In die Sammlung von "Monographien aus dem Gesamtgebiete der Neu rologie und Psychiatrie" sollen Arbeiten aufgenommen werden, die Einzel gegenstände aus dem Gesamtgebiete der Neurologie und Psychiatrie in mono graphischer Weise behandeln. Jede Arbeit bildet ein in sich abgeschlossenes Ganzes. Das Bedürfnis ergab sich einerseits aus der Tatsache, daß die Redaktion der "Zeitschrift für die gesamteN eurologie und Psychiatrie" wiederholt genötigt war, Arbeiten zurückzuweisen nur aus dem Grunde, weil sie nach Umfang oder Art der Darstellung nicht mehr in den Rahmen einer Zeitschrift paßten. Wenn diese Arbeiten der Zeitschrift überhaupt angeboten wurden, so beweist der Umatand andererseits, daß für viele Autoren ein Bedürfnis vorliegt, solche Monographien nicht ganz isoliert erscheinen zu lassen. Es stimmt das mit der buchhändlerischen Erfahrung, daß die Verbreitung von Monographien durch die Aufnahme in eine Sammlung eine größere wird. Die Sammlung wird den Abonnenten der "Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie" und des "Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie" zu einem Vorzugspreise geliefert. Angebote und Manuskriptsendungen sind an einen der Herausgeber, Professor Dr. 0. Foerster, Bresla.u, und Professor Dr. K. Wilmanns, Heidel· berg, erbeten. MONOGRAPHIEN AUS DEM GESAMTGEBIETE DER NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE HERAUSGEGEBEN VON 0. FOERSTER-BRESLAU UND K. WILMANNS-HEIDELBERG HEFT 42 SELBSTSCHILDERUNGEN DER VERWIRRTREIT DIE ONEIROIDE ERLEBNISFORM PSYCHOPATHOLOGISCH-KLINISCHE UNTERSUCHUNGEN VON PRIVATDOZENT DR. W. l\'IA YER-GROSS ASSISTENZARZT AN DER PSYCHIATRISCHEN KLINIK IN HEIDELBERG MIT 8 ABBILDUNGEN IM TEXT Springer-Verlag Berlin Heidelberg GmbH 1924 AUS DER PSYCHIATRISCHEN KLINIK ZU HEIDELBERG ISBN 978-3-662-34220-6 ISBN 978-3-662-34491-0 (eBook) DOI 10.1007/978-3-662-34491-0 Softcover reprint of the hardcover lst edition 1924 ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER tJBERSETZUNG IN FREMDE SPRACHEN, VORBEHALTEN. Vorwort, Der Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung liegt in der Kasuistik. Der Ausarbeitung, Vervollständigung und Darbietung der mitgeteilten Fälle war unsere erste und besondere Sorge zugewandt. Die Mitteilung der Lebensläufe und Krankengeschichten erfolgt nach den Grundsätzen, die seinerzeit Jaspers 1) for mulierte, dem die Arbeit auch sonst in jeder Hinsicht Anregungen verdankt, dessen methodischen Grundsätzen sie vor allem folgt (Allg. Psychopathologie, 2. Aufl.). Von Jaspers wurde auch zuerst eindringlich darauf hingewiesen, wie wichtig für die Vertiefung unserer klinischen Forschung die Krankengeschichten geistig hochstehender, differenzierter Menschen sind. Tatsächlich erweist sich ja unsere an den Durchschnittskranken der Kliniken und Anstalten gebildete Diagnostik bei den Kranken höherer Stände, z. B. in den Privat anstalten, besonders häufig als unzureichend. Zu den psychopathalogischen und klinisch-diagnostischen Aufgaben, die sich daraus ergeben, soll hier einiges bei getragen werden. Die umfassende Betrachtung des lebendigen Krankheitsgeschehens in allen seinen ursächlichen Verzweigungen, vor allem auch den konstitutionellen, wie sie wohl an vielen Orten, jedenfall in der Heidelberger Klinik, seit langem üb lich ist, hat neuerdings durch KretRchmer und besonders durch Birnbaum eine Art systematische Legitimierung erhalten. Diese fällt zusammen mit einer konstitutions-pathologischen Ära in der übrigen Medizin. Hier wie dort ent standen eine Fülle theoretischer Ausführungen über erbwissenschaftliche und Konstitutionsfragen, die klinische Forschung erhielt einen fruchtbaren Anstoß, überzeugendes Tatsachenmaterial jedoch ist bisher verhältnismäßig wenig bei gebracht worden. Und doch erweckt die Fülle der Veröffentlichungen über Grundsätzliches erneut das Bedürfnis, die Erfahrung zu befragen, nicht nur kursorisch, wo sie uns ein Beweisstück ad hoc anbietet, sondern auch wo sie sich unsern Kon struktionen nicht ohne weiteres einfügt. Unsere Darstellung knüpft aber zugleich bewußt an die klinische Literatur vor dieser letzten Wendung der Forschungsrichtung an und möchte versuchen, auch ältere Beobachtungen in der heutigen Beleuchtung neu zu sehen. Wir 8ind nämlich der Meinung, daß die in der Psychiatrie leider fast zur Regel ge wordene Gewohnheit, beim Auftauchen eines neuen Gesichtspunktes das Ganze von vorn anzufangen und die Vergangenheit über Bord zu werfen, dieser Mangel an stetiger Kontinuität, nicht mehr mit der "Jugend" unserer Wissenschaft entschuldigt werden kann. - Dem Direktor der Psychiatrischen Klinik, Herrn Prof. W i 1m ann s, verdanke ich sowohl das Material der Arbeit als auch ihre Förderung in allen einzelnen Teilen durch verständnisvolle Beratung, anspornende Teilnahme und Entlastung von den Aufgaben des klinischen Tagesbetriebs. Heidel berg, im März 1924. Mayer-Groß. 1) Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie. Bd. 1, S. 367. 1910. Inhaltsverzeichnis. Erster Teil. Seite l. Kapitel. l. Der Fall Engelkens. - Die oneiroide Erlebnisform . . . . . . . l 2. Kapitel. l. Der Fall .Antonie Wolf. - a) Lebensgeschichte .A. W.s. - b) Selbst schilderung. - c) Die Familie. - 2. Zur Phänomenologie der Psychose und ihrer Beziehungen zur Persönlichkeit. - 3. Fragen der Heredität . . . 20 3. Kapitel. l. Forels Fall. - 2. Die schizophrenieähnlichen Symptome und die Bewußtseinsstörung. - 3. Bewußtseinsstörungen und Symptomatologie der "funktionellen" Psychosen. - 4. Die Bewußtseinsstörung in der oneiroiden Erlebnisform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 4. Kapitel. l. Klinkes Fall Martha Schmieder. - a) Lebensgeschichte. - b) Selbst schilderung. - 2. Vergleichende Betrachtung der Psychose M. Sch.s. - 3. Die Persönlichkeiten L. S. und M. Sch. . . . . . . . . . . . . . . . . 116 5. Kapitel. l. Der Fall Ignatius Chr. (Rychlinski, Pobiedin). - 2. Die Stellung der oneiroiden Erlebnisform zur .Amentia. - 3. Physiologische Probleme und Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 6. Kapitel. l. Der Fall Gast. - a) Die Familie. - b) Lebensgeschichte. - c) Selbstschilderung.-2. Die oneiroiden Zustände G.s und ihre Stellung inner halb seiner Psychosen. Psychogen-hysterische Reimengungen? - 3. Über die schizoiden Brüder G. und ihre .Abstammung . . . . . . . . . . . . . 189 Z w e i t e r Te i I. 7. Kapitel. 1. "Zur Differentialdiagnose der funktionellen Psychose". - 2. Der Fall Gisela Leniev. - a) Die Familie. - b) Lebensgeschichte. - c) Selbst schilderungen. - 3. Zur Erlebnisform der Verwirrtheitszustände G. L.s und zur Phänomenologie der Psychosen überhaupt.-4. Die diagnostische Stellung des Falles Leniev . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 8. Kapitel. 1. Der Fall Kreuznacher. - 2. Der Fall März. - 3. Rückblick und Ergebnisse im Umriß . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Erster Teil. Erstes Kapitel. Der Fall Engelkens. - Die oneiroide Erlebnisform. Der "Selbstbericht einer genesenen Geisteskranken", den Friedrich Engelken1) 1849 veröffentlichte, enthält die Schilderung einer Psychose, von welcher die vorliegende Untersuchung ihren Ausgang nehmen möge. Die Kranke, die dort mit einer ungewöhnlichen Gabe plastischer Darstellung ihre seelische Entwicklung und ihre Erlebnisse in der Krankheit schildert, war nach leichten Gemütsschwankungen in eine tiefe Depression verfallen, in der sie einen ernst haften Ertränkungsversuch machte. Nachdem er mißlungen war, setzte ruck artig ein lebendig beschriebener Stimmungsumschwung ein und damit die Psychose, die Engelken als "allgemeinen heiteren Wahnsinn" bezeichnet hat: ein manisches Bild mit Zügen, die von der klassischen Manie in vieler Hinsicht abweichen; diesen Zustand, der mit so vorzüglicher Eindringlichkeit in seinem subjektiven Verlauf dargestellt ist, gilt es, nach seinen wesentlichen Zügen phänomenologisch zu vergegenwärtigen. Wir möchten versuchen, dabei nicht auf dem üblichen Wege der Beschreibung der Einzelphänomene vorzugehen, sondern unser Interesse zunächst einmal auf den Gesamtzustand zu richten, der trotz der Mannigfaltigkeit und Fülle der einzelnen Erlebnisse irgendwie als ein einheitlicher erscheint. Die Erkennung der Gesamtzustände in ihrer größeren und geringeren Ein heitlichkeit und der Besonderheit ihrer Struktur ist von jeher die Grundlage einer unmittelbaren, "intuitiven" Diagnostik und Einordnung psychotischer Zustandsbilder gewesen. Die Psychopathologie hat sich, soweit sie phänomeno logisch verfuhr, bisher wenig mit diesen Einheitsbildungen beschäftigt, sie mußte sich zunächst den einzelnen Bestandteilen zuwenden und sie beschreiben. Zum Teil erklärt sich wohl daraus die relative, praktische Wirkungslosigkeit ihrer Aufstellungen auf die Klinik. Von der Beschäftigung mit Gesamtzuständen schreckte die Tatsache ab, daß ihre Einheitlichkeit oft mit außerpsychologischen, diagnostischen, hirnphysiologischen Theorien begründet wurde, von denen die theoriefeindliche Einstellung der Phänomenologie nichts wissen will. Aber das darf uns nicht dazu verleiten, weiter diese strukturellen Bildungen zu übersehen. In vielen Fällen ist der Gesamtzustand nicht nur eine Summe seiner Teile, auch nicht nur ein Nebeneinander dieser Teile, das durch verständliche, rationale oder außerpsychisch kausale Zusammenhänge zusammengehalten wird; sondern es handelt sich um Gebilde, deren Gliederung zu durchschauen erst die Möglichkeit auch der richtigen Einordnung der Teile ergibt. 1) Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie u. psych.-gerichtl. Med. Bd. 6, S. 586. Mayer-Groß. Verwirrtheit. 1 2 Der Fall Engelkens. Wählen wir als ein Beispiel pathologischer Einheitsbildung hier die Manie, so lassen sich zwei Momente aufweisen, aus denen die unmittelbar evidente Einheitlichkeit des Zustandes hergeleitet zu werden pflegt: einmal der lücken lose Übergang von dem Zustand normaler Fröhlichkeit mit gesteigertem Lebens gefühl über die hypomanische Verfassung zur ausgebildeten Manie; und zweitens die Rückführbarkeit aller Einzelerscheinungen auf die beherrschende Stimmungs grundlage. - Der Einheitscharakter eines psychotischen Gesamtzustandes wird sich wohl in vielen Fällen zu einem ähnlichen Vorkommnis im normalen seelischen Ablauf in Beziehung setzen lassen; damit ist er aber nicht erfaßt oder erklärt. Sondern die gleiche Frage ist an den normalen Zustand zu richten; dieser genetische Gesichtspunkt soll hier ausscheiden. Aber daß der besondere Stimmungscharakter alles Psychische in einer nur bildlich darstellbaren, nicht weiter rückführbaren Weise färbt, durchdringt, vereinheitlicht, das kennzeichnet letztlich den Zu stand als echte Manie. Damit ist nicht gemeint, daß der Affekt, wie man früher sagte, die anderen Symptome "verursache", auf keinen Fall lassen sich Ideen flucht, Ablenkbarkeit, Bewegungsdrang oder gar die Schlafstörung usw. aus der Heiterkeit kausal ableiten. Sondern wie die Gemütsverfassung das Gegen standsbewußtsein, Ichzuständlichkeit, Ausdrucksverhalten und die übrige Motorik gestaltet; das gibt den Ausschlag für die einordnende Beurteilung. In analoger Weise sind manche Zustände paranoischer Wahnerlebnisse um charakteristische, intentionale Akte, hysterische Psychosen um die unechte Einstellung des Wirkeu woliens und viele andere Symptombilder, besonders auch die sog. Bewußtseins trübungen, in eigenartiger Weise zentriert. Es ist hier nicht der Ort, dies im einzelnen durchzuführen; aber nur unter dieser Voraussetzung wird es begreiflich, daß wir aus einer Geste, einem Blick, wenigen Worten, einem Schriftstück den ganzen seelischen Querschnitt erfassen und erkennen können, so wie wir bei völlig anderer Einstellung, wenn wir darauf gerichtet sind, in den gleichen Merk malen die Einheit der Gesamtpersönlichkeit ergreifen1). Wenn wir also von dem bei Engelken beschriebenen Zustand sagten, er weiche von der "klassischen Manie" ab, so bedeutet das nicht, daß irgendein Teilsymptom des bekannten Bildes fehle und andere nicht zugehörige vorhanden seien, sondern es mangelt jene durchgängige Gestaltung unter dem Primat der besonderen Affektivität. Dennoch imponiert die Psychose als einheitlich. Wo ist das Charakteristicum dieser Geschlossenheit zu suchen, welche bewirkt, daß sich die seelische Verfassung der Kranken der auflösenden Arbeit widersetzt, so daß man beim Zerlegen in Einzelzüge den Eindruck gewinnt, daß man Orga nisches zerpflücke, das im Augenblick der Aufteilung sich verflüchtigt? Eine solche Zersprengung und Aufteilung des lebendigen psychischen Ge schehens ist ja die vielfach beklagte Voraussetzung jeder psychologischen Analyse. Sie ist in der Psychopathologie manchmalleicht und ohne erhebliche Widerstände zu vollziehen, leichter oft als in der Psychologie des Gesunden, wo die Isolierung stets das Leben gänzlich zu zerstören droht. Auf keinen Fall dürfen wir über 1) Den Beziehungen dieser Einheit der Person zu den Einheiten der Zustandsbilder, ihren Überschneidungen und Diskrepanzen nachzugehen, wäre eine reizvolle Aufgabe. Als eine dritte Einheitsbildung wäre dabei, neben Zustand und Persönlichkeit, die des "Bewußt seinsstroms" im Sinne von Ja mes zu berücksichtigen. Sein Verhalten in psychopathischen Zuständen harrt noch der Analyse. Die ·onoiroide Erlebnisform. 3 solche Einheitsbildungen, wenn sie uns begegnen, das einzelne beschreibend hinwegschreiten. Auf der Suche nach dem kennzeichnenden Merkmal der Einheitlichkeit in unserem Falle stoßen wir noch auf eine wichtige Vorfrage: Ist nicht vielleicht die hochwertige Darstellungsform mit ihrer eindringlichen Gestaltung des Stoffes als die Ursache des Eindrucks der inneren Geschlossenheit des Zustands bildes· anzusehen? Dieser Einwand führt in das Gebiet methodologischer Erwägungen, die bei der Benutzung solcher Selbstzeugnisse überhaupt an zustellen sind. Über die Wichtigkeit der Selbstschilderung als Quelle psycho pathalogischer Anschauung kann auf die Ausführungen von Jaspers verwiesen werden. Wie Gruhle1) jüngst einen geisteswissenschaftlichen Leserkreis auf die Wichtigkeit psychopathalogischer Einsichten für das Verständnis der Auto biographie hinwies, so können wir von den Historikern und Philologen manches über die kritische Verwertung von Selbstschilderungen lernen. Wir haben uns im folgenden bemüht, es nirgends an Kritik des Materials fehlen zu lassen und die sich bei dieser ergebenden Gestaltungsmerkmale wiederum psychologisch zu verwerten. -Dem Zweifel, daß die Einheitlichkeit der Psychose bei der Kranken Engelkens ein Produkt schriftstellerischer Formung sei, können wir mit dem Hinweis begegnen, daß dem Bericht selbst trotz aller Lebendigkeit irgend etwas Artistisches, irgendeine von außen herangebrachte künstlerische Maskierung völlig fehlt. Man hat im Gegenteil den Eindruck, daß die Darstellung mit der Eigenart und der Fülle des Erlebten ringt, um einfach berichtend ihrer Herr zu werden, wenn dies auch nicht geradezu ausgesprochen wird. - Engelken spricht bei der Erörterung der Diagnose von dem "vorherrschenden Symptome einer leidenschaftlichenLiebe zu einemjungen Manne": demnach wäre zu erwägen, ob sich nicht die Einheitlichkeit von einer inhaltlichen Beziehung herleite, der alle scheinbare Vielfältigkeit wechselnder Einzelinhalte sinnvoll zu geordnet ist. Die Kranke schildert, wie ihr im Beginn der Psychose plötzlich im Schlaf das Bild des vermeintlichen Geliebten vor Augen tritt und betont selbst: "Diese Idee hielt ich von jetzt an fest, ungeheuer fest." Und tatsächlich taucht bei zahlreichen Erlebnissen der Folgezeit der Gedanke an den Geliebten immer wieder auf, und das meiste, das sie erfährt und verarbeitet, wird zu ihm in Beziehung gebracht. "Jetzt konnte ich nicht aufhören, von ihm zu erzählen, alles zusammenzureimen, alles aufzuklären . . . Daß er mich beschütze und für mich sorge, war gewiß, nur konnte ich die Zeit nicht erwarten, ihn zu sehen . . . . Ich verlangte stürmisch, in die Stube gelassen zu werden, wo er sich be fände ... " Zweimal glaubte sie, zu einem Fest, einem Ball geführt zu werden, wo sie ihn sehen sollte . . . Vieles, was ihr begegnet, vor allem die Trennung, faßt sie als eine Prüfung auf, "ob wir füreinander paßten ... " "Ohne ihn ge sehen zu haben, konnte ich wederruhen noch rasten; man sollte von ihm sprechen, ... oder ich mußte vergehen. Z. bereitete mich vor, seinen Bruder zu sehen. Ich glaubte, er gäbe X. (dem Geliebten) nur diesen Namen, und erwartete ihn ... Noch immer sah ich den sehnliehst Erwarteten nicht, ich träumte nicht, zu oft hatte ich mit ihm gesprochen, er hatte mir die Hand gegeben, mein Haar ange- 1) Die Selbstbiographie als Quelle historischer Erkenntnis in: "Hauptprobleme der Soziologie". München 1923. 1* 4 Der Fall Engelkens. faßt, nun gar sah ich seine wohlbekannte Gestalt in bittender, demütiger Stellung vor meinen Augen ... " Sie müsse ihn, so war ihr zumute, erkämpfen, erringen, die Welt zuerst beglücken und dann, "hatte ich dies Werk ausgeführt, durch seinen Besitz glücklich sein". "Das Bild des Erlösers und seines verschmolzen ineinander, so rein und mild stand er vor mir, dann auch wieder als der Mörder seines Vaters, wie ein Verirrter, für den ich beten mußte." Sie hält ihn für den Verfasser eines Liedes, das ihr für sie gemacht schien. " ... Mein Haar schien mir das Band zwischen uns. ~Warf ich es ihm hin, so gab mir meine innere Stimme neue Gedanken ein, woran ich arbeiten mußte . . . Mit X. war ich indes immer in Verbindung, er gab mir am Fenster oder an der Tür irgendein Zeichen, was ich beginnen sollte, und stärkte mich zu Geduld ... " usw. So scheint in der Tat diese Liebesgesinnung für die Kranke selbst, zumal in der Rückschau, in der der Bericht abgefaßt ist, die Achse, um die sich das mannigfaltige Geschehen bewegt. Daß bestimmte, immer wieder auftauchende "Komplexe" gerade auch im Verlauf einer Manie besondere Beachtung ver dienen, darauf hat neuerdings Schilder hingewiesen1). Aber ist damit die einheitliche Geschlossenheit des Zustandsbildes schon völlig erklärt, müßten dann nicht Vorgänge, die mit der Liebe zu X. nicht in Verbindung stehen, völlig aus dem Rahmen fallen~ Oder reißt wirklich allein diese "Leidenschaft" das Erlebte in eine Atm03phäre, in deren Licht alle Vielfältigkeit verschwindet~ Mit dieser Frage wird bereits die Annahme einer inhaltlichen Einheit verlassen, das von der Liebesbeziehung auf die Welt des Erlebten ausstrahlende Gefühl wäre der Träger der Einheitlichkeit, das, was der Zerlegung am meisten trotzt. Wir versuchen es näher zu charakterisieren und werden uns folgerichtig zunächst den ausgesprochen manischen Komponenten des Stimmungsuntergrundes zu wenden. In klassischer Formulierung wird die Heiterkeit und das Glücks gefühl2) geschildert: "Es wurde mir unbeschreiblich wohl; von leichten Wolken wurde ich gehoben, es war, als winde sich mit jeder Minute der Geist mehr los aus seinen Banden, und ein namenloses Entzücken und Dankbarkeit nahm in meinem Herzen Platz . . . Es begann ein neu es, himmlisches Leben." Die Kranke war "unbeschreiblich heiter, sah ganz verklärt aus". Sie fühlte sich "wunderbar wohl, so vergnügt, und doch auch so natürlich". "Mein Zustand war damals beneidenswert . . . In meiner Seele empfand ich wahrhaft einen Vorgeschmack des Himmels ... eine übersprudelnde Fröhlichkeit behielt die Oberhand . . . ich war ein Kind, ich wollte das neu geschenkte Leben recht genießen ... " Trotz dieser berühmten Beschreibung der heiteren Stimmungsfarbe, die an anderen Stellen immer wieder durchbricht und auch als Gefühlscharakter auf die Gegenstände ausstrahlt ("Welt und Menschen lachen mich an ... jedes Gesicht erschien mir zur Unkenntlichkeit verschönert . . . wunderschön er schienen mir die Menschen, das Haus wie ein Feenpalast"), kann damit das 1) Vorstudien zu einer Psychologie der Manie. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie Bd. 68, S. 90. Die Folgerungen, dieS. aus solchen Beobachtungen für die Dynamik manischer Zustandsbilder zog, interessieFen hier nicht. 2) Über die Eigenart pathologischer Glücksgefühle vgl. die Dissert. des Verf.: Zeitschr. f. Pathopsychol. Bd. 2. Dazu kritisch: Rumke: Phänomenologisch en klinisch-psychiatr. Studie over Geluksgevoel. Dissert.: Leiden 1923. (Inzwischen in deutscher Sprache als Heft 39 dieser Monographien erschienen.)