärztlichen Versorgung“ teilnehmen, und es wird orientierend beschrieben, was eine hausärztliche Versor- gung beinhaltet. Die Einführung einer primären Gesundheitsversorgung zum Schutz und zur Förderung der Gesundheit aller Menschen wurde 1978 von einer Internationalen Konferenz unter Federfüh- rung der WHO in der „Declaration of Alma Ata on Primary Health Care“ gefordert. Die Konferenz hielt darin unter anderem fest, dass Gesundheit ein grundlegendes Menschenrecht ist, und dass das Erreichen eines möglichst guten Gesundheitszustands einer Bevölkerung ein wichtiges soziales Ziel ist, zu dessen Verwirklichung nicht nur die Gesundheitspolitik sondern viele ökonomische und soziale Bereiche beitragen müssen. Diese Feststellung war insbesonde- re wichtig im Hinblick auf die schwerwiegenden gesundheitlichen Ungleichheiten der Men- schen in den Entwicklungsländern, in denen viele keinen Zugang zu den grundlegenden Mit- teln und Einrichtungen zum Erhalt ihrer Gesundheit haben. In derselben Zeit begann auch der enorme Wissenszuwachs in allen Fächern der Medizin und damit einhergehend eine überpro- portionale Zunahme medizinischer Spezialisten, zu denen die arme Bevölkerung erst recht kei- nen Zugang hat. Sozialpädiatrie in der Praxis. http://dx.doi.org/10.1016/B978-3-437-31630-3.00001-8 Copyright © 2014 Elsevier GmbH. All rights reserved. 4 Sozialpädiatrie in der Praxis Unter den vielen auch heute noch bedeutenden Aussagen dieser Konferenz zur primären Gesund- heitsversorgung wurden folgende Mindestanforderungen genannt, die unter den gegebenen ökonomischen Rahmenbedingungen eines Landes und seiner soziokulturellen und politischen Merkmale eingehalten werden sollten: Impfung gegen die schwersten Infektionskrankheiten; Prävention und Bekämpfung endemischer Krankheiten; angemessene Behandlung der häufigsten Krankheiten und Verletzungen; Versorgung mit unentbehrlichen Arzneimitteln“. Die WHO beschrieb 7 Wesensmerkmale der medizinischen Grundversorgung: sie sollte „allge- mein, kontinuierlich, umfassend, koordinierend, kooperativ, Familien- und Gemeinde-ori- entiert“ sein. Der Begriff der hausärztlichen Versorgung (Primary health care) wurde in den letzten Jahr- zehnten kontinuierlich durch WHO und insbesondere WONCA (World Organisation of National Colleges, Academies and Academic Associations of General Practitioners/Family Physicians) wei- ter entwickelt. 1.2 Pädiater in der Grundversorgung Pädiater gehören im Spektrum der Medizin zu den Spezialisten, da sich ihre Weiterbildung nur auf eine bestimmte Altersgruppe (0 bis 18 Jahre) bezieht und nicht die gesamte Krankheitslehre umfasst. Die Zuordnung der Pädiater zu den medizinischen Spezialisten hat dazu geführt, dass ihre Teilhabe an der Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen in vielen entwickelten Län- dern kontrovers diskutiert wird. Allgemeinmediziner machen geltend, dass nur sie in der Arbeits- weise der ambulanten Hausarzt- und Familienmedizin geschult werden und deshalb die ersten Ansprechpartner für Patienten aller Altersgruppen sein sollten („reines primärärztliches Sys- tem“), Pädiater führen dagegen ihre Expertise für alle medizinischen und psychosozialen Belange von Kindern und Jugendlichen an, die sie in einer mindestens 5-jährigen rein pädiatrischen Wei- terbildung erwerben. Beide Argumente beziehen sich auf unterschiedliche Kompetenzen, nämlich einmal auf die Wesensmerkmale bzw. auf die Arbeitsweise in der Grundversorgung, zum anderen auf das ärztliche Expertenwissens. Idealerweise sollte ein guter Arzt/Ärztin der Grundversorgung beide Kompetenzen haben. In den Disput um die Grundversorgung der Bevölkerung einschließlich der Kinder schalten sich auch Gesundheitspolitiker und Ökonomen ein, die angesichts der exorbitant steigenden Kosten im Gesundheits-Sektor auf eine reine primärärztliche Versorgung setzen unter der An- nahme, dass „Spezialistenmedizin“ im ambulanten Sektor wesentlich für die steigenden Kos- ten verantwortlich ist. Bezogen auf die Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen gibt es jedoch inzwischen eine zunehmende und gute internationale Datenlage, die belegt, dass die Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen in entwickelten Ländern durch Pädiater qua- litativ besser und letztendlich kostengünstiger ist, weil sich Pädiater unter anderem besser an klinische Leitlinien halten, weniger Medikamente wie Antibiotika verschreiben, wenn diese nicht indiziert sind, höhere Durchimpfungsraten erreichen und vor allem seltener in Kranken- häuser einweisen. 1 Die pädiatrische Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen 5 1.3 Die ambulante Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen 1.3.1 Definition der Grundversorgung Angelehnt an die internationale Definition der medizinischen „Primary Health Care“ (Grund- versorgung) hat die Deutsche Gesellschaft für Ambulante Allgemeine Pädiatrie (DGAAP) zusammengefasst, welche Versorgungsaufgaben ein Pädiater in der Grundversorgung hat (› Tab. 1.1). Grundsätzlich sollte die Gesundheits-Versorgung von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen auf den UN-Kinderrechten beruhen, und Gesundheitsförderung, Prävention, Kinderschutz und die bestmögliche medizinische Behandlung beinhalten. „Bestmögliche medizinische Behand- lung“ bedeutet sowohl das rechtzeitige Erkennen des abwendbaren schweren Verlaufs einer Erkrankung als auch die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in alle diagnosti- schen und therapeutischen Überlegungen mit einzubeziehen. Damit eine solche Grundversor- gung gelingt, bedarf es neben medizinisch-pädiatrischer Expertise einer ganzen Reihe zusätzli- cher Schlüsselkompetenzen wie guter Kommunikationsfähigkeit, Förderung aller Aspekte von Gesundheit, Qualitäts- und Fehlermanagement, inter-professionelle Kooperation, Lehrtätigkeit (für Studenten und Weiterbildungsassistenten), professionelle Vorbildfunktion, Fürsprache für die Belange der Kinder im Sinne einer politischen Kindermedizin und einer guten kommu- nalen Netzwerkarbeit mit den Mitarbeitern des medizinischen-, sozialen- und des Bildungs- Systems (› Tab. 1.2). Tab. 1.1 Versorgungsaufgaben der ambulant tätigen Allgemeinpädiater (AAP) (erarbeitet von einer Ar- beitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Ambulante Allgemeine Pädiatrie – DGAAP) • AAP sind die ersten Ansprechpartner im Gesundheitssystem für die von ihnen betreuten Kinder, Ju- gendlichen und ihre Familien bei allen medizinischen und psychosozialen Problemen und Fragen zu Wachstum und Entwicklung • Sie versorgen Kinder und Jugendliche kontinuierlich und umfassend von der Geburt bis zum 18. Ge- burtstag • Sie arbeiten primär kindzentriert (# nicht organspezifisch). Dazu gehört eine effektive und altersgerechte Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen unter Einbeziehung ihrer Familien und anderer Bezugspersonen in ihrem jeweiligen kulturellen, sozialen und religiösem Kontext • Sie behandeln akute sowie angeborene und erworbene chronische Erkrankungen • Sie führen alle Präventionen durch (Früherkennungsuntersuchungen, Impfungen, Gesundheitserzie- hung und vorausschauende Beratung) • Sie sind Lotsen im Gesundheits- und Sozialsystem • Sie arbeiten auf kommunaler Ebene in Netzwerken mit Sozial- und Bildungs-Behörden/Institutionen zusammen (wie: KJGD, Jugendamt, Kindergärten und Schulen). Im medizinischen Kontext kooperie- ren sie mit Kinder-Krankenhäusern, pädiatrischen Subspezialisten und mit Einrichtungen, die chro- nisch kranke und behinderte Kinder und Jugendliche multiprofessionell versorgen (SPZ), außerdem mit ärztlichen Kolleginnen und Kollegen anderer Fachdisziplinen, die auf ihrem Gebiet eine beson- dere pädiatrische Kompetenz erworben haben. 6 Sozialpädiatrie in der Praxis Tab. 1.2 Kompetenzen, die ambulant tätige Allgemeinpädiater benötigen (erarbeitet von einer Arbeits- gruppe der DGAAP; siehe Fehr 2012) Als medizinischer Experten • Hält optimale und patientenzentrierte Versorgung vor • Erwirbt und erhält anwendungsorientiertes Wissen, Fertigkeiten und Haltungen • Erhebt Anamnese und Befund und führt die klinische Beurteilung durch • Nutzt effektiv präventive und therapeutische Interventionen • Wendet Fähigkeiten und Fertigkeiten kompetent an Als Kommunikatoren • Fördert Beziehung, Vertrauen, Verständnis mit Kindern und Jugendlichen durch alters entsprechen- de Kommunikation • Arbeitet ganzheitlich und kindzentriert im familiären, sozialen und kulturellen Kontext • Erkennt Krankheitszusammenhänge im individuellen und sozialen Kontext • Fördert ein gemeinsames Verständnis aller Beteiligten, um einen gemeinsamen Behandlungsplan zu entwickeln („shared decision making“) • Respektiert die Schweigepflicht Als Verantwortungsträger und Manager • Nimmt an Aktivitäten zur Förderung der Effizienz, Sicherheit und Qualität in seiner Praxis teil • Setzt die begrenzten Ressourcen des Gesundheitssystems effektiv ein • Übernimmt Aufgaben und Funktionen in der ärztlichen Selbstverwaltung und im öffentlichen Ge- sundheitsbereich Als Gesundheitsberater und -fürsprecher • Reagiert auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen • Reagiert auf die gesundheitlichen Bedürfnisse und Themen im Sozialraum • Fördert die gesunde Entwicklung der Kinder und Jugendlichen • Identifiziert die Determinanten für gesunde Entwicklung und wirkt entsprechend gesundheits- und gesellschaftspolitisch ein Als Interprofessionelle Partner • Teilt Verantwortung mit anderen Mitgliedern des Gesundheits- und Sozialwesens und erkennt deren Kompetenzen an • Arbeitet mit pädiatrischen Subspezialisten, Spezialeinrichtungen (wie SPZ's) und Selbsthilfeorgani- sationen zusammen • Pflegt gute Zusammenarbeit und loyale Haltung zu Mitarbeitern • Erkennt die eigenen Grenzen und lernt, Rat und Hilfe einzuholen Als Wissenschaftler und Lehrer • Erhält und verbessert seine Kenntnisse, Fertigkeiten und Haltung durch fortgesetztes Lernen • Erlernt, medizinische Sachverhalte klar und verständlich darzustellen • Unterstützt gesundheitsbezogenes Lernen von Kindern, Jugendlichen, ihren Bezugspersonen und der Öffentlichkeit • Beteiligt sich an Aus-, Weiter- und Fortbildung • Evaluiert kritisch Informationen und Quellen; trägt zur Erzeugung, Verteilung, Anwendung und Übersetzung medizinischen Wissens aus seinem Fachbereich bei Als professionelles Vorbild • Zeigt seinen Einsatz für Patienten, Beruf und Gesellschaft durch vorbildliche Haltung • Zeigt seinen Einsatz für Patienten, Beruf und Gesellschaft durch Mitwirkung in Selbstverwaltung und politischer Pädiatrie • Achtet auf die eigene Gesundheit und gesunde Arbeitsbedingungen 1 Die pädiatrische Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen 7 1.3.2 Versorgungs- und Patientenstruktur In Deutschland werden derzeit über 90 % aller Kinder im Vorschulalter zumindest anlässlich der Vorsorge-Untersuchungen von einem Kinder- und Jugendarzt gesehen. Je älter Kinder und insbe- sondere junge Menschen werden, desto häufiger wechseln die Familien mit Kindern im Schulalter und mit Jugendlichen insbesondere im ländlichen Raum vom Pädiater als Arzt der Grundversor- gung zum Allgemeinmediziner/Familienarzt (› Abb. 1.1). Dies wurde sowohl in der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KGGS, 2007) als auch in der Versorgungsstudie der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ-Studie, 2011) gesehen. Eine Ausnahme davon machen chronisch kranke Jugendliche, die mehrheitlich bei den ambulant tätigen Pädiatern bleiben (› Abb. 1.2). In der DAKJ-Studie hatten 25 % der Jugendlichen in der Altergruppe 10 bis 18 Jahren eine chronische Grundkrankheit (vs. 16 % der Jugendlichen in der Allgemeinbevölkerung). Da die chronisch kranken Jugendlichen häufiger mit Erkrankungen, die in der Grundversorgung behandelt werden, vorgestellt Abb. 1.1 Inanspruchnahme niedergelasse- 100 90 ner Kinderärzte und Allgemeinmediziner/ 80 praktischer Ärzte in den letzten 12 Monaten 70 vor Befragung (Abbildung erstellt nach Da- 60 ten des „Kinder- und Jugendgesundheits- 50 Kinderärzte 40 surveys: KiGGS“; Kamtsiuris P, Bergmann E, Allgem. 30 Mediziner Rattay P, Schlaud M [2007] Inanspruchnah- 20 me medizinischer Leistungen. In: Gesund- 10 heitsbl-Gesundheitsforsch-Gesundheits- 0 0 bis 2 3 bis 6 7 bis 10 11 bis 13 14 bis 17 schutz 50: 836–850) 100% 90% 80% 70% 10300 60% 9914 11239 9773 3972 50% Chronisch kranke Patienten 40% 30% Patienten mit akuten Krankheiten 20% 3539 10% 2493 1739 959 206 0% 0 bis unter 11 bis unter 33 bis unter 6 6 bis unter bis unter 18 10 Abb. 1.2 Anteil chronisch kranker Patienten in den verschiedenen Altersgruppen (DAKJ-Versorgungs- studie) 8 Sozialpädiatrie in der Praxis wurden als anderweitig gesunde Kinder und Jugendliche (5,3 vs. 3,2 mal pro Jahr), betrafen 40 % aller Vorstellungen im Jugendalter junge Leute, die eine chronische Grunderkrankung hatten. 1.3.3 Vorstellungsanlässe Die meisten Erst-Vorstellungen von Kindern und Jugendlichen in pädiatrischen Praxen erfolgen laut der DAKJ-Studie wegen einer akuten Erkrankung/Störung oder einem anderweitig sehr vielfältigen Beratungsbedarf der Familien (› Tab. 1.3). Am häufigsten wollen Eltern das Symptom „Husten“ abgeklärt wissen, danach folgen Krankheiten und Störungen, die mit Schmerzen oder Fieber verbun- den sind. Unerwartet häufig geben Haut-Erscheinungen jedweder Art Anlass zur Konsultation. Tab. 1.3 Vorstellungsanlässe (n = 96.036) in 30 deutschen Kinder- und Jugendarzt-Praxen im Jahr 2010. Aus der Studie der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) und der Dresden Internati- onal University; Ulrich Fegeler, Elke Jäger-Roman, Ronny Martin, Hans-Jürgen Nentwich Erstvorstellungs-/Beratungsanlässe n=51.188 Husten, Fieber, Hauterscheinungen, Durch- 53,3 % fall u/o Erbrechen, Unfälle, akute Schmerzen, Störungen/Erkrankungen in den Organsyste- men außer obere und untere Atemwege, Beratungsbedarf im Bereich „Neue Morbidität“ Prävention (Früherkennungsuntersuchungen und Impfungen) 30,3 % Kontrollen (nach Erstvorstellung aus akutem Anlass) 10,2 % Andere (Zuweisungen z. B. zum Ultraschall; Therapien wie Verbandswechsel, Inhalatio- 6,2 % nen; Wiederholungsrezepte etc.) Aus den entsprechenden zugehörigen Diagnosen geht hervor, dass der größte Anteil (67 %) aller akuten Erkrankungen immer noch infektiöser (viraler und bakterieller) Genese ist, obwohl die klassischen schwerwiegenden Infektionskrankheiten durch Impfungen (Beispiel: Polio, Masern) oder rechtzeitige antibiotische Therapie (Beispiel: Scharlach) beherrscht sind. Nur wenige der in- fektiösen Erkrankungen, die heutzutage in der ambulanten Praxis gesehen werden, sind ernsthaf- ter Natur, dies bedeutet aber auch, dass es immer einer erhöhten Aufmerksamkeit bedarf, um die seltenen abwendbar gefährlichen Verläufe rechtzeitig zu erkennen (› Tab. 1.4). Tab. 1.4 Die 10 häufigsten akuten Erst-Vorstellungs-(Beratungs)anlässe (n = 51.188; DAKJ Versorgungs- studie) Husten mit/ohne Atemnot 30,2 % Akute Schmerzen 15,4 % davon: Hals-, Mundschmerzen 5,7 % Ohrenschmerzen 4,1 % Kopf-, Bauch-, Muskel-/Skelettschmerzen 5,6 % Fieber 13,3 % Haut-, Haar-, Nagel-Probleme 13,1 % Durchfall u/o Erbrechen 8,2 % Störungen aus dem Bereich „Neue Morbidität“ 7,2 % Rote u/o verklebte Augen 4,3 % Unfälle 2,3 % Probleme/Schmerzen beim Wasserlassen 1,6 % Erkrankungen u/o Störungen in den einzelnen Organsystemen außer den oben be- 1,2 % reits aufgeführten Vorstellungsanlässen