„Si fier tornei“: Benoîts Roman de Troie und die höfische Kultur des 12. Jahrhunderts Solveig Kristina Malatrait „Si fier tornei“: Benoîts Roman de Troie und die höfische Kultur des 12. Jahrhunderts Hamburg University Press Verlag der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky Impressum und Bildnachweis Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Die Online-Version dieser Publikation ist auf den Verlagswebseiten frei verfügbar (open access). Die Deutsche Nationalbibliothek hat die Netzpublikation archiviert. Diese ist dauerhaft auf dem Archivserver der Deutschen Nationalbibliothek verfügbar. Open access über die folgenden Webseiten: Hamburg University Press – http://hup.sub.uni-hamburg.de/HamburgUP_Malatrait_Roman Archivserver der Deutschen Nationalbibliothek – http://www.d-nb.de/netzpub/ © 2011 Hamburg University Press, Verlag der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, Deutschland Produktion: Elbe-Werkstätten GmbH, Hamburg, Deutschland http://www.ew-gmbh.de ISBN 978-3-937816-86-9 (Printversion) Gestaltung des Covers: Benjamin Guzinski, Hamburg Abbildung auf dem Cover unter Verwendung einer Miniatur aus: Staats- und Universi- tätsbibliothek Hamburg, Cod. in scrin. 151, Historiae Romanorum, fol. 22r, Die Zerstö- rung Trojas und der Tod des Priamus und der Polyxena Veröffentlicht mit Unterstützung der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung Inhalt 1 Einleitung: neue Perspektiven auf einen roman antique .................................. 7 2 Zur Einführung: Benoîts Roman de Troie ............................................................... 13 2.1 Benoît de Sainte-Maure und der erste Trojaroman des Mittel alters 13 2.2 Die Hypotexte des Roman de Troie: Diktys und Dares 18 2.3 Die Frage der literarischen Gattung 24 3 Reduktion und Expansion: textuelle Transformationen, Transkulturation und der Autor ................................................................................................................ 31 3.1 Diktys’ Spiel mit der epischen Tradition 32 3.2 Dares’ Schrumpfstufe der epischen Handlung 35 3.3 Die Expansion: zum Prozess der Transkulturation im Mittelalter 37 3.4 Benoît als Erzähler: Inszenierung der narratio und Neubestim mung der Autorschaft 45 4 Das „Wuchern“ der Ekphrasis: Sinn-Freiheit und Sinn konstitution ............. 51 4.1 Die Ekphrasis und die Poetik der Überwältigung 53 4.2 Benoîts descriptio Troiae und der mittelalterliche Antike-Diskurs 62 4.3 Die symbolische Idealität der Chambre de Beautés: die Beschreib ung als Ort der Reflexion 69 4.4 Die descriptio als Ort der Fiktion 73 5 Die Liebe ist ein Spiel: fin’amor im Roman de Troie ........................................... 81 5.1 Die fin’amor als Lebensart: Höfische Kultur und Inszenierung der Liebe im 12. Jahrhundert 84 5.2 Désir als Movens der Geschichte: von Medea zu Heleine 87 5.3 Amour courtois und weibliche Natur: Briseïdas Liebesverrat 91 5.4 Narcisus sui: Achillès und die Aporie der fin’amor 97 6 Inhalt 6 Der Krieg als „dolorose joste“ ................................................................................. 107 6.1 Die epische Tradition als Erklärungsmodell 107 6.2 Benoît der Schlachtenmaler: Ästhetik der Kumulation 113 6.3 Die Repräsentation des Ritters 116 6.4 Das Turnier als Simulation des Krieges 124 6.5 Die Ambivalenz des Krieges im Roman de Troie 128 7 Anachronismen und die Episteme des Mittelalters ....................................... 137 7.1 Die Inszenierung der Antike bei Benoît 140 7.2 Notwendige Anachronismen des Kulturtransfers 142 7.3 Strukturelle Anachronismen: Mechanismen der Sinnkonstitution 144 7.4 Jenseits des Anachronismus: die antike Wunderwelt 148 8 Der Roman de Troie als Poetik der Kultur des 12. Jahrhunderts .................. 151 Literaturverzeichnis .......................................................................................................... 155 Editionen 155 Sekundärliteratur 156 Über die Autorin 166 1 Einleitung: neue Perspektiven auf einen roman antique Wenn Baudry de Bourgueil, einer der Wegbereiter der Renaissance des 12. Jahrhunderts, um 1107 die Kemenate der Adele, Gräfin von Blois und Tochter des Eroberers von England, als idealen Ort der Bild ung beschreibt, dann darf auf den Wandteppichen neben der biblis chen Geschichte, der Eroberung Englands und den antiken Göttern die Darstellung Trojas nicht fehlen:1 Sie ist selbstverständlicher Teil des gelehrten Wissens, das in dieser Zeit schnell an Prestige gewinnt. Die Aneignung der Antike ist jedoch von einem ambivalenten Gefühl einer zumindest ästhetischen Unterlegenheit begleitet, das der von Johannes von Salisbury angeführte Vergleich formu- liert, eines der am häufigsten zitierten Bilder des Mittelalters: Dicebat Bernardus Carnotensis nos esse quasi nanos gigan tum umeris insidentes, ut possimus plura eis et remotiora videre, non utique pro- prii visus acumine, aut eminentia cor poris, sed quia in altum subvehi- mur et extollimur magnitu dine gigantea. (Joh. v. Salisbury, Metalogicon, III, 4, 46–50) Bernhard v. Chartres sagte immer, dass wir sozusagen Zwerge seien, die auf den Schultern von Riesen sitzen, so dass wir mehr als sie und weiter sehen können, nicht etwa aufgrund der Schärfe unseres Blicks, oder der Größe unse- res Körpers, sondern weil wir in die Höhe erhoben werden durch ihre gigan- tische Größe.2 Die Verehrung der Antike, die aus dieser Vorstellung spricht, hat auch im 19. Jahrhundert kaum an Kraft eingebüßt; und wenn Homer der Riese ist, auf dessen Schultern Benoît zu stehen scheint, fühlt sogar ein Gelehrter sich verpflichtet, sich für die Beschäftigung mit dem epigonalen Zwerg geradezu zu entschuldigen: 1 Vgl. Baudry de Bourgueil, carmen 134. 2 Die lateinischen und altfranzösischen Zitate werden der besseren Lesbarkeit, aber auch der Deutlichkeit der Argumentation halber im gesamten Text über setzt. Wo sie nicht eigens gekennzeichnet sind, stammen die Übersetzungen wie hier von der Verfasserin. 8 Einleitung: neue Perspektiven auf einen roman antique Quelque déplacé que puisse paraître cet enthousiasme, quel que cour- roux que puisse inspirer aux fidèles d’Homère ce succès de l’idolâtrie, il avait son utilité.3 Wenn Aristide Joly hier den Homer-Gläubigen gegenüber das mittela lterliche Werk als „Idolatrie“ darstellt und damit den Homer-Kult des 19. Jahrhun- derts zu Recht (cum grano salis?) als Quasi-Religion mar kiert, dann bezieht er sich auf die schockierende Tatsache, dass Benoît eben nicht Homer oder zumindest eine Ilias Latina benutzt, sondern ein dünnes Büchlein, über das die Forschung auch heute noch harsche Urteile fällt: Dares’ Acta diurna.4 Joly entschuldigt sich für die Beschäftigung mit Benoît unter Ver weis auf dessen Erfolg. Und tatsächlich zeigt die große Anzahl von Handschriften und ihre Verbreitung,5 dass der Roman de Troie sehr schnell in ganz Europa gelesen, abgeschrieben und umgearbeitet wur de. Seine Beliebtheit unter den Zeitgenossen wie auch die reiche spä tere Rezeption6 rechtfertigen in der Tat das Interesse für das Werk. Jolys umfangreiche Monographie zum Werk ist dennoch bis heute die ein- zige geblieben. Sie privilegiert die Perspektive der Rezeptions forschung, wel- che auch die meisten der im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert beliebten vergleichenden Untersuchungen zu Benoît und seinen Quellen einnehmen.7 Bereits aus diesem Grunde scheint es nicht vermessen, nach beinahe 140 Jahren eine Monographie zum Roman de Troie vorzulegen, zumal eine, die den Paradigmenwechsel der Wissenschaft berücksichtigt und eine kul- turwissenschaftliche Perspektive auf das Werk entwickelt. Ein Blick auf die Forschungslage bestätigt das Desiderat, denn insgesamt ist die Forschung zum Roman de Troie nicht so reich, wie man ann ehmen könnte: Die maßgeb- 3 A. Joly, 1870–71, S. 61. 4 Zum Titel, der oft noch mit historia de excidio Troiae angegeben wird; vgl. u. Anm. 56. 5 Es sind 28 vollständige Handschriften und 15 Fragmente bekannt; vgl. U. Schön ing, 1991, S. 53–55. Unter den Manuskripten befinden sich 5 in Italien, 3 in England, 2 in Russland, eines in Österreich und 17 in Frankreich. 6 Vgl. J.-D. Müller, 2004, für einen Überblick über die deutschen Trojaromane sowie den einschlägigen Band von H. Brunner, 1990. 7 So benutzt Körting 1874 den Roman de Troie nur, um Lücken im erhaltenen Text der Acta diurna aufzuspüren, Greif hingegen liest die Ephemeris wie die Acta in seiner „Antwort“ auf Körting von 1886 nur als Quellen des Roman de Troie; die Reihe ließe sich beliebig erweitern.