Markus Klaus Sch(cid:228)ffauer scriptOralit(cid:228)t in der argentinischen Literatur Funktionswandel literarischer M(cid:252)ndlichkeit in Realismus, Avantgarde und Post-Avantgarde (1890-1960) • Freiburg FreiDok 2000 Freiburger Dokumentenserver (FreiDok): http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/ Inhalt Vorwort ................................................. 9 Einleitung ............................................... 11 Kapitel I Von der oralen Literatur zur literarischen Oralität ........ 21 1 Schrift, Schriftlosigkeit und kulturelle Überlegenheit ......... 21 2 Der Diskurs über Mündlichkeit-Schriftlichkeit .............. 28 2.1 Ante Derrida .......................................... 30 2.2 Derrida avant et après la lettre ............................ 42 2.3 Post Derrida .......................................... 45 Kapitel II scriptOralität, Literatur und Lateinamerika ............... 55 1 Eine historische Ausprägung des Logozentrismus: scriptOralität ......................................... 55 1.1 ab origine: Der kulturelle Ursprungsmythos ‘Oralität’ als Folge der scriptOralität ............................... 59 1.2 scriptOralität zwischen Kultur und Technik .................. 63 1.3 ex futuro: Die technisch-technologische Aufhebung der scriptOralität? ...................................... 68 2 scriptOralität, Logozentrismus und argentinische Literatur .... 69 2.1 Das Foucaultsche Lachen an der Grenze des Logozentrismus ..... 70 2.2 Derridas Utopia “hors de tout logocentrisme” ................. 73 2.3 Todorovs grammatologische These zur Eroberung Amerikas und die question de l’autre ............................... 77 6 Markus Klaus Schäffauer Kapitel III scriptOralität und Argentinität ........................... 93 1 Literarische Oralität — ein Überblick zum Forschungsstand .. 95 1.1 Ethnologie und Oralkultur ............................... 96 1.2 Linguistische Idealtypologie .............................. 97 1.3 Soziolinguistik ........................................ 99 1.4 Deskriptive Stilistik ................................... 103 1.5 Funktionalismus ...................................... 104 1.6 Dialogizität, Dekonstruktion und Diskursanalyse ............. 107 2 scriptOralität als Bestandteil des argentinischen Identitätsdiskurses ................................... 111 2.1 Woher kommt die Rede von der Argentinität? Alberdi, Sarmiento, Lugones, Rojas und Unamuno ............ 112 2.1.1 Identität als Defizit bei den Gründungsvätern der Nation Alberdi und Sarmiento ................................. 113 2.1.2 Selbstwahrnehmung als Fremdwahrnehmung des Anderen: argentinidad im Dialog zwischen Miguel de Unamuno und Ricardo Rojas ........................................ 116 2.1.3 Martín Fierro als ‘Bollwerk’ der Nation bei Lugones .......... 122 2.1.4 Die Gaucho-Poesie als Grundstein der Argentinität bei Ricardo Rojas ..................................... 126 2.2 Die Übertragung des scriptOralen Modells der habla gauchesca im urbanen criollismo ................. 132 Kapitel IV scriptOralität in der Konkurrenz der Stimmen des literarischen Realismus der Jahrhundertwende ....... 153 1 Fray Mocho und die Konstruktion des criollo — … tan difícil como escribir en el aire ................... 153 1.1 Ein Modellfall: “Entre gentes de confianza” ................. 155 1.2 Modell und Gegenmodell: criollismo costumbrista vs. criollismo popular ............... 162 1.3 Die Ordnung des Sprachwirrwarrs: Distribution und Abfolge der Register im Werk von Fray Mocho ........... 165 1.3.1 Der ‘Nebenbuhler’ cocoliche ............................ 166 1.3.2 Die Ablösung von der habla gauchesca .................... 173 1.3.3 Das Gastspiel des lunfardo .............................. 178 1.3.4 Die Stunde des criollo ................................. 182 1.3.5 Gattungsprobleme: Das Zaudern der späten Romane .......... 184 1.3.6 Die Logik der Kette von Übertragungen und Ersetzungen ....... 185 Inhalt 7 2 Der Kulturpessimismus der finisekularen scriptOralität in Teodoro Foronda (1896) von Francisco Grandmontagne .... 188 2.1 Zum Inhalt von Teodoro Foronda ......................... 193 2.2 Erzählerdiskurs, Voseo und Distribution der Register .......... 195 2.3 Ein polarisiertes Modell nach europäischem Vorbild? .......... 203 2.4 Die sprachlich-kulturelle Assimilation als Schlüssel zum Erfolg in der Neuen Welt ............................ 207 2.5 Die Mestizierung als Folge einer Überassimilierung ........... 212 2.6 Gaucho-Elend vs. populärer Gaucho-Kult ................... 215 2.7 Identitätsproblematik und scriptOralität .................... 217 2.8 Die scriptOrale Präfiguration in den Initialen ................ 219 2.9 scriptOralität als Warnung vor der verlockenden Stimme des Anderen ......................................... 220 Kapitel V Avantgardistische scriptOralität zwischen Boedo und Florida ............................. 225 1 Boedo vs. Florida ..................................... 232 2 Roberto Mariani und die Allianz zwischen sozialem Engagement und einfacher Sprache .............. 241 3 Arlt zwischen Boedo und Florida: “escribir mal” und “malas palabras” — ¿con qué nadie le ha pisado el poncho a Arlt? ..... 247 3.1 “escribir mal” auf sprachlicher Ebene ...................... 252 3.2 “escribir mal” auf narrativer Ebene ........................ 257 3.3 “escribir mal” auf diskursiver Ebene ....................... 261 4 Jorge Luis Borges zwischen criollo, español und arrabalero: “El arrabalero es un arroyo Maldonado de la lingüística” .... 265 4.1 Die Funktionsweise des criollismo anhand der orthographischen Modifikationen in El tamaño de mi esperanza (1926) .......... 269 4.2 Die scriptOrale Kontinuität in Borges’ Frühwerk von Martín Fierro zu “Hombre de la esquina rosada” .......... 273 8 Markus Klaus Schäffauer Kapitel VI Post-avantgardistische scriptOralität bei Jorge Luis Borges und Julio Cortázar ................ 283 1 Borges’ Ausweg aus dem Labyrinth des Logozentrismus: Die Fortschreibung der Differenz in der scriptOralen Heterotopie des Anderen............................... 284 1.1 Borges, Homer und die Schrift avant la voix ................. 284 1.1.1 Die Relativierung des Schrift-Telos in “Del culto de los libros” .. 285 1.1.2 Die Inversion des Modells im ethologischen Diskurs von “El informe de Brodie” ................................ 286 1.1.3 Das anti-teleologische Modell von “El inmortal” ............. 286 1.2 Borges, China und der scriptOrale Kontext der Foucaultschen Heterotopie ........................... 288 1.3 “Pierre Menard, autor del Quijote” — die Heterotopie des Foucaultschen Lachens ................. 292 1.4 Die ‘Zerr-Spiegelung’ der scriptOralität als Fortschreibung der Differenz .......................... 304 2 Julio Cortázar und die scriptOrale Figur des Logos ......... 306 2.1 Los premios zwischen ‘surrealistischem Existentialismus’ und ‘anti-peronistischer Allegorie’ ........................ 313 2.2 Polyphonie versus Supervision ........................... 319 2.2.1 Oralität als untergeordneter Bestandteil der Polyphonie: someone else’s voice................................... 322 2.2.2 scriptOralität als poetische Figur: der Logos in Aktion ......... 325 2.2.3 Supervision als poetische Suche: der Logos hängt am Wort ..... 332 2.3 Poetische Lebenskunst als Schwundtelos der scriptOralität ...... 336 Schlußbemerkungen .................................... 339 Literaturverzeichnis .................................... 341 Namensregister ......................................... 361 Vorwort Bei der vorliegenden Veröffentlichung handelt es sich um eine gekürzte und teil- weise überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Rahmen des Freiburger Sonderforschungsbereichs “Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlich- keit und Schriftlichkeit” entstanden und im Wintersemester 1995/96 von der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau angenommen worden ist. Die Arbeit wurde von Prof. Dr. Walter Bruno Berg angeregt und betreut. Sie ist darüber hinaus auch ein Produkt des von ihm von 1992 bis 1996 geleiteten Teilprojekts “Oralität und Argentinität: Die identitätsstiftende Rolle der Münd- lichkeit in der argentinischen Literatur des 19. und 20. Jh.”, mit dem die Freiburger Lateinamerikanistik ihren Beitrag zur Interdisziplinarität des genannten Sonderforschungsbereichs geleistet hat. Mein ganz besonderer Dank gilt daher dem von mir hochgeschätzten Doktorvater und Projektleiter für sein kritisches, schier grenzenloses und doch so grenzbewußtes Engagement. Bedanken möchte ich mich aber auch bei den Team-Kolleginnen Heike Kürschner, Sandra Krost, Anette Andrée, Jasna Tomicic, Irma Lorini und Mechthild Jörder sowie bei den Mitgliedern und Gästen des Sonderforschungsbereiches, von denen ich wichtige Impulse erhalten habe. Dank abgestattet sei ebenfalls Prof. Dr. Wolfgang Raible und Prof. Dr. Reinhard Wendt für die Korreferate. Weiterhin zu Dank verpflichtet bin ich dem Kuratorium der Wissenschaft- lichen Gesellschaft in Freiburg im Breisgau für den gewährten Druckkostenzu- schuß, sowie der Landesgraduiertenförderung und der Deutschen Forschungsge- meinschaft für ihre finanzielle Unterstützung durch Gewährung von Stipendien, insbesondere auch für Reisemittel der zuletzt Genannten, die mir eine Studienreise nach Buenos Aires und die Teilnahme am Congreso Nacional de Lingüística La Oralidad in Tucumán ermöglicht haben. In diesem Zusammenhang möchte ich mich auch bei Frau Patricia Castiñeira von der Biblioteca del Congreso Nacional, Buenos Aires, für ihre unbürokratische Hilfe bei der Materialsuche bedanken. Nicht vergessen möchte ich die langjährige Zusammenarbeit mit meinen geschätzten KollegInnen Hildegard Willer, Karoline Müller-Stahl, Christoph Mohr und Montserrat Gonzalo Arroyo, sowie die Hilfe von Christoph Mohr und Ulrich Wagner, vor allem aber von Beate Wagner, für deren bewundernswertes Engagement bei Lektüre und Korrektur der Erstfassung ich großen Dank schuldig bin. Und last but not least, von den Dingen, über die man nicht schreiben kann, soll man schweigen — Dank Dir, Blanca. meinen lieben Eltern Waldkirch, im August 1997 Christel & Meinrad Einleitung Y¿cuánto se ha atacado por envidia, por vulgaridad y por estupidez, al pobre Julio Cortázar?, porque hay gente que dice ‘No, el lunfardo del ché ¿qué tiene que ver con el que yo conozco de la Argentina?’ Es una tontería, si Cortázar inventaba un lun- fardo, inventaba una oralidad argentina, él estaba inventando la Argentina en el fondo. (Alfredo Bryce Echenique en Stanford, 1989) También creo que el abuso del lenguaje coloquial como recurso es una de las debili- dades centrales de su obra. Llegó un momento en que exageró, que era como una suerte de voluntarismo populista que impregnaba su estilo y finalmente abrumaba. Pero sus primeros cuentos, sin duda, alcanzan el plano al que aspira toda gran literatura. (Juan José Saer über Julio Cortázar, 1994) Aus der Gegenüberstellung dieser beiden Urteile über das Werk von Julio Cortázar geht unmittelbar hervor, daß die Verwendung von Umgangssprache in der Literatur auf unterschiedliche Wertungen stößt, je nachdem, welche Funktion ihr zugeschrieben wird. Bryce Echenique wendet sich gegen eine weitverbreitete Vorstellung des Verhältnisses zwischen literarischer und gesprochener Sprache, derzufolge die Oralität etwas Ursprüngliches und die Literatur etwas Sekundäres, von ihr Abgeleitetes ist, indem er besagtes Verhältnis einfach umkehrt und die Literatur zum Ursprung für eine erfundene Oralität erklärt. Juan José Saer hin- gegen kritisiert die spezifische Verwendung der Umgangssprache, da sie zu außerliterarischen Zwecken mißbraucht werde. Solche, zumeist wertbesetzte literarische Funktionszuweisungen bilden das centre d’intérêt der vorliegenden Arbeit, in der ich den Funktionswandel der Oralität in der argentinischen Literatur untersuche. Die Oralität ist diesem Ansatz zufolge kein objektiver oder idealtypologischer Begriff, der sich auf eine Serie von Parametern stützen kann, die aus Korpora der gesprochenen Sprache oder aus Kommunikationsbedingungen ableitbar sind. Stattdessen werden die Vorstellungen von dem, was Oralität sprachlich zugrundeliegt, als diskursive Konstrukte aufgefaßt, deren Funktionen historischem Wandel unterliegen. Hierbei spielt vor allem der literarische Diskurs eine bedeutende Rolle, da beispielsweise die sich ständig ändernden Oppositionen zwischen literarischen und nicht-literarischen Codes überhaupt erst dazu beitragen, daß bestimmte Codes als oral wahrgenommen und entsprechend im alltäglichen Wettstreit der Stimmen bewertet werden. Streng genommen macht es keinen Sinn, von Oralität zu sprechen, ohne zugleich den entgegengesetzten Begriff der Scipturalität wenigstens zu impli- zieren. Die Interdependenz der beiden Pole wird aber für gewöhnlich durch die 12 Markus Klaus Schäffauer fundamentale Annahme verschleiert, daß die Mündlichkeit aus vor-geschicht- lichen Zeiten auf uns überkommen sei, während die Schriftlichkeit als eine Er- rungenschaft der Zivilisation gilt, mit der die Geschichte überhaupt erst beginne. Dies ist ein wesentlicher Gesichtspunkt gerade auch im Hinblick auf die Neue Welt, bedenkt man die praktisch auf die ‘Prähistorie’ des absoluten Geistes reduzierte Rolle, die ihr in Hegels Philosophie der Weltgeschichte zugewiesen wurde.1 Nun gibt es aber keinen eigenständigen Begriff für die hier nur schemenhaft angedeutete Verschleierung der Interdependenz zwischen Oralität und Scripturalität, der zugleich dem diskursanalytischen Ansatz gerecht zu werden vermöchte.2 Schon aus einem sprachökonomischen Motiv heraus ist es aber wünschenswert, nicht jedesmal von der relativen historischen Geltung des konstruierten ‘Span- nungsfeldes zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit’ sprechen oder auf Kosten des ‘Spannungsfeldes’ und zugunsten des einen oder anderen Pols Ver- zicht leisten zu müssen. Aus den genannten Gründen wähle ich —mit einem offenen Ohr für Derridas Grammatologie— den Begriff scriptOralität als Be- zeichnung für eine spezifische historische Ausprägung des abendländischen Logozentrismus, die aus einer phonozentrischen Ursprungsfixierung3 in Kombi- nation mit einer graphozentrischen Teleologie hervorgeht. Die Wortsubstanz des Begriffs geht auf eine Portmanteau-Wortbildung des Anglisten Willi Erzgräber zurück, die der Schriftenreihe des Freiburger Sonderforschungsbereichs “Über- gänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit” ihren ‘originellen’ Namen gegeben hat: ScriptOralia. Während die beiden lateinischen Komponenten der Wortneubildung bereits erwähnt wurden und im übrigen auch für sich selbst sprechen, bedarf die Großschreibung des zentralen Buchstabens ‘O’ eines ergänzenden Hinweises: Der Namenszug der Schriftreihe greift näm- lich zusätzlich auf eine farbliche Hervorhebung zurück, die hier nicht wiederge- geben werden kann, insofern das Majuskel-‘O’ von den restlichen schwarzen 1 Zur Rolle Amerikas in der Philosophie Hegels vgl. Casalla 1992, insbes. S. 36, und Borsò 1994: 44. 2 Die unbefriedigende Sprachregelung der orality/literacy-Forschung hat bereits seit einigen Jahren zu terminologischen Neuregelungen und Wortneuschöpfungen geführt. Kiesler 1995: 50f. gibt einen Überblick über die Terminologie zur französischen Umgangs- bzw. Schriftsprache; Finnegan 1992: 16 verzeichnet eine ganze Reihe von Wortneubildungen, darunter aural, oracy und orature; Tannen 1980: 326 unter- scheidet unabhängig vom Medium in mündliche und schriftliche Strategien, Gil 1984: 11 in “situationsgebundene und situationsschaffende Sprachrealisation” und Koch/ Oesterreicher 1986 in ‘Sprache der Nähe’ und ‘Sprache der Distanz’. 3 Zur sprachphilosophischen und -wissenschaftlichen Fixierung auf den Ursprung von Sprache(n) vgl. Trabant 1990: 94ff. Einleitung 13 Lettern durch rote Druckfarbe absticht. Erzgräber zufolge (pers. comm.) symboli- siere dies die gerundeten Lippen eines geöffneten Mundes und diene zugleich der Markierung der Wortgrenzen der kontaminierten Komponenten; für das Port- manteau-Wort selbst hätten entsprechende Sprachexperimente bei James Joyce Pate gestanden. Gegenüber der Wortbildung Erzgräbers unterscheidet sich scriptOralität daher in zweifacher Hinsicht: Erstens entfällt die Großschreibung des Wort- anfanges, wodurch das Wort scheinbar auf seine Mitte hin zentriert ist — nämlich auf seine imaginäre Origo: die Oralität. Um diese spezifische Zentriert- heit erkennbar zu machen, bedarf es jedoch a priori der Schrift — das Wort läßt sich ja nicht von seiner Mitte ausgehend zu den Extremen hin aussprechen, noch läßt sich in seiner oralen Realisierung die Nachfolge der Origo aufheben, etwa durch eine andere Intonation. Zweitens verschiebt scriptOralität das Problem der letztlich graphozentrischen Schriftmetapher différance —die nur in der Schrift ihre Differenz geltend machen könne— auf das Problem der Historizität sprachlicher Äußerung überhaupt, ganz gleich ob schriftlichen oder mündlichen Ursprungs: daß sie nur als chronotopische Differenz und damit in fort- schreitender historischer Verschiebung von einer stets imaginären Origo sich ereignen kann. Die Konsequenzen, die sich aus dieser immer schon historischen Durchdringung von Oralität und Scripturalität ergeben, sind mehrere: Zunächst wird eine Oralität denkbar, die von der Scripturalität abgeleitet ist bzw. durch Schriftzeichen disseminiert wurde; sodann resultiert die Idee Derridas einer ‘Schrift vor der Stimme’ plausibel oder sogar notwendig, auch wenn sich hierzu ein weiterer Begriff von Schrift —bzw. Scripturalität— als unverzichtbar er- weisen dürfte; und schließlich werden gewisse Konstruktionen ab origine ver- dächtig, die weismachen wollen, der Ursprung von Kulturen liege in der Oralität, wobei sie das ‘grammatologische’ Problem einer schon immer vorangegangenen Durchdringung von Oralität und Scripturalität unterschlagen. Insbesondere um den letztgenannten Punkt herauszuarbeiten, habe ich es für notwendig und sinnvoll befunden, den Begriff scriptOralität zu wählen — um zunächst einmal die Prämissen zu hinterfragen, die es ermöglichen, von Oralität zu sprechen und zu schreiben. Nur soviel sei noch zu scriptOralität an dieser Stelle vorweggeschickt: Das Ziel meiner Untersuchung besteht gerade darin, zu zeigen, daß die scriptOralen Prämissen der argentinischen Literatur bis in die historische Avantgarde hinein praktisch unangefochten geblieben sind und erst nach ihr oder genauer: mit der Avantgarde angefochten werden. Damit soll nicht behauptet werden, daß die argentinische Literatur nach der ersten Hälfte des 20. Jh. —also nach meinem Untersuchungszeitraum von etwa 1890 bis 1960— auf einmal von scriptOralen 14 Markus Klaus Schäffauer Konstrukten frei ist. Aber die fundamentale, im wesentlichen aus der Romantik stammende und von da an immer wieder erneuerte Forderung nach einer auf autochthoner ‘Or(igin)alität’ basierenden Nationalliteratur kann von diesem Zeitpunkt an auf breiter Front als überwunden gelten. An die Stelle der romanti- schen Sorge um den Verlust des oralen Patrimoniums infolge der allgemeinen Alphabetisierung —eine Sorge, zu der in Argentinien über Jahrzehnte hinweg die Befürchtung eines durch Einwanderung verursachten Identitätsverlustes hin- zukam— tritt von der zweiten Hälfte des 20. Jh. an die Hinterfragung der scriptOralen Voraussetzungen: Seit jeher ist es der ‘litteratus’, der über den ‘illitteratus’ schreibt.4 Wenn im alphabetisierten Europa daher Oralität themati- siert wird, so in den seltensten Fällen die eigene bzw. gegenwärtige Oralität, sondern zumeist handelt es sich —literarisch vermittelt auch im vorliegenden Fall— um die Oralität anderer bzw. vergangener Kulturen. Aus lateinamerikani- scher Sicht stellt sich diese Relation jedoch aus historischen Gründen anders: Zwar sind indigenismo und gauchismo der beste Beleg dafür, daß auch latein- amerikanische Autoren die Oralität einer anderen —allerdings auf amerikani- schem Boden teilweise noch gegenwärtigen— Kultur thematisieren, doch hierbei darf nicht übersehen werden, daß in Lateinamerika über Jahrhunderte hinweg das Erleben des Eigenen als eines Anderen in Folge der Kolonialisierung zu einer prägenden kulturellen Erfahrung geworden ist. Mein Grundanliegen ist es daher herauszuarbeiten, daß die Frage nach der Oralität in der argentinischen Literatur mit der von Tzvetan Todorov aufgeworfenen und von Walter Bruno Berg in seiner Einführung Lateinamerika zugrundelegten question de l’autre untrennbar verknüpft ist,5 ja, daß es die argentinischen Autoren selbst sind, die von der Frage nach der oralidad zu der nach der otredad hinführen. Die Arbeit setzt sich aus zwei Teilen zusammen, die aus jeweils drei Kapiteln bestehen. Im ersten Kapitel wird die bereits angesprochene Verschleierung der Interdependenz zwischen Oralität und Scripturalität als Folge einer einseitigen Ausrichtung der europäischen orality/literacy-Forschung dargelegt. Diese Ver- schleierung wird sodann im zweiten Kapitel auf theoretischer Ebene analysiert und als technologische Projektion einer logozentrischen Schriftgeschichte be- stimmt. Alternativ hierzu wird die Schrift-Debatte im Kontext der Pariser Tel Quel-Gruppe als Beispiel angeführt, wie gerade der Literatur eine besondere Rolle bei der Dezentrierung des abendländischen Logozentrismus eingeräumt wird. In Kapitel III wird zunächst ein Überblick über Ansätze zur Erforschung literarischer Oralität gegeben, wobei schwerpunktmäßig Arbeiten zur argentinischen 4 Zu litteratus versus illitteratus vgl. Zumthor 1987: 132ff. 5 Vgl. Todorov 1985, sowie Berg 1995 (insbesondere 29ff.).