Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Sonderheft 55/2015 Sonderhefte Begründet durch René König (†), Deutschland Karsten Hank · Michaela Kreyenfeld (Hrsg.) Social Demography Forschung an der Schnittstelle von Soziologie und Demografie Begründet als „Kölner Zeitschrift für Soziologie“ durch Leopold von Wiese (1948–1954) Fortgeführt als „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“ durch René König (1955–1985) Herausgeber: Prof. Dr. Daniela Grunow, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Prof. Dr. Karsten Hank, Universität zu Köln und Prof. Dr. Thomas Schwinn, Universität Heidelberg Beirat: Prof. Dr. Eva Barlösius, Universität Hannover; Prof. Dr. Jens Beckert, Max-Planck-Institut für Ge sel- lschaftsforschung, Köln; Prof. Dr. Hans Peter Blossfeld, Universität Bamberg; Prof. Dr. Bernhard Ebbinghaus, Universität Mannheim; Prof. Dr. Christian Fleck, Universität Graz; Prof. Dr. Bettina Heintz, Universität Luzern; Prof. Dr. Gisela Trommsdorff, Universität Konstanz Redaktion: PD Dr. Volker Dreier, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der Universität zu Köln Zuschriften werden erbeten an: Redaktion der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie, Lindenburger Allee 15, 50931 Köln. Telefon: (02 21) 4 70-2518; Fax: (02 21) 4 70-2974; E-Mail: [email protected]; Internet: http://www.uni-koeln.de/kzfss/ Die KZfSS wird u. a. in den folgenden Informationsdiensten erfasst: Social Science Citation Index und Current Contents des Institute for Scienti(cid:191) c Information; sociological abstracts; psychological abstracts; Bulletin signalétique; prd, Publizistikwissenschaftlicher Referatedienst; SRM, social research methodology abstracts; SOLIS, Sozialwissenschaftliches Literaturinformationssystem; Literaturdatenbank PSYNDEX; Juris-Literaturdatenbank; KrimLit u. a. m. Springer VS | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Abraham-Lincoln-Straße 46 | 65189 Wiesbaden Amtsgericht Wiesbaden, HRB 9754, USt-IdNr. DE811148419 www.springer-vs.de Geschäftsführer: Armin Gross, Joachim Krüger, Dr. Niels Peter Thomas Editorial Director Social Sciences & Humanities: Dr. Andreas Beierwaltes Gesamtleitung Anzeigen und Märkte: Armin Gross Kundenservice: Springer Customer Service Center GmbH; Springer VS-Service; Haberstr. 7, 69126 Heidelberg; Telefon: +49 (0)6221/345-4303; Telefax: +49 (0)6221/345-4229; Montag bis Freitag 8.00 Uhr bis 18.00 Uhr; E-Mail: [email protected] Mediaberatung: Yvonne Guderjahn, Telefon (06 11) 78 78-155; Telefax (06 11) 78 78-296; E-Mail: [email protected] Anzeigendisposition: Monika Dannenberger, Telefon (06 11) 78 78-148; Telefax (06 11) 78 78-443; E-Mail: [email protected] Anzeigenpreise: Es gelten die Mediadaten vom 01.10.2014 Bezugsmöglichkeiten 2015: Auskünfte zum Bezug der Zeitschrift erteilt der Kundenservice Zeitschriften: E-Mail: [email protected] Jährlich können Sonderhefte erscheinen, die nach Umfang berechnet und den Abonnenten des laufenden Jahrgangs mit einem Nachlass von 25% des jeweiligen Ladenpreises geliefert werden. Bei Nichtgefallen können die Sonderhefte innerhalb einer Frist von 3 Wochen zurückgegeben werden. Jedes Abonnement Print und Online beinhaltet eine Freischaltung für das KZfSS-Archiv. Der Zugang gilt ausschließlich für den einzelnen Empfänger des Abonnements. © Springer VS | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Springer VS ist Teil von Springer Science+Business Media. Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrover(cid:191) lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Crest Premedia Solutions, Pune, India Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. ISSN 0023-2653 Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (Internet) ISSN 1861-891X Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Sonderheft 55/2015 Inhaltsübersicht Einleitung Karsten Hank · Michaela Kreyenfeld „The study of population offers something for everyone“. Forschung zu Fertilität, Migration u nd Mortalität an der Schnittstelle von Demografie und Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I Fertilität und Partnerschaft Anette Eva Fasang I ntergenerationale Fertilitätstransmission in Ost- und Westdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Karsten Hank · Johannes Huinink R egional Contexts and Family Formation: Evidence from the German Family Panel . . . . . . . 41 Michaela Kreyenfeld E conomic Uncertainty and Fertility . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Jan Eckhard · Johannes Stauder · Daniel Wiese D ie Entwicklung des Partnermarkts im Längsschnitt – Alters- und Kohortenunterschiede . . . 81 II Migration und Mobilität Michael Wagner · Clara H. Mulder S patial Mobility, Family Dynamics, and Housing Transitions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Sandra Krapf · Katharina Wolf Persisting Differences or Adaptation to German Fertility Patterns? First and Second Birth B ehavior of the 1.5 and Second Generation Turkish Migrants in Germany . . . . . . . . . . . . . . . 137 Herbert Brücker Migration und Finanzkrise. Eine quantitative und strukturelle Analyse d er Umlenkung von Wanderungsströmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 III Mortalität und Morbidität Rainer Unger · Klaus Giersiepen · Michael Windzio Pflegebedürftigkeit im Lebensverlauf. Der Einfluss von Familienmitgliedern und Freunden als Versorgungsstrukturen auf die funktionale Gesundheit u nd Pflegebedürftigkeit im häuslichen Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Gabriele Doblhammer · Thomas Fritze M onth of Birth and Dementia Late in Life . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Eva U. B. Kibele · Sebastian Klüsener · Rembrandt D. Scholz Regional Mortality Disparities in Germany. Long-Term Dynamics and Possible D eterminants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Christina Bohk · Roland Rau Impact of Economic Conditions and Crises on M ortality and its Predictability . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 IV Demografischer Wandel und Wohlfahrtsstaat Martin Brussig D emografischer Wandel, Alterung und Arbeitsmarkt in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Bernhard Ebbinghaus Demografische Alterung und Reformen der Alterssicherung in Europa – P robleme der ökonomischen, sozialen und politischen Nachhaltigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Katrin Prinzen A ttitudes Toward Intergenerational Redistribution in the Welfare State . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 V Soziobiologie und Biodemografie Martin Diewald · Tina Baier · Wiebke Schulz · Reinhard Schunck Status Attainment and Social Mobility. How can Genetics Contribute to an U nderstanding of their Causes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Melinda C. Mills · Felix C. Tropf T he Biodemography of Fertility: A Review and Future Research Frontiers . . . . . . . . . . . . . . . 397 Annette Baudisch P erspectives on the Biodemography of Longevity and Aging . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Köln Z Soziol (2015) (Suppl) 67:1–9 DOI 10.1007/s11577-015-0315-8 „The study of population offers something for everyone“ Forschung zu Fertilität, Migration und Mortalität an der Schnittstelle von Demogra(cid:191) e und Soziologie Karsten Hank · Michaela Kreyenfeld © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015 Zusammenfassung Obwohl es zahlreiche inhaltliche Schnittstellen zwischen Gegenstandsbereichen der Soziologie und der Demogra(cid:191) e gibt, hat sich in Deutsch- land bislang keine Bevölkerungssoziologie, im Sinne einer in den USA schon früh institutionalisierten „Social Demography“, etablieren können. In diesem einleiten- den Beitrag des vorliegenden Sonderhefts der K ölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie zeigen wir zunächst die Anknüpfungspunkte beider Disziplinen auf. Anschließend stellen wir die konzeptionelle und inhaltliche Struktur des Heftes vor: Auf Untersuchungen zu den drei klassischen demogra(cid:191) schen Kernbereichen „Fertilität und Partnerschaft“ (Teil I), „Migration und Mobilität“ (Teil II) sowie „Mortalität und Morbidität“ (Teil III) folgen Beiträge zum Verhältnis von „Wohl- fahrtsstaat und demogra(cid:191) schen Wandel“ (Teil IV) sowie zur aktuellen Forschung im Bereich der „Soziologie und Biodemogra(cid:191) e“ (Teil V). Schlüsselwörter Demogra(cid:191) e · Soziologie · Bevölkerungssoziologie · Soziale Demogra(cid:191) e K. Hank ( (cid:13) ) Institut für Soziologie und Sozialpsychologie , Universität zu Köln , Greinstr. 2 , 50939 Köln , Deutschland E-Mail: [email protected] M. Kreyenfeld Hertie School of Governance & Max-Planck-Institut für demogra(cid:191) sche Forschung , Konrad-Zuse-Str. 1 , 18057 Rostock , Deutschland E-Mail: [email protected] 1 3 K. Hank, M. Kreyenfeld (Hrsg.), Social Demography, Forschung an der Schnittstelle von Soziologie und Demografi e, DOI 10.1007/978-3-658-11490-9_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015 2 K. Hank, M. Kreyenfeld „The study of population offers something for everyone“ Research on Fertility, Migration, and Mortality at the Intersection of Demography and Sociology Abstract Despite a signi(cid:191) cant overlap between sociology and demography, “soci- ology of population” is not well-established in Germany yet. This is very distinct from the development in the US where research at the intersection of sociology and demography is united under the umbrella of “social demography”. This introductory chapter of this KZfSS Special Issue (cid:191) rst explores the synergies of both disciplines. We then present the special Issue’s content of the volume. It is structured along demography’s core (cid:191) elds of “Fertility and Partnership” (Section I), “Migration and Mobility” (Section II) and “Mortality and Morbidity” (Section III). The volume contains furthermore a section on “Welfare State and Demographic Change” (Sec- tion IV) as well as cutting-edge research in the realm of “Sociology and Biodemo- graphy” (Section V). Keywords Demography · Sociology · Sociology of population · Social demography The study of population offers something for everyone: the daily dramas of sex and death, politics and war; the interlacings of individuals in all their collectivities; the confrontations of nature and civilization, […] self-interest and altruism. (Preston 1987 :620 (cid:237) 21) 1 Zum Verhältnis von Demogra(cid:191) e und Soziologie „ Demography: the statistical study of human populations“ , so hieß es zeitweise auf dem Umschlag von D emography , der weltweit führenden, von der Population Asso- ciation of America (PAA) herausgegebenen Zeitschrift in diesem Fachgebiet. Nicht die theoretische, sondern die statistische Analyse der Bevölkerung ist demnach der Kernbereich der Demogra(cid:191) e. Bis heute ist jedoch umstritten, ob die Demogra(cid:191) e sich allein über den Bereich der formalen Demogra(cid:191) e, die auf die mathematische und statistische Modellierung von Bevölkerungsprozessen beschränkt ist, de(cid:191) nieren kann (Land et al. 2 005; Smith 1 992; Caldwell 1 996) . De facto hat sich die demo- gra(cid:191) sche Forschung gerade in den USA zu einer offenen Wissenschaft entwickelt, die ganz selbstverständlich eine Liaison mit anderen Wissenschaftszweigen eingeht. Neben der E conomic Demography hat sich dort relativ früh der Teilbereich der S ocial Demography (Hirschman und Tolnay 2 005; Konietzka und Geisler 2 008) etabliert, die an der Schnittstelle von Soziologie und Demogra(cid:191) e verortet ist. Die Demogra(cid:191) e im engeren Sinne erscheint als eine „datenlastige“ und „theorie- schwache“ Wissenschaft. Im Bereich der Mortalitätsforschung stellen beispielsweise Hummer et al. (1 998, S. 559) dar, wie auf Basis demogra(cid:191) scher Methoden Trends präzise abgebildet werden können, jedoch letztendlich das Instrumentarium fehlt, aus den Daten kausale Schlussfolgerungen zu ziehen: „they show patterns and trends, but the data only allow for speculations on the reasons why patterns exist“. Besonders deutlich wird der Mangel an einem theoretischen Gerüst am ein(cid:192) ussreichen Modell 1 3 „The study of population offers something for everyone“ 3 des demogra(cid:191) schen Übergangs, das die historische Entwicklung von einer Gesell- schaft mit hohen Geburten- und Sterbeziffern zu einer Bevölkerung mit niedrigen Fertilitäts- und Sterbeziffern beschreibt. Selbst von vielen Demografen wird dieses Modell als „a non-theory to be dismissed as an unproven generalization“ (Kirk 1996 , S. 361) bezeichnet. Doch gerade an der Schwäche eines solchen makrotheoretischen Modells des demogra(cid:191) schen Wandels zeigt sich, welchen fruchtbaren Beitrag sozio- logische Handlungstheorien und Erklärungsmodelle zum Verständnis demogra(cid:191) - scher Prozesse leisten können (siehe bspw. das von Huinink (2 000) vorgeschlagene Mehrebenenkonzept demogra(cid:191) schen Wandels). Es ist gerade die Theorieschwäche der Demogra(cid:191) e, welche die anderen Wissenschaften dazu einlädt, demogra(cid:191) sche Prozesse und Ereignisse theoretisch zu fundieren und einzuordnen. V or diesem Hintergrund ist es auch nicht verwunderlich, dass in den einschlägigen bevölkerungswissenschaftlichen Handbüchern routinemäßig Kapitel enthalten sind, in denen ökonomische oder soziologische Theorien zusammengefasst werden, mit denen das Fertilitäts-, Nuptialitäts-, Mobilitäts- und Migrationsverhalten untersucht werden können (Müller et al. 2 000; Poston und Micklin 2 005) . Hier zeigt die Demo- gra(cid:191) e ihre Offenheit, sich die Potenziale verschiedener (sozial-)wissenschaftlicher Ansätze für ihre Zwecke nutzbar zu machen. Die „Theorieschwäche“ der Demo- gra(cid:191) e macht das Fach für die angrenzenden Fachgebiete interessant, und so scheinen die klaren Trennlinien zwischen demogra(cid:191) scher, ökonomischer und soziologischer Forschung zu verschwimmen: „It is often dif(cid:191) cult to draw a precise line between demographers conducting population studies research and disciplinary researchers who happen to use demographic data“ (Hirschman und Tolnay 2005 , S. 421). 1.1 Bevölkerungssoziologie in Deutschland I n Deutschland gibt es, im Unterschied zu den USA, keine etablierte Bevölkerungsso- ziologie. Dies zeigt sich zum einen daran, dass es, bis auf wenige Ausnahmen (Bam- berg und Rostock, seit 2015 auch Köln) noch heute kaum eine durch Professuren und/oder Studiengänge institutionalisierte Bevölkerungsforschung an den Universi- täten gibt. Es zeigt sich zudem daran, dass es weder in der Deutschen Gesellschaft für Demogra(cid:191) e (DGD) noch in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) eigen- ständige, der Bevölkerungsforschung gewidmete Arbeitskreise oder Sektionen gibt. So ist die Bevölkerungssoziologie in der DGS eher als „Querschnittssoziologie“ prä- sent, die in den Sektionen „Familiensoziologie“, „Altern(n) und Gesellschaft“ und „Migration und ethnische Minderheiten“ abgehandelt wird. O bwohl die Bevölkerungssoziologie in Deutschland kaum institutionalisiert ist, sind gerade in der jüngeren Vergangenheit in Deutschland einschlägige Studien an der Schnittstelle von Soziologie und Demogra(cid:191) e entstanden: Neben zwei Sonder- heften der KZfSS zur „Soziologie der Gesundheit“ (Wendt und Wolf 2006 ) sowie zum Thema „Migration und Integration“ (Kalter 2008 ) sei hier vor allem auf die neu erschienen Lehr- und Handbücher zur Bevölkerungssoziologie verwiesen (Höp(cid:192) in- ger 2012 ; Niephaus 2012 ; Niephaus et al. 2015 ; siehe auch Schröder und Feldhaus 2 010) . Dennoch stellt dies nach wie vor eine relativ junge Entwicklung dar. Anders als die in den USA spätestens seit den 1970er Jahren etablierte „Social Demogra- 1 3 4 K. Hank, M. Kreyenfeld phy“, blieb die Demogra(cid:191) e lange Zeit außerhalb des Erkenntnisinteresses der Sozio- logie in Deutschland (z. B. Henßler und Schmid 2007 ). E in Grund für die zögerliche Annäherung beider Disziplinen liegt sicherlich im problematischen Verhältnis weiter Teile der deutschen Bevölkerungswissenschaft zum Nationalsozialismus (vgl. hierzu ausführlich Mackensen 2004 ; Mackensen et al. 2009 ). Dies mag auch ein Anlass dafür gewesen sein, dass etwa „familiendemogra(cid:191) - sche Fragen […] zu generativem Verhalten und zur Reproduktion der Bevölkerung sowie zur Familiendynamik lange Zeit in der deutschen Familiensoziologie keine Rolle gespielt haben. […] Reproduktive Funktionen von Familien wurden in der deutschen Soziologie […] zunächst vor allem als familiale Sozialisation der Kinder unter verschiedenen sozialisationstheoretischen Perspektiven […] bearbeitet“ (Nuth- mann 2 007, S. 2). Auch über den engeren Rahmen der Familiensoziologie hinaus galt die Bevölkerungswissenschaft hierzulande laut Karl Ulrich Mayer ( 1989 , S. 257) jedoch lange als „etwas Vor-Soziologisches, kategorial Unentschlossenes: etwas für den Sozialkundeunterricht“, eine Auffassung, die zu einem „Wirklichkeitsverlust und […] einer selbstverschuldeten Eingrenzung des Erklärungshorizonts“ der deutschen Soziologie geführt habe. Anfänglich waren es vor allem Nationalökonomen wie Brentano ( 1909 ) oder Mombert (1 907) , die sich aus einer sozialpolitischen Perspektive heraus mit demo- gra(cid:191) schen Verhaltensweisen auseinandersetzen. An diese Tradition knüpften später vor allem „gelernte“ Volkswirte wie Heinz Lampert ( 1996 ), Max Wingen ( 1997 ) oder Herwig Birg ( 2001 ) an. Nur wenige Soziologen, darunter vor allem Franz-Xaver Kaufmann (1 960, 2 005) leisteten eigenständige Beiträge, indem sie das Zusammen- spiel von sozialpolitischen Rahmenbedingungen, kulturellen Kontexten und demo- gra(cid:191) schen Entwicklungen zum Kern ihrer Forschung machten. Letztendlich blieben jedoch demogra(cid:191) sche Fragestellungen, wie bspw. der Mitte der 1960er Jahre ein- setzenden Geburtenrückgang, außerhalb des Erkenntnisinteresses soziologischer Forschung in Deutschland. Die bundesrepublikanische Bevölkerungsforschung1 , einschließlich der Arbeit des 1973 gegründeten Bundesinstituts für Bevölkerungs- forschung, fand lange Zeit nur im Nahbereich der amtlichen Statistik statt (z. B. Höhn et al. 1988 ). Eine entscheidende Neuausrichtung erhielt die Bevölkerungssoziologie in den 1980er Jahren mit der wachsenden Verfügbarkeit von Mikrodaten (Mayer 1 990) . Die Analyse amtlicher Makrodaten (wie der amtlichen Geburten-, Heirats- und Mortalitätsziffern) blieb Kernbereich der Arbeiten von Demografen, während die Mikrodatenanalyse demogra(cid:191) scher Prozesse sich zunehmend zu einer Domäne der soziologischen Forschung entwickelte. Gerade die Familiensoziologie bekam durch die breite Verfügbarkeit von Lebenslaufdaten neue Impulse. Demogra(cid:191) sche Prozesse, wie die Familiengründung und -erweiterung, sowie Eheschließung, die Trennung und Scheidung konnten dezidiert im Lebenslauf verortet werden und mit anderen Variablen, wie Bildung oder Herkunft, die in den amtlichen Daten bislang nicht ver- fügbar waren, verknüpft werden (Huinink 1995; Wagner 1997 ). Es offenbarten sich damit neue Möglichkeiten, demogra(cid:191) sche Verhaltensweisen aus soziologischer Per- spektive empirisch zu erforschen. Gerade der Lebenslaufansatz, der sich in Tandem 1 Vgl. Karlsch ( 2009 ) zur demogra(cid:191) schen Forschung in der DDR. 1 3