Soziale Ungleichheit als Problem der DDR-Soziologie omasMergel Wie kann man soziale Ungleichheit in einer Gesellschaft erforschen, die sichdurchimmerweitergehendesozialeGleichheitauszeichnenwill?¹Wie kann man in einer Gesellschaft, der politisch ein spezifischer Blick auf sich selber verordnet ist, soziologisch informierte Kategorien einbringen, diegleichzeitigdemAnspruchgenügen,praktischzurWeiterentwicklung der Gesellschaft beizutragen? Diesem Fragenkomplex sind die folgenden Überlegungengewidmet.SiefragenalsonacheinemspezifischenTypder RepräsentationsozialerOrdnungenunterdenbesonderenpolitischenBe- dingungen einer sozialistischen Diktatur. Damit ändern sich einige der Bedingungen,unterdenensozialwissenschaftlicheBeschreibungenWahr- heitsansprücheerhebenkönnen:SieliefernBildervoneinerGesellschaft, die sich einerseits in der Bestätigung durch andere sozialwissenschaftli- che Beschreibungen erweisen müssen. Andererseits müssen sie sich auch immer in den Augen der Untersuchten selbst bewähren. Die Beobach- teten bestimmen also auch über die Geltung der Beobachtungen mit, 1 »SozialeUngleichheit«wirdhierimweitenSinnalsungleicheVerfügungsmachtüber Ressourcen jeglicher Art verstanden. Es geht also nicht darum, eine sich ohnehin injedersozialenSituationselbstverstehendesozialeUngleichartigkeit derMenschen zuproblematisieren.WohlabersolldiemancherortsaufscheinendeUnterscheidung zwischen(sichselbstverstehender)sozialerDifferenzund(problematischer)sozialer Ungleichheit in Frage gestellt werden. Soziale Differenz ist in ihren Folgen nichts anderesalssozialeUngleichheit,mitallerdingsstärkererAufmerksamkeitfürandere Unterscheidungenalsdiesozialvertikale,dieimHintergrundderSemantikdersozia- lenUngleichheitsteht.Undfreilichseizugestanden,dassdasBegriffspaarGleichheit/ UngleichheithistorischinhohemMaßeinepolitischeSemantikwar,diemitGerech- tigkeit/Ungerechtigkeit assoziiert wurde. Ein Mangel an eoriefähigkeit ist damit jedoch nicht von vornherein gegeben. Zu einigen semantischen Fragen im Umfeld desBegriffs»SozialeUngleichheit«,v.a.imKontextvonSelbst-versusFremdbeschrei- bungenvgl.PeterA.Berger,»DieHerstellungsozialerKlassifikationen.Methodische ProblemederUngleichheitsforschung«,in:Leviathan(1988),4,S.501–520. 308 TM indem sie fragen, ob die Beobachtungen der Beobachter mit ihren eige- nen Beobachtungen übereinstimmen und insofern wahrheitsfähig sind. IneinerGesellschaftmiteinerfunktionierendenÖffentlichkeitsinddiese beidenDiskurseimmerschoninsofernaufeinanderbezogen,alsdieWis- senschaftlerdieKriterienfürihreFragennichtalleinausdemnehmen,was theoretisch naheliegend erscheint; vielmehr müssen sich ihre Annahmen undBefundeaufalltagsweltlicheErfahrungenzurückbeziehenlassen,um überzeugendzusein.UmgekehrtwerdendieseErkenntnisseindermedia- lenÖffentlichkeitprozessiertundsoeinerBeobachtungdurchdenalltags- weltlichen Blick unterworfen. Sozialwissenschaftler sind gehalten, diese Diskurse,diesichdannetwainLeserbriefen,derZustimmungzupoliti- schenProgrammenoderdemoskopischenErgebnissenniederschlagen,zur KenntniszunehmenundsiealskontrollierendeDimensionenihrerArbeit einzubeziehen. Sozialwissenschaftliche Beschreibungen der Wirklichkeit werden einer medialen Öffentlichkeit vorgestellt, und hier wird über ih- reÜberzeugungskraftentschieden.EinallenvertrautesBeispielfürdiesen Zusammenhang zwischen wissenschaftlichen und Alltagsdiskursen: Dass der Euro tatsächlich kein »Teuro« war, haben Wirtschaftswissenschaftler vielfachgezeigt–trotzdemglaubteskaumeiner,weildieAlltagserfahrun- gen der Menschen damit nicht übereinstimmten, und das schwächt die LegitimitätderWissenschaftler. In der Gesellschaft des real existierenden Sozialismus gab es diese reziproken Bezüge nicht. Die Beschreibungen der sozialistischen Gesell- schaft waren immer schon politisch vorgeformt und hatten sich deshalb einemanderen,sichtheoretischgebenden,tatsächlichaberpolitischvin- dizierten Geltungsmodus zu unterwerfen. Der kritischen Infragestellung der Beobachteten im Modus der medialen Öffentlichkeit waren diese Beschreibungen nicht ausgesetzt. Abgesehen davon, dass es gar keine »offene« Öffentlichkeit gab, in der diese Ergebnisse prozessiert werden hättenkönnen,wurdensolcheErgebnisseaucheinembreitenKreiskaum kommuniziert. Die meisten der Forschungen wurden nur einem einge- weihtenKreisvonpolitischenFunktionärenbekanntgemachtundmeist mitdemSignum»Vertraulich,Dienstgebrauch«(VD)versehen.Überdie VeröffentlichungderBefundewurdepolitischentschieden. DarausergabsichfürdieWissenschaftlerdaspraktischeProblem,dass diewissenschaftlichbegründetenBeschreibungennichtmitdenpolitisch DDR-S 309 vorgegebenen Kategorien in Konflikt geraten durften. Bestimmte Be- schreibungsmuster–etwadiedervertikalenUngleichheit–verbotensich aus politischer Raison. Das entscheidende Wahrheitskriterium hieß in praxinicht,inwieweitrealeWirklichkeitsbeschreibungenerstellbarwaren und sich im wissenschaftlichen wie im öffentlichen Diskurs bewährten, sondern,obdieKategorienundErgebnisseeinempolitischfunktionalen Geltungsanspruch genügten, wie theoretisch auch immer dieser sich gerieren mochte. Womöglich weitergehend aber war das theoretische Problem, dass sie die Überzeugungskraft ihrer Forschungen nicht an der WahrnehmungdurchdieUntersuchtentestenkonnten. Im Folgenden soll es um die theoretischen Argumentationsformen und die methodologischen Konzepte gehen, mit denen in der DDR- Gesellschaft eine sozialwissenschaftliche Perspektive auf die Gesellschaft geworfen werden konnte, die die Frage der sozialen Ungleichheit in den Blick nahm.² Eine Gesellschaft der Gleichen ist theoretisch un- wahrscheinlich und schwer stabilisierbar, weil jede Handlung jedes Individuumsgeeignetist,dieseGleichheitaufzustören.Gleichheitwürde also, wollte sie durchgehalten sein (und das geht nur politisch), die Ge- sellschaftschonausdieserPerspektivezurImmobilitätundzurStagnation verurteilen. Wenn in einer Gesellschaft der Gleichen, die gleich bleiben soll,jedesozialePositionsveränderungeinProblemist,»lohnt«essichfür den Akteur eigentlich kaum, Aktivitäten zu entwickeln und also Risiken einzugehen.DieEntwicklungsdynamikvonGesellschaftenlebtmithinzu einem guten Teil von der sozialen Ungleichheit: Menschen erhoffen sich Vorteile von Positionsveränderungen, sei es, dass sie besser leben wollen, dass sie mehr Macht wünschen, sei es, dass sie aus Gründen der Selbst- verwirklichung Dinge tun, die sie in den Augen der anderen besonders machen.JedeGesellschaft,dieGleichheitzuihremEntwicklungshorizont erklärt, muß demgemäß die Frage lösen, wie sich dies mit der Dynamik modernerGesellschaftenverträgt. Eine Gesellschaft, die sich – und sei es nur in ihrem Horizont – als gleich imaginiert, ist also aus soziologischer Sicht zumindest eine Gesellschaft im Statikverdacht. Umgekehrt konnte eine marxistisch- 2 Vgl.zumema:RainerGeißler,»SozialstrukturforschunginderDDR–Erträgeund Dilemmata.EinekritischeBilanzderTriebkraft-DebatteundMobilitätsanalyse«,in: BerlinerJournalfürSoziologie.(1996),4,S.517–540. 310 TM leninistische Gesellschaftsphilosophie, die das Telos der Gesellschaft in immer weitergehender Homogenität sah, nicht viel mit einer Wissen- schaftanfangen,dievonihremAusganghernachderDifferenzierungvon Gesellschaften suchte, und die aus dieser Differenziertheit ein Gesamt- bildwob,daskomplexeGesellschaftenalsinsichhöchstunterschiedliche Gesellschaftenzusehenerlaubte.³ 1. SoziologieindersozialistischenGesellschaft Solche Grundfragen jeder Gesellschaft, die die Soziologie seit dem 19.Jahrhundert verfolgt hatte, entsprachen aber nicht den politischen PerspektivenderDDR-Führung.VondaherwardieDDR-Soziologievon vorneherein in einer prekären Situation.⁴ Sie galt in der Anfangszeit der DDRalsüberflüssige,weilunpräziseundideologischnicht»saubere«Wis- senschaft.DieKöniginderWissenschaftwardiemarxistisch-leninistische Philosophie, die in ihrem deduktiven Wissenschaftsstil die empirischen Zugangsweisen der Soziologie nicht leicht ertragen mochte, auf deren Vokabular sich aber jeder Soziologe beziehen musste, wollte er Gehör und Publikationsgenehmigung erlangen. Empirische Ansätze waren fast nurinderWirtschaftswissenschaftmöglich,diesichwiederuminhohem MaßalsPraxisverstand,indemsiezueinerVerbesserungwirtschaftlicher StrukturenundProzessebeitragenwollte.EinewichtigeWurzelderDDR- Sozialforschung lag deshalb in der Ermittlung des konsumtiven Bedarfs, wieervom1962gegründetenLeipzigerInstitutfürBedarfsforschung,das später – es scheint Ironie – in »Institut für Marktforschung« umbenannt wurde, ermittelt wurde. Einen weiteren, ökonomischen Fragestellungen 3 Vgl.denlocusclassicusbeiGeorgSimmel,»ÜbersocialeDifferenzierung«[1890],in: Gesamtausgabe,Aufsätze1887–1890(Frankfurt:SuhrkampVerlag,1999²). 4 Zum folgenden: Horst Laatz, Klassenstruktur und soziales Verhalten. Zur Entstehung derempirischenSozialstrukturforschunginderDDR (Köln:VerlagWissenschaftund Politik,1990);alsinformierterÜberblick:HeikeSolga,AufdemWegineineklassenlo- seGesellschaft?KlassenlagenundMobilitätzwischenGenerationeninderDDR(Berlin: AkademieVerlag,1995),S.19–62.MitKonzentrationaufdieempirischeSozialwis- senschaft:ChristianeReinecke,»FragenandiesozialistischeLebensweise.Empirische SozialforschungundsozialesWisseninderSED-Fürsorgediktatur«,in:ArchivfürSo- zialgeschichte(AfS)50(2010),S.311–334,insbes.S.315f. DDR-S 311 entwachsener Zweig der Sozialforschung lag in betriebssoziologischen Untersuchungen, die nach Rationalisierung, Arbeitszufriedenheit u.ä. fragten. Seit dem Beginn der sechziger Jahre änderte sich das Umfeld für ei- nesoziologischeForschung.AuchdieDDR-Oberenstelltenfest,dasssie über ihre Gesellschaft, die sich ja als geplante Gesellschaft verstand, we- nig wussten und dass, wollte man den Fortgang des Sozialismus effizient vorantreiben, man über die Bedürfnisse, Wertvorstellungen und sozia- lenOrdnungsmusterderBürgerbesserBescheidwissenmusste.Ulbrichts ökonomische Reformpläne standen in hohem Maß unter dem Rubrum der Wissenschaftlichkeit der Lösungen und der Verwissenschaftlichung der Planung. Von Anfang an war deshalb die DDR-Soziologie nicht nur theoretische und empirische, deskriptive und analytische Wissenschaft, sondern gleichermaßen Praxiswissenschaft: Sie sollte nicht nur beschrei- ben, was war, sondern auch vorschlagen, was sein sollte und wie es zu erreichen sein könnte. Einer der Begründer der Empirischen Sozialfor- schunginderDDR,HelmutSteiner,formulierteineinemKompendium zurSozialstrukturforschungvon1967: 1. DieVerwirklichungdesentwickeltengesellschaftlichenSystemsdersozialisti- schenGesellschaftinderDDRerfordertfürseineprognostischeZielstellung aucheineAnalyseundVoraussagederEntwicklungderKlassenundSchich- ten.[…] 2. Die tägliche ökonomische und politische Leitungspraxis bedarf präziser sozialökonomischer Gliederungen und Abgrenzungen innerhalb der Gesell- schaft.DiestatistischeErfassungderBevölkerungs-undGesellschaftstruktur im Rahmen der Volks- und Berufszählung, die Planung und Analyse sozi- alpolitischer Maßnahmen, die Analyse der Arbeitskräftedynamik und ihre planmäßige Gestaltung u. ä. erfordern präzise Angaben über die sozialöko- nomischeStrukturundderenVeränderungen.⁵ Insofern wurde der Soziologie, sobald man sie als wichtig entdeckte, ein eminentpraktischerWertzugesprochen.UntersuchungenderSozialstruk- turzieltennienuraufdieAufdeckungexistierenderStrukturen,sondern immer auch darauf, welche funktionierenden Formen von sozialer Ord- 5 LeitungdesInstitutsfürWirtschaftswissenschaftenbeiderDeutschenAkademieder WissenschaftenzuBerlin[DDR](Hrsg.),BeiträgezursozialenStrukturdersozialisti- schenGesellschaft,ReiheWirtschaftswissenschaftlicheInformationen49/50(1967),S. I. 312 TM nungzuentwickelnseienunddarauf,welcheInstrumentezuderenHer- stellungambestengeeignetseien.⁶DarausleitetedieSoziologiederDDR ihre Legitimation ab: Sie beanspruchte, durch ihre Forschungen Wege zumSozialismusaufzeigenzukönnen.Demkamentgegen,dassdiemeis- tenderhierinFragestehendenSoziologenemphatischeUnterstützerdes Sozialismuswarenundüberzeugtwaren,mitihrerArbeitandessenEnt- wicklung mitzuwirken. Dennoch blieb die Soziologie in der DDR eine Randwissenschaft.DiedaranbeteiligtenWissenschaftlerkannmanfastan einerHandabzählen.SiearbeitetenunterdermisstrauischenAufsichtder ParteigremienundderWissenschaftler,diesichalsErfüllungsgehilfender Parteilinie verstanden. Von einem frei flottierenden innersoziologischen Diskurs konnte kaum die Rede sein, und ebensowenig von einer Aus- differenzierung soziologischer Forschungsfragen im Zuge akademischer Diskussionen.⁷ Durch die doppelte Ausrichtung an marxistisch-leninistischer Philo- sophieeinerseits,derWirtschaftswissenschaftandererseitsprägtesichein spezifischesmethodischesPrinzipaus,dasaufEindeutigkeitundnumeri- scheBeschreibbarkeitgerichtetwar.Klassenwurdenalszahlenmäßig,mit relativwenigenIndikatorenerfassbareMenschengruppendefiniert,soziale PositionenmusstensichmiteindeutigenAbständenzueinanderimRaum anordnenlassen,dieDifferenzenzwischenihnenwurdenalsDifferenzen institutioneller Positionen oder quantifizierbarer Merkmale aufgefasst: Beruf und Berufsposition, Ausbildungsgrad, Einkommen. Dadurch erhielten die dem Forschungsdesign zugrundeliegenden sozialen Ord- nungsvorstellungen eine Eindeutigkeit, innere Homogenität und äußere Abgrenzbarkeit, bei der Ambivalenzen oder diffuse Positionen höchstens als störende Interferenzen wahrgenommen werden konnten. Mehrdi- mensionale soziale Zuordnungsbegriffe wie etwa »Milieu« gab es in der DDR-Sozialwissenschaft nicht, Intersektionalität war weder theoretisch formulierbarnochempirischumsetzbar.Kennzeichnendwardeshalbeine methodischeEngführungaufQuantifizierungundderenstatistischeAus- wertung. Die Stochastik hat in der DDR eine intensive Pflege erfahren, 6 Vgl.alsorthodoxeOrtsbestimmung:RudiWeidig,»SoziologischeSozialstrukturfor- schunginderDDR«,in:JahrbuchfürSoziologieundSozialpolitik(1980),S.34–51. 7 ZudenInstitutionenderDDR-Soziologievgl.JürgenKaube,Soziologie,in:Jürgen Kockau.RenateMayntz(Hrsg.),WissenschaftundWiedervereinigung.Disziplinen imUmbruch(Berlin:Akademie1998),S.255–301,hierS.264–270. DDR-S 313 wie überhaupt die DDR-Forschung in Hinsicht auf statistische Metho- denfragen international angesehen war (was etwa dazu führte, dass auch inderwestdeutschenSozialwissenschaftsausbildungStatistik-Lehrbücher aus der DDR genutzt wurden). Die qualitative Sozialforschung war dagegen ein ausgesprochenes Stiefkind der DDR-Soziologie, denn der interpretierende Forscher ist hier nur schwer kontrollierbar, und seine FragestellungneigtzurBetonungderspezifischenEigenheiten,nichtder großen Gemeinsamkeiten. Die sogenannte »Alltagssoziologie«, worunter ethnomethodologischeundandereinteraktionistischeAnsätzeverstanden wurden, standen unter dem Verdacht, auf die »irrationalistische, spät- bürgerliche Lebensphilosophie« zurückzugehen.⁸ Die Auswertung von Massendaten war dagegen in jedem Fall der sicherere Weg, behindert indes durch die rückständige Entwicklung der Computertechnologie in der DDR. Für diese Arbeit waren IBM-Großrechner notwendig, die, da mithartenDevisenzubezahlen,knappeRessourcendarstellten.Auchin dieserHinsichtwarenderDDR-SoziologieGrenzengesetzt. So weit es sich um Sozialstrukturforschung handelte, hatte sich die SoziologiemitderOrdnungsvorstellungdesSED-Staatesauseinanderzu- setzen. Diese postulierte, dass auch die DDR-Gesellschaft eine Klassen- gesellschaftsei,allerdings–nachderEliminierungderBourgeoisie–eine ohneKlassenkampf.KlassenwarennachderkanonischenDefinitionLe- nins großeMenschengruppen,diesichvoneinanderunterscheidennachihremPlatz in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion, nach ihrem […] Verhältnissen zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in dergesellschaftlichenOrganisationderArbeitundfolglichnachderArtderEr- langungundderGrößedesAnteilsamgesellschaftlichenReichtum,überdensie verfügen.⁹ JenseitsdieserDefinitionwarinderDDRkeinegesellschaftswissenschaft- liche Forschung möglich. Da aber mit der sozialistischen Umgestaltung 8 Hermann Lehmann & Artur Meier, »Sozialstruktur und Lebensweise in der ideo- logischen Auseinandersetzung«, in: Lebensweise und Sozialstruktur. 3. Kongreß der marxistisch-leninistischenSoziologie,hrsg.vomWissenschaftlichenRatfürSoziologi- scheForschunginderDDR(Berlin(DDR):DietzVerlag,1981),S.314–324,insbes. S.314.EshandeltsichhierbeiumdasReferateinerArbeitsgruppendiskussion. 9 WladimirIljitschLenin,»DiegroßeInitiative«,in:ders.,Werke 29(Berlin(DDR): Dietz1967),S.408–417,hierS.410. 314 TM der Gesellschaft die Frage des Eigentums an Produktionsmitteln geklärt war,galtdasVerhältnisderverschiedenenKlassenzueinanderdemgemäß alsdurchimmerweitergehendeAnnäherunganeinandergekennzeichnet, wobeidieArbeiterklassedasVorbildabgab.¹⁰ Die beiden Klassen, die nach der Eliminierung der Bourgeoisie in der sozialistischen Gesellschaft noch zu entdecken waren, waren zu- nächst und ganz dominierend die Arbeiterklasse, sodann die Bauern, soweit sie in einem sozialistischen Verhältnis zu den Produktionsmitteln produzierten. Diese sogenannten Genossenschaftsbauern umfassten kei- neswegs nur Bauern im engeren Sinne, sondern alle Werktätigen, die in einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft tätig waren. Die beiden Klassen waren also diejenigen, die im primären und im sekun- dären Sektor produzierten. Der Dienstleistungssektor war und blieb ein Problem für die Ordnungsanstrengungen der marxistisch-leninistischen Gesellschaftstheorie. DieseGesellschaftbestandindesnichtnurausKlassen.Vielmehrgab es weitere soziale Gruppen zu entdecken, die aber, da sie nicht durch ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln definiert waren oder keine »großen Menschengruppen« darstellten, nicht als »Klasse« bezeichnet werden konnten. Die wichtigste Kategorie hier war die der Schicht: ein Begriff, der für Uneindeutigkeit stand. Er meinte zwar auch große Menschengruppen, die aber, da sie kein eindeutiges Verhältnis zu den Produktionsmitteln hatten, auch kein einheitliches Bewußtsein haben konnten. Die bedeutendste – und häufig auch einzig so bezeichnete – SchichtwardieIntelligenz.Siestellteeinweiteresundzunehmendmehr indenMittelpunktrückendesgesellschaftstheoretischesProblemwar.Es war schließlich nicht ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln (unter denennichtDingewieBildungoderWissen,sondernFabrikenundÄcker verstandenwurden),dassieausmachte,unddeshalbkonntesiekeinein- heitliches(Klassen-)Bewußtseinhaben.AberdiebesondereQualifikation und die damit gegebene Fähigkeit zu Leitung, Steuerung und Reflexion zeichneten sie offenkundig doch durch gemeinsame Kriterien aus und 10 Diese Vorstellung von einer immer weiter gehenden Annäherung, die irgendwann zueinemEndeeinerUngleichheitsgesellschaftführenwürde,warbeileibenichtnur einesozialistischeVorstellung.Vgl.dazudieÜberlegungenvonChristianeReinecke indiesemBand,S.224–233. DDR-S 315 machten sie zu einer wichtigen Gruppe der sozialistischen Gesellschaft. Die marxistisch-leninistische eorie argumentierte folgendermaßen: Während in der kapitalistischen Klassengesellschaft die Intelligenz dem HauptwiderspruchdesKlassenkampfesgemäßzerrissenundalsTeilihrer jeweiligen Klasse agierte, musste sie im Sozialismus eine andere soziale FormundFunktionhaben. MitderAufhebungdesKlassengegensatzeshörtnatürlichdiesesdieIntelligenz auseinanderreißendeKraftfeldaufzuwirken.DiejenigenFaktorensozialerUn- gleichheit,diegegenübersozialenUnterschiedenindenArbeits-undLebensbe- dingungeninderkapitalistischenGesellschaftprimärsind,existierennichtmehr. DamiterlangendieletzterensozialenUnterschiedeeinenanderenRang;sierü- cken an die erste Stelle – nicht, weil sie sich in der sozialistischen Gesellschaft herausgebildet und verschärft hätten, sondern weil die vordem übergeordneten undsieindenHintergrunddrängendenUngleichheitenverschwundensind.¹¹ DieIntelligenzzeichnetesichinsoferndurcheinespezifischeFunktionfür diesozialistischeGesellschaftaus,undihrwurde–dadieEntwicklungdes Sozialismus wesentlich auf der Entwicklung der wissenschaftlichen und technischenProduktivkräfteberuhensollte–einezunehmendeFührungs- rollezugestanden(dieindesnichtmitderFührungsrollederArbeiterklasse konfligieren durfte). Andererseits widersprach diese Sonderrolle der In- telligenzdemTelosderzunehmendenEinheitlichkeitderLebensführung wie auch der propagierten Führungsrolle der Arbeiterklasse, insbesonde- re auch deshalb, weil die empirische Forschung nicht nur in der DDR, sondern auch in allen kommunistischen Ländern ein extensives Wachs- tum der Intelligenz festgestellt hatte. Verschiedene – mehr oder weniger heterodoxe – Forscher propagierten gar die Intelligenz als die kommen- de führende Klasse.¹² Man behalf sich damit, dass man einerseits den BegriffderIntelligenznichtnuraufalleHochschul-undFachhochschul- absolventen ausweitete, sondern dass man auch der nichtakademischen, qualifiziertenSchichtderArbeiterklasse,v.a.denspezialisiertenFacharbei- tern, eine Annäherung an die Intelligenz attestierte. Doch bedeutete das 11 ManfredLötsch,»DieIntelligenzinderSozialstrukturdersozialistischenGesellschaft (posthumesMS-Fragment)«,in:DieSozialstrukturalsGegenstandderSoziologieund derempirischensoziologischenForschung.BeiträgezueinemKolloquiuminmemoriam ManfredLötsch,hrsg.vonIngridLötsch&HansgünterMeyer(Berlin:trafoVerlag, 1998),S.319. 12 Vgl.Solga,KlassenloseGesellschaft,a.a.O.(Anm.4),S.50f. 316 TM nichtumgekehrteineInfragestellungderEinheitlichkeitderArbeiterklas- se?Wiemanesauchwendete:dasZielderHomogenitätderGesellschaft vertrugsichnichtgutmitdervorgefundenenDifferenziertheitderGesell- schaft,ebensowenigabermitdemZielderFortschrittlichkeit. Arbeiterklasse und Genossenschaftsbauern sowie die Schicht der In- telligenz: Dies ergab »das generelle Klassenparadigma der sozialistischen Gesellschaft«,¹³nichtnurinDeutschland.Allerdingsmusserwähntwer- den,dassesnochweitereGruppenaufzuspürengab:Schließlichgabesja nochprivateHandwerkerundkleineGewerbetreibende.Siehattenzwar eingänzlichanderesVerhältniszudenProduktionsmitteln,weildieseihr Eigentumdarstellten.WeilsieaberkeinegroßenMenschengruppenwaren, wurdensievernachlässigt.UnterderBezeichnung»sozialeGruppen«wur- den sie als Überbleibsel der kapitalistischen Klassengesellschaft gedeutet, deren Ende absehbar sei. Im Modell von zwei Klassen und einer Schicht wurdensiemeistübersehen.ÄhnlichergingesdenGenossenschaftshand- werkern,dieinmanchenfrühenDiskussionenderDDR-Klassenstruktur als eigene Schicht erscheinen, weil sie zwar ebenfalls kollektive Eigentü- mer der Produktionsmittel waren, aber für sich und nicht im Kollektiv arbeiteten.¹⁴ Auch andere Modelle waren im Umlauf, die, wie etwa der Berliner Soziologe Holger Michaelis in einer Dissertation von 1972, tat- sächlichnocheine»Mittelklasse«zuentdeckenvermeinten.¹⁵ Das »Zwei Klassen/Eine Schicht«-Modell war also insgesamt eine Vereinfachung und eher so etwas wie eine Arbeitshypothese jeder Sozi- alforschung in der DDR. In jedem Fall hat man aber Modelle vor sich, die – anders etwa als die soziologische Schichtungstheorie – diskrete gesellschaftliche Formationen unterschiedlicher Konstruktion aufwiesen, die zueinander nicht in einem Kontinuum (etwa nach einem vertikalen Muster) zu ordnen waren. Eine Schichtungspyramide wäre in der DDR nichtvorstellbargewesen.TrotzdemwiesenalldieseModelleeinenorma- tiveHierarchieauf,das»ZweiKlassen/EineSchicht«-Modellallenvoran. 13 Solga,KlassenloseGesellschaft,a.a.O.(Anm.4),S.27. 14 KurtLungwitz,ÜberdieKlassenstrukturderDeutschenDemokratischenRepublik.Ei- nesozialökonomisch-statistischeUntersuchung (Berlin(DDR):VerlagDieWirtschaft, 1962),S.111f.. 15 HolgerMichaelis,DiesozialeMobilitätvonLeiterninsozialistischenIndustriebetrieben, Diss.Berlin(DDR)1972(Norderstedt:GRINVerlag,2009[Neuveröffentlichung]), S.105.
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