Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien Sowjetische Standpunkte zu einer künftigen Gestaltung europäischer Sicherheit Jobst Echterling 60-1990 I Die Meinungen, die in den vom BUNDESINSTITUT FÜR OSTWISSENSCHAFTLICHE UND INTERNATIONALE STUDIEN herausgegebenen Veröffentlichungen geäußert werden, geben ausschließlich die Auffassung der Autoren wieder. © 1990 by Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln Abdruck und sonstige publizistische Nutzung - auch auszugsweise - nur mit vorheriger Zustimmung des Bundesinstituts sowie mit Angabe des Verfassers und der Quelle gestattet. Bundcsinslilut für ostwissenschaftliche und internationale Studien Lindenbornstraße 22, D-5000 Köln 30, Telefon 0221/5747-0 INHALT Seite Kurzfassung 1 Einleitung 7 Exkurs s Kollektive Sicherheit - grundsätzliche Überlegungen und frühere sowjetische Positionen 12 Das MeinungsSpektrum in der heutigen UdSSR 16 Das Verhältnis der Sowjetunion zu den USA und das sowjetische Selbstverständnis als Weltmacht 18 Das geeinte Deutschland und das künftige System europäischer Siucherheit 20 Die Rolle der NATO im künftigen System europäischer Sicherheit 24 Die Rolle der USA im künftigen System europäischer Sicherheit 27 Die Rolle der ostmitteleuropäischen Staaten im künftigen System europäischer Sicherheit 29 Die Rolle der westeuropäischen Integration im künftigen System europäischer Sicherheit . . 32 Die Rolle des institutionalisierten KSZE-Prozesses im künftigen System europäischer Sicherheit 34 Sowjetische Vorstellungen zur militärischen Ausgestaltung künftiger europäischer Sicherheit 36 Zusammenfassung und Ausblick 38 Anmerkungen 41 Summary 49 September 1990 Jobst Echterling Sowjetische Standpunkte zu einer künftigen Gestaltung europäi scher Sicherheit Bericht des BlOst Nr. 60/1990 Kurzfassung Vorbemerkung Die vorliegende Studie stellt die Frage, welche unterschiedli chen Standpunkte heute in der UdSSR zur Gestaltung europäischer Sicherheit im ungefähren Zeitraum 1995-2000 erkennbar sind. Bei der Beantwortung dieser Frage sind folgende Hintergrundfaktoren von wesentlicher Bedeutung: 1. In Erkenntnis, daß ihre bisherige Politik unter sicherheits- und wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten kontraproduktiv war, ist die UdSSR heute auf dem Weg von totalitärer Militärpo litik zu einer Sicherheitspolitik im westlichen Sinn. 2. Die Voraussetzungen sowjetischer Europapolitik unterliegen einem fundamentalen Wandel. Ursachen hierfür sind die revolu tionären Veränderungen in Ostmitteleuropa, in Deutschland und in der innersowjetischen Situation. 3. Antworten auf die der Studie zugrundeliegende Frage sind mit einem großen Maß an Unsicherheit behaftet. Diese sind darin begründet, daß - sich die UdSSR in einem chaotisch-verlaufenden Umbruch befin det, - die UdSSR nicht über ein gültiges Konzept nationaler Sicher heit verfügt, - die UdSSR ein völlig neues Bild der Meinungs- und Parteien vielfalt bietet, - in der UdSSR Begriffe mit unterschiedlichsten wie wechselnden Inhalten belegt werden, und daß - kurz-, mittel- und langfristige Ziele und Konzeptionen kaum zu unterscheiden sind. 4. Bis vor kurzem ließ sich das Meinungsspektrum in der UdSSR noch in folgende relativ homogen erscheinende Gruppen eintei len: - zivile Wissenschaftler als Vordenker, - 2 - - die politische Führung, welche davon einiges übernahm und - die militärische Führung, welche mehr oder weniger überzeugt der politischen Führung - zumindest formal - folgte. Heute sind in allen Bereichen reaktionär-konservative Kräfte, Reformer und Radikalreformer deutlich erkennbar. Deren Zusammen setzung wechselt nach Zeit und Inhalt. Ihr jeweiliges Gewicht in den verschiedenen Bereichen ist unterschiedlich. Die Studie geht von der Annahme aus, daß es folgende Grundoptio nen künftiger europäischer Sicherheit gibt: - ein Weiterbestehen der Konfrontation, - ein System kollektiver Sicherheit, - ein auf westlichen Integrationsvorstellungen und -erfahrungen aufbauendes System und - ein sich mehr zufällig ergebendes, wenig strukturiertes Sy stem von Nationalstaaten. Das Ergebnis läßt sich wie folgt zusammenfassen: 1. Der politischen Führung der UdSSR kommt es, soweit die über greifend wesentlichen Fragen des Verhältnisses zu den USA und der eigenen Weltmachtkontrolle betroffen sind, darauf an, das Verhältnis zu den USA so entspannt aber auch gleichrangig - vor allem auf nuklearstrategischem Gebiet - zu gestalten, daß die Voraussetzungen für eine positive Entwicklung der Beziehun gen zu den europäischen Staaten und vor allem zu Deutschland gegeben sind. Für die sowjetische Wissenschaft treten Weltmacht überlegungen mehr in den Hintergrund. Sie stellt oft die Frage nach den wahren sowjetischen Sicherheitsinteressen. Die Mili tärs scheinen sich nur schwer von den überkommenen Vorstellun gen auf diesen Gebieten lösen zu können. 2. Die Standpunkte von Radikalreformern und Reformern in Fra gen der Europapolitik unterscheiden sich meist nicht grund sätzlich. Differenzen sind vor allem aus dem Zwang zur politi schen Durchsetzung bei letzteren erklärbar. Konservativ-reaktio näre Kräfte sind in Äußerungen zum Thema meist zurückhaltend. Soweit erkennbar, lassen sich kaum andere Alternativen als ein Zurück zur alten Ordnung ahnen. 3. Deutschland wird in großen Teilen der UdSSR immer noch vor allem als der mitteleuropäische Kernraum gesehen, von dem allein aus eine ernsthafte militärische Gefährdung der Sowjet union mit nichtnuklearen Mitteln möglich ist. Sicherheit ist für die UdSSR deshalb wohl immer Sicherheit vor oder mit - 3 - Deutschland. Die politische Führung der UdSSR hat inzwischen erkannt, daß das Blockmodell der Sicherheit gescheitert ist, daß ein kollektives Sicherheitssystem z.Z. keine Realisierungs chancen hat, daß Entscheidungen zu Deutschland künftige Sicher heitsstrukturen determinieren und daß die UdSSR Deutschlands zur wirtschaftlichen Gesundung bedarf. In dieser Erkenntnis hat sie sich durch ihre Entscheidungen zur Zukunft Deutschlands vom Juli 1990 und im Bewußtsein ihrer realpolitischen Möglichkeiten - zumindest für eine mittlere Frist - wohl auf eine europäische Sicherheitsordnung auf der Grundlage des westlichen Konzepts politisch-militärischer Integration eingelassen. Während die Masse der Wissenschaftler, welche den Radikalreformern zuneigt, diese Entwicklung schon früh vorhergesehen, ihre Vorteile er kannt und sie unterstützt hatte und sie auch durch führende Mi litärs akzeptiert wird, lehnen sie die konservativ-reaktionären Kräfte ab. 4. Stellungnahmen zur Zukunft der Bündnisse machen deutlich, daß die politische Führung deren langfristig prägende Rolle für das künftige Europa erkannt und - wenn auch wohl widerwil lig - akzeptiert hat. Man ist sich dabei wohl klar, daß es hier bei de facto um die Elemente NATO und UdSSR (und nicht WP) ge hen wird. Aussagen zum Warschauer Pakt gleichen Rückzugsgefech ten zur Gesichtswahrung. Das Ideal der Ablösung von Bündnis strukturen durch ein nicht näher ausgeführtes System kollekti ver Sicherheit ist jedoch, wenn auch unterschiedlich intensiv, bei fast allen Vertretern der UdSSR erkennbar. Allein einige Radikalreformer scheinen deutlich ein auf NATO aufbauendes Sy stem zu wollen. 5. Fast alle sowjetischen Standpunkte beinhalten die Forderung oder zumindest die Akzeptanz einer mittelfristigen Beteili gung der USA an europäischen Sicherheitsstrukturen. Die zeitli che Begrenzung dieser Beteiligung wie ihre Beschränkung auf den nichtmilitärischen Bereich wird jedoch sehr oft deutlich ge macht. Am stärksten ist dies bei den Militärs, weniger deutlich bei den Reformpolitikern und am geringsten bei den radikalrefor- merischen Wissenschaftlern der Fall. Einige der letzteren las sen sogar die Forderung nach dauerhafter und militärischer Prä senz der USA in Europa erkennen. 6 . Die sowjetischen Standpunkte zur Rolle der ostmitteleuropäi schen Staaten im künftigen System europäischer Sicherheit sind durch ein großes Maß an Unsicherheit und Konzeptionslosig- keit geprägt. Klar ist man sich nur über die Gefahr von Instabi litäten in den wirtschaftlichen, kulturellen, sozialen und demo kratischen Entwicklungen dieser Staaten, denen man begegnen will. Darüberhinaus sieht man in diesen Staaten vor allem den Wirtschaftspartner, der ähnliche Probleme wie man selber hat. Der oft recht unreflektierte Hinweis auf die sowjetisch-finni schen Beziehungen als Vorbild scheint einer soliden Grundlage zu entbehren. _ 4 - 7. Die sowjetischen Vorstellungen zur westeuropäischen Integra tion sind vor allem durch die Erkenntnis ihrer Unvermeid lichkeit und von der Angst gekennzeichnet, durch sie von Europa isoliert zu werden. Bei der politischen Führung sind aber Anzei chen zu erahnen, daß die Überwindung der EG als langfristiges Ziel nicht aufgegeben wurde. Radikalreformerische Kräfte beto nen mehr das positive, friedenserhaltende Potential dieser Inte gration und setzen ihre Hoffnung in sie. Während man insgesamt in diesen Integrationsprozeß große Hoffnungen in bezug auf die wirtschaftliche Gesundung der UdSSR setzt, werden die mit ihm verbundenen Probleme wie z.B. Souveränitätsverlust nicht ange sprochen. 8. Die sowjetischen Gedanken zum KSZE-Prozeß und seiner Insti tutionalisierung wandeln sich bzw. haben sich gewandelt von seiner Interpretation als Mittel der Politik der Friedlichen Koexistenz über seine Sicht als Form eines Systems kollektiver Sicherheit hin zur Vorstellung, daß er sich zu einem, andere In stitutionen komplementierenden Element entwickeln soll. Diese Elemente sollen offensichtlich sowohl inhaltlich wie regional strukturiert werden. Ob der Gedanke der kollektiven Sicherheit damit auch langfristig aufgegeben wurde, scheint zumindest für die politische und militärische Führung zweifelhaft. Die Vor stellungen zur militärischen Dimension eines institutionalisier ten KSZE-Prozesses sind noch wenig entwickelt, lassen aber eine Deutung als kollektives Sicherheitssystem ahnen. Die Grenzen, welche im KSZE-Ansatz liegen, werden nur von Wissenschaftlern angesprochen. Allerdings scheint auch ihnen eine klare, langfri stige Vorstellung über die Umsetzung von erkennbaren Ansätzen zu fehlen. 9. Zur Frage der sowjetischen Vorstellungen über diem ilitäri sche Ausgestaltung künftiger europäischer Sicherheit fällt einerseits auf, daß die Diskussion sich hier fast ausschließ lich auf die Frage der sowjetischen Sicherheit beschränkt. Euro päische Ansätze sind kaum erkennbar. Andererseits wird deut lich, daß die verschiedenen politischen Vorstellungen zur euro päischen Sicherheit noch nicht erkennbar in militärische Vor stellungen umgesetzt werden. Die militärischen Vorstellungen sind gedanklich immer noch von der Blockstruktur - auch wenn diese aus NATO auf der einen und der UdSSR auf der anderen Sei te bestehen wird - geprägt. Dabei hat man sich jedoch in unter schiedlicher Deutlichkeit den bisherigen NATO-Positionen ange paßt. Die Tatsache, daß auch diese aufgrund geänderter politi scher Voraussetzungen ihrer Grundlage beraubt wurden, wird in der Diskussion bisher nicht deutlich. 10. Die behandelten Einzelfragen zur künftigen Gestaltung euro päischer Sicherheit kurz zusammenfassend werden idealty pisch drei Grandpositionen deutlich: - 5 - - Erstens die Gruppe derjenigen, welche einen grundlegenden Wan del der alten Sicherheitsvorstellungen nicht akzeptieren und damit gewollt oder ungewollt die Erhaltung bzw. das Wiederer starken konfrontativer Strukturen fördern, - zweitens die Gruppe derjenigen, welche den Übergang zu westli chem Sicherheitsdenken aus pragmatischen, vor allem innenpoli tischen Motiven akzeptieren und - drittens die Gruppe derjenigen, welche den Wert dieses Sicher heitsdenkens an sich erkannt hat. Ein Mindestmaß an Kontinuität der Entwicklung in der UdSSR vor ausgesetzt, wird die erste Gruppe langfristig wohl an Gewicht verlieren. Mittelfristig sollte sie aber nicht unterschätzt wer den.