Sorgende Arrangements Werner Thole • Alexandra Retkowski Barbara Schäuble (Hrsg.) Sorgende Arrangements Kinderschutz zwischen Organisation und Familie Herausgeber Werner Th ole, Barbara Schäuble Alexandra Retkowski, FH Hildesheim, Göttingen Universität Kassel, und Holzminden, Deutschland Deutschland ISBN 978-3-531-18475-3 ISBN 978-3-531-94369-5 (eBook) DOI 10.1007/978-3-531-94369-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National- bibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufb ar. Springer VS © VS Verlag für Sozialwissenschaft en | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zu- stimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Über- setzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürft en. Einbandentwurf: KünkelLopka GmbH, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer VS ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media www.springer-vs.de Inhaltsverzeichnis Einleitung Alexandra Retkowski | Barbara Schäuble | Werner Thole Sorgende Arrangements im Kinderschutz .................................................... 9 Gesellschaftliche Erwartungen und institutionelle Reaktionen Karin Böllert | Martin Wazlawik Kinderschutz als Dienstleistung für Kinder und Jugendliche ..................... 19 Ingo Bode | Steffen Eisentraut | Hannu Turba Kindeswohlgefährdung als Systemfrage .................................................... 39 Hans Thiersch Macht & Gewalt ......................................................................................... 51 Facetten des Kinderschutzes Sabine Wagenblass Herausforderungen für den Kinderschutz in psychisch belasteten Familien ..................................................................................... 71 Mike Seckinger Kinderschutz und die psychische Erkrankung eines Elternteils ................. 83 Fenn Felstehausen Kindeswohl und Kinderschutz in Kindertageseinrichtungen ..................... 95 Organisationale Rahmungen des Kinderschutzes Sarina Ahmed | Petra Bauer Zwischen Organisation und Profession .................................................... 107 Timo Ackermann Aus Fehlern lernen im Kinderschutz ........................................................ 121 Beate Köhn Kooperation im Kinderschutz ................................................................... 143 Akteure des Kinderschutzes I: Teams und Professionen Jens Pothmann | Agathe Wilk Kinderschutz im Dialog ............................................................................ 155 Franziska Hübsch Die Bedeutung informeller Kommunikation im Allgemeinen Sozialen Dienst ................................................................... 175 Anne Lohmann | Anna-Kristen Hentschke | Virginia Dellbrügge Pascal Bastian | Wolfgang Böttcher | Holger Ziegler Kooperationen in Frühen Hilfen und Sozialen Frühwarnsystemen .......... 187 Akteure des Kinderschutzes II: Familien, Kinder und SozialpädagogInnen Heinz Kindler Fachlich gestaltete Gespräche mit Kindern im Kinderschutz: Ein Forschungsüberblick ................................................... 203 Reinhart Wolff Psychohygiene im Kinderschutz .............................................................. 217 Alexandra Retkowski | Barbara Schäuble Inszenierung kindlicher Lebensräume – Beziehungen im Kinderschutz .. 237 Die AutorInnen 249 Einleitung Alexandra Retkowski | Barbara Schäuble | Werner Thole Sorgende Arrangements im Kinderschutz Fragen des Kinderschutzes und der Kindeswohlgefährdung erfahren ge- genwärtig erfreulicherweise eine erhöhte Aufmerksamkeit. Die durchaus kontroversen Diskussionen zum neuen Kinderschutzgesetz stehen für die- sen Bedeutungsgewinn exemplarisch. Der vorliegende Band geht auf die Tagung »Helfen, aber wie? Professionelle Praxen in Fällen der Kindes- wohlgefährdung« zurück, die im November 2010 als Abschlussveranstal- tung des Forschungsprojekts »Familiale Gewalt. Brüche und Unsicherhei- ten sozialpädagogischer Praxis« (UsoPrax)1 stattfand. Ausgehend von Re- flexionen des Wandels familiärer Konstellationen und Erziehungsvorstel- lungen, einer zu beobachtenden zunehmenden Thematisierung familialer Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, veränderter fachlicher Perspektiven auf familiale Gewalt und einer Infragestellung wohlfahrtsstaatlicher Arran- gements wurde in dem Forschungsprojekt die professionelle Praxis der MitarbeiterInnen des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) in Fällen des Verdachtes der Kindeswohlgefährdung untersucht. Die Tagung »Helfen, aber wie? Professionelle Praxen in Fällen der Kin- deswohlgefährdung« diente jedoch nicht nur dem Ziel, zentrale Ergebnisse des Kasseler Projektes vorzustellen und zu diskutieren, sondern intendierte auch das fachlich vorhandene und empirisch evaluierte Wissen über Fragen und Praktiken, organisationale Rahmungen und Reflexionsformen des bun- desrepublikanischen Kinderschutzes zu diskutieren. Die Soziale Arbeit und insbesondere der Bereich des Kinderschutzes ist vielfältigen Transformati- onen unterworfen, die auf rechtlicher, organisatorischer und vor allem auch 1 Das Forschungsprojekt »Brüche und Unsicherheiten in der sozialpädagogischen Pra- xis. Professionelle Umgangsformen im Falle familialer Gewalt gegen Kinder und Jugendliche« (UsoPrax) konnte als Kooperationsprojekt zwischen der Universität Kassel, Fachbereich Humanwissenschaften, und dem »Arbeitskreis Gemeindenahe Gesundheitsfürsorge« (AKGG), Kassel, realisiert werden (vgl. Herrmann u. a. 2009). Gefördert wurde das Projekt dankenswerterweise durch die Aktion Mensch, die Hans-Böckler-Stiftung und die Robert-Bosch-Stiftung. Neben den AutorInnen wirk- ten an dem Projekt in verschiedenen Phasen insbesondere Cora Herrmann, Ulrike Loch, Andreas Hubele, Teslihan Ayalp und Franziska Hübsch mit. W.Thole et al. (Hrsg.), Sorgende Arrangements, DOI 10.1007/978-3-531-94369-5_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaft en | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012 10 Alexandra Retkowski | Barbara Schäuble | Werner Thole auf der Ebene des pädagogischen Handelns liegen. In diesem Kontext tritt die Frage auf, welche Institutionen und welche Professionen gesellschaft- lich mit einer Zuständigkeit für Interventionen im Fall von Kindeswohlge- fährdungen zu beauftragen sind, ob beispielsweise MedizinerInnen, Juris- tInnen oder LehrerInnen, Sozialpädagoginnen und Sozialarbeiter zuständig sein sollen. Das neue Kinderschutzgesetz legt diesbezüglich fest, dass auch nicht sozialpädagogische Institutionen, beispielsweise Gesundheitsämter, und Professionen – insbesondere aus dem medizinischen Bereich – verstärkt mit Aufgaben des Kinderschutzes betraut werden sollen. Im Lichte dieser aktu- ellen Diskussion um den Kinderschutz sind insbesondere zwei Aspekte in Erinnerung zu rufen. Erstens wird oftmals nicht genügend bedacht, dass Missachtungen kindlicher Interessen, Gewalt gegen und Verletzungen der sexuellen Integrität von Kindern auch über noch so dicht und sensibel prä- sentierte Angebote und Aufmerksamkeitskulturen nicht aus der gesell- schaftlichen Wirklichkeit zu tilgen sind. Damit soll keineswegs gesagt oder auch nur angedeutet sein, dass sich die bundesdeutsche Gesellschaft mit Verletzungen der kindlichen und jugendlichen Integrität abzufinden hat. Aber es darf auch nicht suggeriert werden, dass Gewalt über Qualifizie- rungsmaßnahmen, eine Erweiterung der Wahrnehmungspraxen oder eine Veränderung der Angebote und Kontrollinstitutionen vollständig zu verhin- dern sei. Der zweite Aspekt schließt direkt an. Zu oft wird in der Auseinan- dersetzung um den Kinderschutz vor dem Hintergrund der Annahme, ge- waltvolle Praxen gegen Kinder in Familien wären gänzlich zu verhindern, ein Scheitern der Sozialen Arbeit unterstellt. Wenn die Soziale Arbeit kom- petenter und aufmerksamer agieren würde, so die öffentlich und medial vermittelte Meinung, dann gäbe es weniger kindliche und jugendliche In- tegritätsverletzungen und weil die Soziale Arbeit sich dem Problem nicht kompetent genug stellen könne, habe sie zwar nicht versagt, aber auch nicht ausreichend effektiv genug agiert, und deshalb seien zusätzlich andere Pro- fessionen mit der »Lösung des Problems« zu beauftragen. Soziale Arbeit wird in ihrer Kernkompetenz über diese öffentlichen Infragestellungen kri- tisch attackiert, oft auch »zwischen den Zeilen«, und sie wird damit ihrer Zuständigkeit und Kompetenz in Bezug auf die Kindeswohlgefährdung »enteignet«. Soziale Arbeit wird in einer Form in Frage gestellt, wie dies bei anderen Professionen in vergleichbare Schärfe nicht der Fall ist. Die jährlich zu beklagenden defensiv geschätzt rund 40.000 ärztlichen Kunst- fehler und geschätzten bis zu 17.000 Todesfälle aufgrund ärztlichen Fehl- verhaltens erzeugen zwar ebenfalls öffentliches Unwohlsein, aber niemand käme auf die Idee, zu fordern, TheologInnen, PädagogInnen oder JuristIn- Sorgende Arrangements im Kinderschutz 11 nen angesichts dieser Zahlen stärker in die medizinische Behandlung zu in- volvieren. Auch die Fehler und Unaufmerksamkeiten der sozialpädagogi- schen PraktikerInnen legitimieren es nicht, der Sozialen Arbeit die Kompe- tenz für die Bewältigung der an sie adressierten gesellschaftlichen Aufga- ben abzusprechen. Damit soll nicht festgestellt werden, dass die Soziale Arbeit das Ende ihrer fachlichen Entwicklung schon erreicht hat – das Pro- jekt der Professionalisierung der Sozialen Arbeit ist keineswegs abge- schlossen –, aber aufgrund ihrer Leistungen und Kompetenz, kann sie bean- spruchen, dass ihr weiterhin auch bezüglich der Identifizierung von Fällen der Kindeswohlgefährdung vertraut wird. Mit dem Fokus auf Kinderschutz als »sorgendes Arrangement« wird ei- ne Perspektive verfolgt, die die soziale Ordnung des Kinderschutzes in den Blick nimmt und als Ausdruck divergierender Rationalitäten bestimmt. Das Konzept des Arrangements schließt an Erving Goffman an, der den Begriff zur Untersuchung der Geschlechterverhältnisse nutzt und damit die Be- obachtung fasst, dass situative Geschlechterpraxen Schnittstellen zwischen Interaktionsmomenten der jeweiligen Sozialstruktur und institutionellen Prozessen und Strukturen darstellen (vgl. Goffman 1977). Arrangements sind mithin Verdichtungen und Strukturierungen, die sich in empirischen Rekonstruktionen als Muster, Typen und Routinen im Verhältnis zwischen Akteuren des Kinderschutzes und den familialen Akteuren zeigen (vgl. Retkowski/Schäuble/Thole 2011). Die empirisch beobachtbaren »sorgenden Arrangements« im Kinderschutz sind zu sehen vor dem Hintergrund einer »›Veröffentlichung‹ privater Zusammenhänge«, die »einen stärkeren amtli- chen Zugriff auf Familie legitimieren und damit zugleich Verschiebungen im Verhältnis von öffentlicher und privater Sphäre aufzeigen bzw. dieses mit Blick auf Zuständigkeiten normativ reformulieren« (Richter/Beckmann/ Otto/Schrödter 2009, S. 1). Sozialpolitische Regulationen des Verhältnisses zwischen Staat und Familie wie auch der generationellen Beziehungen, die sich in den jeweiligen und bisweilen konkurrierenden Familien-, Kinder- und Jugendhilfepolitiken und den entsprechenden Institutionen niederschla- gen, konstituieren solche Arrangements als institutionelle Ordnungen des Kinderschutzes mit. Dazu zählen auch Widersprüche zwischen kostenorien- tierten Rationalisierungslogiken und wohlfahrtsstaatlich-fürsorglichen Rati- onalitäten sowie Widersprüche zwischen paternalistischen, demokratischen und individualisierenden Verantwortungsmodellen und -praxen (vgl. Bütow/Chasseé/Hirt 2008). Die gesellschaftliche Position von Eltern, die über den Hinweis auf Gewährleistung und Sicherung des Kindeswohls bzw. über das Konzept der Erziehungsfähigkeit thematisiert wird, manifestiert
Description: