Dirk Siefkes u. o. (Hrsg.) Soziolgeschichte der Informotik Studien zur Wissenschofts- und Te chnikforschung Herousgegeben von Prof. Dr. Wolfgang Krohn und Prof. Dr. Peter Weingart Die Studien zur Wissenschafts- und Technikforschung richten den Blick auf die Funktionen von Forschung und technologischer Entwicklung in der entstehenden Wis sensgesellschoft. Wissenschoft und Te chnik sind einer seits die wichtigsten Goronten der Innovotionsfahigkeit der Gesellschoft, ondererseits ober ouch Quellen neuer Unsicherheiten und Befurchtungen. In den Banden der Schriftenreihe werden neue Formen der Wissenserzeugung, die Bewaltigung von Risiken sowie die Konflikte zwischen unterschiedlichen Interes sen und Wissenskulturen onolysiert. Dirk Siefkes / Peter Eulenhofer / Heike Stach / Klaus Stiidtler (Hrsg.) Sozialgeschichte der Informatik Kulturelle Praktiken und Orientierungen ~ Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Die Deutsche Bibliothek - ClP-Einheitsoufnohme Sozialgeschichte der Informatik : kulturelle Proktiken und Orientierungen I Dirk Siefkes ... (Hrsg.). - Wiesboden : DUV, Dt. Univ.-Verl., 1998 (Studien zur Wissenschofts- und Te chnikforschung)(DUV : Soziolwissenschoft) ISBN 978-3-8244-4300-0 ISBN 978-3-663-08954-4 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-08954-4 Aile Rechte vorbeholten © Springer Fachmedien Wiesbaden 1998 Urspriinglich erschienen bei BetriebswirlschafUicher Verlag Dr . Th. Gabler GmbH, Wiesbaden, 1998. LektolOt: Claudio Splittgerber Dos Werk einschlieBlich oller seiner Te ile ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung ouBerholb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verloges unzulassig ljnd strofbor. Dos gilt insbesondere fur Vervielfal tigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Ein speicherung und Verorbeitung in elektronischen Systemen. http://www.duv.de Gedruckt auf saurefreiem Popier Inhalt Einleitung 1. Kapitel: Methoden und Zugangsweisen 11 Kai Handel, Volker Hess 13 Sozialgeschichte der Wissenschaften - ein Abenteuer? Sherlock Holmes auf der Suche nach der eierlegenden W ollmilchsau Wolfgang Konig 35 PHidoyer fUr eine "zweite historische Wende" der Wissenschaftsforschung - entwickelt am Beispiel der Technikwissenschaften Werner Rammert 51 Die kulturelle Orientierung der technischen Entwicklung. Eine technikgenetische Perspektive Carsten Busch 69 Zur Bedeutung von Metaphern in der Entwicklung der Informatik Dirk Siefkes 85 Die Rolle von Gruppenprozessen in der Informatikgeschichte Ralf Bohnsack 105 Rekonstruktive Sozialforschung und der Grundbegriff des Orientierungsmusters Klaus Stiidtler 123 Der Fall ist das, was die Welt ist. Zur Interpretation technischer Dinge Christine Kulke 135 Techniken der Macht moderner Rationalitat. Zur Beziehung von Herrschaftslogik und Legitimationsfunktion VI Inhalt 2. Kapitel: Diskurse und Praktiken in der Rechen-und Rechnertechnik 149 Mechthild Koreuber, Martin Groj3e-Rhode 151 Vom Begriff zur Kategorie. Ein Beitrag zur Bedeutung Emmy Noethers fUr die Informatik Herbert Mehrtens 175 Mathematik: Funktion - Sprache - Diskurs Katharina Schmidt-Briicken 197 Der Rechenmaschinenspeicher als Gedachtnis. Einfliisse der Neurophysiologie auf den Rechnerbau in den vierziger lahren Heike Stach 213 Beschreiben, konstruieren, programmieren. Zur Verschmelzung von Theorie und Gegenstand Franco Furger, Bettina Heintz 231 Wahlfreiheiten. FrUhe Computerentwicklung am Beispiel der Schweiz 3. Kapitel: Die Disziplin Informatik 255 Peter EulenhOfer 257 Der Informatiker als "deus ex mathematica" Anette Braun 275 Typisierung von Handlungsformen in der Informatik Erhard Konrad 287 Zur Geschichte der Kiinstlichen Intelligenz in der Bundesrepublik Deutschland Barbara Kettnaker 297 Informatik fUr die Schule der Zukunft Carl-Hellmut Wage mann 305 Didaktik fUr eine wertgeleitete Informatik Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 317 Einleitung "Das Leben kann nur in der Schau nach riickwfuts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwarts gelebt werden", schrieb der danische Philosoph S0ren Kierkegaard. Diese Einsicht gilt auch fiir Wissenschaft und Technik: Zu verstehen sind sie nur mit einem Blick in die Geschichte; sie zu gestalten erfordert, den Blick in die Zukunft zu richten. Wie iiberall im Leben hangen auch im Fall von Wissenschaft und Technik der Blick nach vome und der Blick zuriick zusammen. Die Auffassung dariiber, wie sich wissenschaftliche und technische Entwicklung vollzieht, bestimmt zugleich den Blick in die Vergangenheit und die Einschatzung der aktuellen und zukiinftigen Gestal tungsspielraume. Traditionell wird Wissenschaft und Technik als Suchen und (Er-)Finden in einem Universum der Wahrheit begriffen, das von kulturellen und sozialen Einfliissen frei zu sein scheint. Dementsprechend konzentrierte sich die Wissenschafts- und Technikge schichte lange Zeit darauf, Fortschritte nachzuzeichnen, die findigen Gelehrten und Ingenieure zu wiirdigen und darzustellen, wie Wissenschaft und Technik das Antlitz der Welt verandert haben. Auf Gegenwart und Zukunft gewendet reduziert dieser Blick die Handlungsmoglichkeiten von Wissenschaftlem und Technikerinnen darauf, sich an quasi vorbestimmten Entwicklungen zu beteiligen oder individuell davon abzulassen. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung beschrankt sich bei einer sol chen Perspektive auf die Folgen von Wissenschaft und Technik. Heute begreift man zumindest in der Wissenschafts- und Technikforschung die Entwicklung von Wissenschaft und Technik als sozialen und kulturellen ProzeB. Damit wird der Blick von einze1nen Erfindem oder Entdeckem auf das heterogene Netz von Akteurinnen und Akteuren gelenkt, die mit unterschiedlichen Interessen und Voraussetzungen Wissenschaft und Technik verwirklichen. Gefragt wird zum einen nach dem konkreten EinfluB von Politik, Kunst, Markt, Militar, Wissenschaft etc. auf die GestaItung von Wissenschaft und Technik. Wissenschaftliche und techni sche Ergebnisse erscheinen so als gesellschaftliche Konstrukte. Zum anderen wird dem Umstand Rechnung getragen, daB Wissenschaftlerinnen und Techniker - zumeist ohne dies zu bemerken - bei ihrer wissenschaftlichen Arbeit und der Gestal tung von Technik auf Denk- und Handlungspraktiken nicht nur aus ihrem Arbeits gebiet, sondern ebenso aus dem Alltag, dem sozialen Umfeld und der Kultur zuriick greifen. Demnach sind wissenschaftliche und technische Ergebnisse grundsatzlich von Deutungen, Werten und Traditionen durchdrungen. Die in diesem Band versammelten Beitrage wollen die Entwicklung des Wissen schafts-und Technikfeldes Informatik als einen kulturellen und sozialen ProzeB sicht bar machen. Entstanden sind die Aufsatze im Kontext des Interdisziplinaren For schungsprojektes "Sozialgeschichte der Informatik", das von 1993 bis 1997 an der 2 Einleitung Technischen UniversiUit Berlin gemeinsam von Wissenschaftlerinnen und Wissen schaftlern aus verschiedenen Sozial-und Geisteswissenschaften und aus der Informa tik durchgefUhrt wurde. Ziel dieses Projektes war es, am Beispiel der Informatik eine gegenstandsadaquate Methodologie zu erarbeiten, die es erlaubt, die Entwicklung eines Wissenschafts- und Technikfeldes als kul turellen und sozialen ProzeB analysieren und beschreiben zu konnen, die Entwicklung von konkreten Theorien und Techniken in der Informatik und die Etablierung der Wissenschaftsdisziplin Informatik als Ineinandergreifen von zweckrationalen Entscheidungen, Interessen, Praktiken und kulturellen Deutungs mustern darzustellen, aus den gewonnenen Erkenntnissen Perspektiven fUr die zuktinftige Gestaltung der Informationstechnik und der Wissenschaftsdisziplin Informatik abzuleiten. Orientierungsmuster und dokumentarische Interpretation In Anbetracht der vielen theoretischen Modelle und allgemeinen Aussagen tiber Wis senschaft und Technik als sozialen und kulturellen ProzeB ergab sich die Notwendig keit, eine methodologisch verankerte und fUr die Informatik adaquate Perspektive zu erarbeiten. Favorisiert wurde ein Zugang, der das Handeln der Wissenschaftler und Technikerinnen in das Zentrum der Aufmerksamkeit rtickt. Zum Zuge kam dabei ein auf Orientierungsmustern grlindendes Handlungsmodell (vgl. den Beitrag von Bohn sack in diesem Band). Orientierungsmuster sind handlungsleitende Motive, welche nicht nur intentionalem, sondern auch routinisiertem und habitualisiertem Handeln zugrundeliegen. Das Problem einer handlungsorientierten historischen Forschung besteht darin, daB das zu untersuchende Handeln z. B. tiber teilnehmende Beobachtung oder nar rative Interviews nicht mehr zuganglich ist und daB deswegen auf Dokumente des Handelns zurtickgegriffen werden muB. Daher wurde ein methodisches Verfahren aus der rekonstruktiven Sozialforschung in den Bereich der Wissenschafts- und Tech nikforschung tibertragen, das ermoglicht, handlungsleitende Sinnstrukturen aus Dokumenten wissenschaftlichen und technischen Handelns, insbesondere aus Fachtexten, zu rekonstruieren. Dieses Verfahren der dokumentarischen Interpretation von technischen Texten wurde im Rahmen verschiedener Untersuchungen einge setzt. Diese befaBten sich mit der Herausbildung von relevanten Begifflichkeiten und theoretischen Konzepten vor dem Bau der ersten elektronischen Computer, den ersten Konzepten fUr elektronische, speicherprogrammierbare Rechner, Einleitung 3 der Herausbildung und weiteren Entwicklung der Programmierung, der Entstehung des Hochschulstudiengangs Informatik in der Bundesrepublik Deutschland aus der Rechenanlagenforschung der flinfziger Jahre. Hybridobjelde in der Informatik Bei der Analyse der Texte zeigte sich jenseits aller Unterschiede ein gemeinsames Orientierungsmuster: Die verschiedenen Autorinnen und Autoren behandeln oder kreieren, ohne daB dies theoretisiert oder expliziert wird, eine besondere Klasse von "Gegenstanden", flir die im Projekt "Sozialgeschichte der Informatik" der Begriff "Hybridobjekte" gepragt wurde. Typische Beispiele solcher Hybridobjekte sind Pro gramme und Rechnerstrukturen. Mit den Hybridobjekten wird die Dichotomie geistig-materiell neu und anders gefaBt. Hybridobjekte sind Notationen und in diesem Sinne immateriell-geistig; ihnen wird jedoch eine spezielle Art zu bewegen oder zu agieren zugesprochen, die implizit ihre Materialitat voraussetzt. Indem Zeichen und Beschreibungen als bewegend und materiell gedacht werden, werden sie aus ihrem passiven Status gehoben und als aktive Krafte mit Auswirkungen auf die materielle Welt vorgestellt. Fiir Hybridobjekte verschwimmt daher auch eine andere Differenz - die zwischen Deskription und Kon struktion. Ein Hybridobjekt niederzuschreiben wird nicht nur als Deskription, son dern genauso als (Auf)bauen und damit Konstruktion interpretiert. Denn die aufge schriebenen Zeichen fungieren zugleich als Beschreibungen und Gegenstande, die agieren und bewegen konnen. Damit scheint die Differenz zwischen einer raumlich gegenstandlichen und einer in Zeichen aufgehenden, simulierten und programmierten Welt zu verschwinden. In knapper Form konnen Hybridobjekte damit charakterisiert werden als schematische, auf Zeichen-Regelsystemen beruhende Notationen, die als bewegend oder agierend gedacht werden. Das Konzept der Hybridobjekte hilft retrospektiv zu verstehen, in welche Sinn zusammenhange Theorien und Techniken eingebettet und entsprechend gestaltet wurden. Es ermoglicht dariiberhinaus, Diskussionen und Entwicklungen in der Informatik, die auf den ersten Blick neu wirken, als Fortflihrung einer alteren Tra dition zu verstehen, beispielsweise die Vorstellungen von der "virtuellen Gemein schaft" oder dem "Cyberspace". Auch hier wird, wie bei den klassischen Hybrid objekten, die Existenz eines Raumes und materieller Entitaten konstatiert, wo Raum im herkommlichen Sinne nicht existiert. In ahnlicher Weise hatte bereits 1977 Weizen baum das Programmieren als "Schopfen" von "Universen von moglicherweise unbe grenzter Komplexitat"1 beschrieben. Programmieren war also schon zu dieser Zeit mit Weizenbaum, Joseph (1977): Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Frankfurt am Main, S. 160.