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Solidarität mit den Leidenden im Judentum PDF

324 Pages·1978·23.236 MB·German
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RACHEL ROSENZWEIG SOLIDARITÄT MIT DEN LEIDENDEN IM JUDENTUM w DE G STUDIA JUDAICA FORSCHUNGEN ZUR WISSENSCHAFT DES JUDENTUMS HERAUSGEGEBEN VON E. L. EHRLICH BASEL BAND X WALTER DE GRUYTER • BERLIN • NEW YORK 1978 SOLIDARITÄT MIT DEN LEIDENDEN IM JUDENTUM VON RACHEL ROSENZWEIG WALTER DE GRUYTER • BERLIN • NEW YORK 1978 Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Übersetzung und Neubearbeitung des hebräischen Originals durch die Verfasserin. CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Rosenzweig, Rachel Solidarität mit den Leidenden im Judentum. - 1. Aufl. - Berlin, New York: de Gruyter, 1977. (Studia Judaica ; Bd. 10) ISBN 3-11-005939-8 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfätigen. © 1978 by Walter de Gruyter 8c Co., Berlin 30 Printed in Yugoslavia Satz und Druck: Casopisno in grafieno podjetje Delo, Ljubljana Einband: Wübben u. Co., Berlin 42 DEN DREIEN, DIE ICH NICHT GEKANNT HABE EVA PIKOVA, dem jüdischen Kind, das 1943 mit 12 Jahren in Auschwitz ermordet wurde. SIEGFRIED GUTH, meinem Vater, der 1943 mit 32 Jahren in Sizilien gefallen ist. SOPHIE SCHOLL, dem deutschen Mädchen, das 1943 mit 22 Jahren in München hingerichtet wurde. Nein, nein, mein Gott, wir woll'n noch leben, du darfst nicht lichten unsre Reihn, wir woll'n nach bessrem Morgen streben, dann wird ja soviel Arbeit sein! (Eva Pikova) * * * Möge ich den Mut haben zu ändern, was zu ändern ist; möge ich die Kraft haben, mich zu fügen in das, was nicht zu ändern ist; und möge ich weise genug sein, zwischen beidem stündlich zu unterscheiden! VORBEMERKUNGEN FÜR DEN DEUTSCHEN LESER Volk und Mensch ISRAEL ist eine Gemeinschaft, die durch ihr gemeinsames Geschick, ihr Bewußtsein von ihrer Aufgabe in der Welt und einer ihr eigenen Lebens- orientierung zusammengeschweißt wurde. Was mit dem Namen „Israel", mit den poetischen Titeln ZION und KNESSET-ISRAEL, oder mit den Begriffen VOLK und GEMEINSCHAFT gemeint ist, umgreift viel mehr als eine Nation oder eine Religion. Was dieser Gemeinschaft vor allem bewußt sein muß, ist, daß sie vom EINZELNEN (jahid) abhängt. Grammatikalisch äußert sich das darin, daß das Verb, das Israels Tun oder Geschick bezeichnet, im Plural steht. Weil die gegenseitige Abhängigkeit und Verantwortung also bereits in der Sprache enthalten ist, muß diese Konstruktion zuweilen auch dem deutschen Leser zugemutet werden: „all ISRAEL BÜRGEN füreinander". Dasselbe gilt für die Konstruktion „der Mensch und sein Anderer", „du und DEIN ANDERER" (receka oder zulatka). Die Sprache weist den Weg ins Denken. Lehre und Tradition Die religiöse, juristische, ethische und philosophische Orientierung, die WEISUNG (torah), weist dem Menschen den Weg, den er gehen muß, ,damit er lebe' in dieser Welt und in dieser Zeit. Literarisch schlug sich die Weisung in den ersten fünf Büchern der Bibel nieder. Das fünfte, das von den Wissen- schaftlern mit dem griechischen Fremdwort DEUTERONOMIUM („Wiederholung der Weisung") bezeichnet wird, zeigt bereits, wie Generation um Generation jene Lebensorientierung dem sich vertiefenden Wirklichkeitsverständnis ge- mäß korrigiert und klarer ins Bewußtsein gebracht wurde. Wie die Bücher der Weisung in keine der modernen literarischen Katego- rien passen, sondern alles umfassen, Geschichte und Gleichnis, Gesetz und Liturgie, Tröstung und Mahnung, so wurden im Lauf der Jahrhunderte noch viele Bücher verfaßt und schließlich in der BIBEL (dem sogenannten Alten Testament) redigiert. Weil das hebräische Denken, Gestalt geworden in der hebräischen Sprache, trotz Auschwitz „verdeutscht" wurde, nicht verenglischt und nicht verfranzösischt, sondern verdeutscht, so ist es natürlich, daß alle Zitate der Bibel (immer durch einfache Anführungszeichen ,...' kenntlich gemacht) der BuBER-RosENZWEiG-Bibel entnommen sind, es sei denn, daß VIII Vorbemerkungen für den deutschen Leser eine Übersetzung, die ja trotz aller Treue immer nur einen Teil der Konnota- tionen des Orginalworts wiedergeben kann, in dem Kontext dieses Buches irreführend wäre. Der Prozeß der steten Neubesinnung auf die Weisung zum Leben setzte sich auch nach der biblischen Zeit fort, und zwar lange Zeit als MÜNDLICHE LEHRE. Nach der Katastrophe von 135 n. d. Z. war es dann notwendig, zu- nächst einmal die normativen Teile, HALACHA („Gehen") genannt, zu fixieren. Die Alten nannten dies Werk auf hebräisch MISCHNA, was ebenfalls „Wieder- holung der Weisung" bedeutet. Vieles zuerst Ausgeschiedene wurde später dennoch gesammelt und teils in einem Werk namens TOSEPHTA („Zusatz") redigiert, teils als BARAITA („draußen befindlich") in dazu passenden Kon- texten der GEMARA untergebracht. Die Gemara („Vervollständigung") ent- hält die Diskussionen um die Mischna, aber auch all das umfangreiche Mate- rial an Geschichte und Geschichten, Exegesen und Paränesen, AGGADA („Er- zählung") genannt, das Jahrhunderte lang von Vater zu Sohn tradiert wurde. Aus Mischna und Gemara wurde schließlich der TALMUD redigiert, der PALÄ- STINENSISCHE im Land Israel ums Jahr 400 und der BABYLONISCHE in den GELEHRTENSCHULEN (jesibot) des neuen geistigen Zentrums im Exil ums Jahr 525. Aber auch hier fand noch nicht alles Platz, und viele Traditionen und Interpretationen wurden als MIDRASCH („Auslegung") überliefert und gesam- melt. Die frühen, mehr halachischen Midraschim sind als Auslegung zu den gesetzlichen Teilen der Weisung geordnet, die späteren, mehr aggadischen, bringen Deutungen zu fast allen biblischen Büchern oder bieten gar, wie die Krone der Midraschim, „Tanna de be Eliahu", freie Predigt und Erzählung. Die Einzigartigen und der Eine Wenn irgendetwas Israel zum EINZIGARTIGEN VOLK ('am segulah) machte, so war es das Phänomen des EINZIGARTIGEN MENSCHEN ('is segulah), von Mose angefangen, über die sogenannten PROPHETEN bis hin zu den WEISEN. Wie die Ersteren, so hatten auch die Letzteren zu verschiedenen Zeiten ver- schiedene Namen. Manche trugen den Titel RABBI oder RABBAN im Land Israel bzw. RAB in Babylonien („Meister"), weswegen die Zeit zwischen der ZWEITEN ZERSTÖRUNG (70 n. d. Z.) und dem Abschluß des Talmuds die RABBINISCHE ZEIT genannt wird. Sie waren ordiniert und lehrten im LEHR- HAUS (bet-ha-midras) oder hatten ein Amt im Richterkollegium, dem SAN- HÉDRIN, oder in der Selbstverwaltung, dem PATRIARCHAT. Andre waren große Meister, ohne daß sie den Titel erlangten. Sie selber nannten sich meist „Weise" oder bescheidner WEISENSCHÜI.ER. Unter all diesen MÄNNERN DES GEISTES (anse ha-ruah) gab es solche, die besondre Verantwortung auf sich nahmen. Ich nenne sie GESANDTE DER GEMEINSCHAFT (selihe sibbur). Der im Bild des einzigartigen Gesandten geschaffene Eine GOTT änderte Vorbemerkungen für den deutschen Leser IX seinen Namen entsprechend den Bedürfnissen seines Volkes, von JHWH („Ich- Bin-Mit-Euch") zum HEILIGEN-GELOBT-SEI-ER bis zur SCHECHINA („Ein- wohnung"), die überallhin geht mit Israel ins Leid und immer bei Israel ist, auch wenn sie sündigen. Gläubige Menschen mögen mir verzeihen, daß ich die Säkularisierung der Welt, der Geschichte und des menschlichen Lebens, mit der Mose und seines- gleichen begannen, und die Rabbi Jochanan ben Sakkai und seinesgleichen weiterführten, fortsetze. Es war Mose, der dem Volk Israel statt aller auf ihr eignes Prestige versessenen Götter einen Gott vor Augen stellte, der vom Menschen forderte, verantwortlich zu sein, verantwortlich für den Zusammen- hang zwischen seinem Verhalten und seinem Geschick. Die Not der Mensch- heit, die Gefährdung Israels verlangen die maximale Ausnutzung unsres menschlichen Potentials. Daher tut es not zu leben, etsi deus non daretur, was ich von Bonhoeffers Botschaft vor seiner Hinrichtung 1945 und dem gelebten Beispiel meines Mannes Rafael gelernt habe. Mögen die Gläubigen in ihrem Glauben stark sein und kein Ärgernis daran nehmen, daß auch ich, wie Szczesny, meine, »mich der Ungläubigen annehmen zu müssen«. Um unser Leben und unsre Welt zu gestalten, bedürfen wir der Orientierung, zu welcher dieses Buch ein Beitrag sein soll. Studium und Verwirklichung Fünf Jahre sind vergangen, seitdem ich dieses Buch in seiner ersten, he- bräischen, Gestalt als Doktorarbeit bei der Hebräischen Universität in Jerusa- lem eingereicht habe. Meine beiden Lehrer hatten ihr Teil dazu getan, Prof. Flusser mit seiner ansteckenden Begeisterung und Prof. Safrai mit seiner wohltuenden Sachlichkeit beim Korrigieren. Weil das Buch nach „Bewährung der Wahrheit im Leben" rief, um mit Franz Rosenzweig zu sprechen, nahm ich mir nicht die Zeit, für die Veröffentlichung des Buches zu sorgen. Es waren ein Jude und ein Christ, Ludwig Ehrlich in Basel und Reinhold Mayer in Tübingen, die mich mit dem deutschen Verlagsvertrag überraschten. Möge zwischen meinem Buch und meinem Tun kein zu großer Abgrund sein. Ramat-Hadar, Israel, am 25. Dezember 1976 Rachel Rosenzweig

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