S ZEITSCHRIFT FÜR SEXUALMEDIZIN, SEXUALTHERAPIE UND SEXUALWISSENSCHAFT Deutsche Sexualmedizin e x Gesellschaft Sexualtherapie und u olo für Sexualwissenschaft g ie 1 –• ISSN 0944-7105 2 Band 22 / 2015 / 2 S. 1-112 0 1 1-2 5 B• a n d 2 2 Schwerpunkt Sexualität & Alter Originalarbeiten Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch durch Jugendliche – Alternative Sexualformen und Beziehungsqualität – Homophobie in Reggae und Dancehall Herausgeber: Ch. J. Ahlers, Berlin . K. M. Beier, Berlin . M. Dietrich, Ravensburg . A. Gauruder-Burmester, In Kooperation Berlin . F. Hausmann, Kappelrodeck . F. M. Köhn, München . A. Korte, München . D. Rösing, Stralsund mit der Österreichischen Akademie für www.sexuologie-info.de Sexualmedizin Hrsgg. von der Deutschen Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft INHALT Editorial 3 „Für Sex im Alter brauchst Du einen Plan“ Rainer Alisch Themenschwerpunkt – Sexualität und Alter 5 Sexualität und Alter Hermann J. Berberich 13 Erotik, Zärtlichkeit und Sexualität älterer Frauen Kirsten von Sydow Originalarbeiten 25 „Du träumst von ihnen“ – Das Projekt Primäre Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch durch Jugendliche (PPJ) Klaus M. Beier, Umut C. Oezdemir, Eliza Schlinzig, Laura F. Kuhle, Franz Henkel, Elena Hupp, Andreas Peter, Anna Groll & Tobias Hellenschmidt 43 Alternative Sexualformen und Beziehungsqualität – Eine online-gestützte empirische Studie Ingo Zimmermann, Anastasia Gossen 61 „All batty bwoy haffi die“ – Homophobie in Reggae und Dancehall Constanze Köhn Zur Diskussion 73 Die Zukunft der Sexualwissenschaft? Erwin J. Haeberle Aktuelles 79 Lust im Alter – Ein weites Feld für die Erotikbranche Anja Drews 81 Die Zeit ist Reif – Für eine selbstbestimmte Sexualität im Alter Fabian Korpok 83 Amor altert nicht – Paarbeziehung und Sexualität im Alter Interview mit Elisabeth Drimalla 87 Ist Sexualität gegensätzlich? Tina Jahns 91 Die Verwandlung vom Täter zum Opfer Florian Mildenberger 97 Begehren in Bewegung – Die Sexuelle Revolution in historischer Perspektive Jule Jakob Govrin 101 Rezensionen Marc Augé Zeit ohne Alter. Eine Ethnologie des Ich Aus dem Französischen von Brita Pohl Turia + Kant 2015, 157 Seiten, br., 19,00 € Ein Ethnologe betrachtet das Alter anders. Das westliche Ich ist sehr von seinem Alter besessen. Lifestylemagazine, Werbung und Medizin versprechen jedwede Lösung, doch Marc Augé interessieren die unmerklicheren Perspektiven verschiebun gen, die der Verlauf der Zeit in unserem Denken nach sich zieht. Folgt man diesen, kommt man einer »Weisheit der Katze« auf die Spur: einer Zeit ohne Alter. Marc Augé, Jahrgang 1935, ist Ethnologe, Anthropologe und ehemaliger Direktor der EHESS (Universität für Sozialwissenschaften) in Paris. In den 1970er- und 1980er-Jahren unternahm er verschiedene Forschungsreisen nach Afrika, v.a. an die Elfenbeinküste und nach Togo, sowie nach Lateinamerika. Seine Studien zur westlichen Gesellschaft finden sich etwa in Un ethnologue dans le métro (1986; dt.: Ein Ethnologe in der Metro, 1988) und Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité (1992; dt.: Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, 1994). Anschrift der Redaktion Rainer Alisch, Redaktion der Sexuologie, Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin des Univers i täts klini kums Charité, Luisenstrasse 57, D-10117 Berlin, Tel.: 030 / 450 529 301 (Fax: -529 992), e-mail: [email protected] Anzeigen: MediaService Marschall, AnzeigenMarketing, Tel. 030-818 779 80, Copyright: Alle Artikel, die in dieser Zeitschrift veröffentlicht werden, sind urheber- Fax: 030-818 779 77, www.mediamarschall.de, [email protected] rechtlich geschützt, alle Rechte vorbehalten. Ohne schriftliche Erlaubnis der Anzeigenpreise: Gültig ist die Preisliste vom 1. Januar 2015 Deutschen Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft Lieferkonditionen (2015): Volume 21 (1 Band mit 4 Heften, Auslieferung in zwei ist es verboten, Teile der Zeitschrift in irgendeiner Form zu reproduzieren. Dies Doppelheften) beinhaltet ebenso die Digitalisierung, als auch jede andere Form der elektronisch- Abopreise* (2015): Deutschland, Österreich, Schweiz: Institutionelle Abnehmer en Weiterverarbeitung, wie Speichern, Kopieren, Drucken oder elektronische Weiter- 156,00 d; Einzelpersonen 90,00 d; Student_innenabo 30,00 d, für Mitglieder der leitung des digitalisierten Materials aus dieser Zeitschrift (online oder offline). Deutschen Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft Für den allgemeinen Vertrieb von Kopien für Anzeigen- und Werbezwecke, für die ist ein Abonnement im Mitgliedsbeitrag von 120,00 d enthalten Neuzusammen stellung von Sammelbänden, für den Wiederverkauf und andere * Die Preisangaben sind unverbindliche Preisempfehlungen. Preisänderungen Recherchen muss eine schriftliche Erlaubnis von der Akademie eingeholt werden. müssen wir uns vorbehalten. Alle Preise verstehen sich exklusive Versandkosten. Bei der Rechnungsstellung wird Umsatzsteuer gemäß der zum Rechnungszeitraum Satz: Rainer Alisch · www.rainer-alisch.de geltenden Richtlinien erhoben. Kunden in den EU-Ländern werden gebeten ihre Coverfoto: Franziska Barth · www.streifenblicke.de Umsatzsteuernummer anzugeben. 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Sie verkörpert, was in soziologischen Studien inzwischen Können „Sexspielzeuge“ die Lust im Alter erweitern, fragt als Generation „Silver Sex“ gelabelt wird – eine Generati- Anja Drews; einen Film, der radikal mit der immer noch on, für die unter anderem die Formel „länger leben heißt tabuisierten Sexualität im Alter bricht, stellt Fabian Kor- auch länger lieben“ gilt. pok vor, während das Interview mit Elisabeth Drimalla Doch was bedeutet es, das Thema Sexualität & Alter zur Lektüre ihres Buches Amor altert nicht. Paarbeziehung im Zeichen individualisierter Lebensentwürfe, der ra- und Sexualität im Alter einlädt – denn sie formuliert pro- santen Beschleunigung gesellschaftlicher Abläufe und vokant: „Alt werden ist nichts für Feiglinge“. der medizinisch-technologischen Veränderungen aufzu- Neben den Originalarbeiten zu dem Projekt zur Prä- nehmen, Entwicklungen also, die diese Generation ent- vention von sexuellem Kindesmissbrauch durch Jugendli- scheidend bestimmt haben? Denn eines bleibt über alle che, das eine Berliner Autorengruppe vorstellt, und dem Veränderungen hindurch konstant – das unvermeidliche Beitrag von Constanze Köhn, der sich mit Homophobie in Verrinnen der Lebenszeit und die damit verbundenen se- Reggae und Dancehall beschäftigt, nehmen weitere Heft- xuellen Funktionsstörungen, sowie die nichtfunktionellen beiträge das Thema Veränderung auf: Der Text von Tina sexuellen und anderweitigen Probleme, die das Altern mit Jahns richtet das Augenmerk darauf, wie Menschen mit sich bringt. Um den Fokus dieses Heftes somit einzuengen: körperlichen Handikaps inzwischen selbstbewußt ihre Es geht um eine Sexualität, die jenseits von Körperkult Erotik und Sexualität leben. Die Beiträge von Ingo Zim- und „Versportung“ liegt, die mittels gefäßerweiternder mermann & Anastasia Gossen, Jule Jakob Govrin und Flo- PDE-5-Hemmer zumindest für Männer einen sexuellen rian Mildenberger thematisieren den Wandel dessen, was Unruhestand ermöglicht. der etwas sperrige Begriff des „Sexualitätsdispositivs“ be- Die einzelnen Beiträge nehmen – in notwendig ein- zeichnet. Der Beitrag von Govrin holt dabei die „Revoluti- geschränkter Perspektive – die Thematik unterschiedlich on“ in den Blick, die mit der Generation „Silver Sex“ zum auf: Hermann J. Berberich, indem er der grundsätzlichen Tragen kommt, Mildenberger leuchtet die Schattenseiten Bedeutung von Sexualität für die menschliche Existenz dieser Revolution aus, während Zimmermann & Gossen nachgeht und dies mit einem Blick auf die altersbeding- analysieren, welche gegenwärtigen Umbrüche sich voll- ten Einschränkungen und Krankheiten verbindet. Das ziehen, die vielleicht auch ihren Schatten in die Zukunft Fazit von Kirsten von Sydow mit ihrer Untersuchung werfen. Dies ist eine Thematik, die Erwin J. Haeb erle weib licher Perspektiven läßt sich vielleicht dahingehend gleichfalls bewegt. zusammenfassen, dass die Partner jenseits altersbeding- Doch um nochmals zu Jane Fonda zurückzukehren. ter Einschränkungen besser kommunizieren, also offener Das Interview verbirgt keinesfalls, dass die strahlende über ihre Probleme sprechen müssen, um überhaupt Sex Fassade nicht den ganzen Mensch repräsentiert, sondern miteinander haben zu können. dass dahinter ein extrem langwieriger Aneignungsprozess Zu den Schwerpunktbeiträgen gehört auch der Text zu steht. Mit diesem macht Fonda allerdings nicht nur einer Chancen und Risiken später Vaterschaft von Eberhard Nie- ganzen Generation Hoffnung, sondern deren Hoffnun- schlag, der nicht mehr aufgenommen werden konnte und gen verkörpert sie auch. In diesem Sinne möchte ich ihr im nächsten Heft erscheinen wird. „Mantra“ aufnehmen, von dem ich hoffe, dass es auch die Um die beiden Hauptbeiträge sind eine Reihe klei- Lektüre des Heftes bestimmen kann: wichtiger im Alter nerer Texte gruppiert, die – wenn auch in unterschiedli- ist, „inter essiert zu bleiben als interessant sein zu wollen“. cher Weise – gleichfalls Veränderungsprozesse betrachten: Rainer Alisch (Redaktion) SSeexxuuoollooggiiee 2202 ((11––22)) 22001135 23– /3 D /G DSGMSTMWTW hhttttpp::////wwwwww..sseexxuuoollooggiiee--iinnffoo..ddee Sabine Kampmann / Miriam Haller / Thomas Küpper / Jörg Petri (Hg.) Altern. Querformat. Zeitschrift für Zeitgenössisches, Kunst, Populärkultur, Heft 7 Psychosozial-Verlag 2014, 100 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,90 € Das siebte Heft von »Querformat« widmet sich den Bildern vom Altern in unserer Gesellschaft – vor allem in bildender Kunst, Film, Comic, Literatur, Fernsehen, Zeitung und Internet. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie die Medien an der Her- vorbringung des Alt-Seins beteiligt sind. Die Beiträgerinnen und Beiträger nahmen die neuen Alternsbilder in einem intergenerationellen Dialog unter die Lupe. Die untersuchten Beispiele reichen von Dürers Mutter und Giorgiones »Vecchia« bis zu Grampa Simpson und Ryan Giggs. Sabine Kampmann (Dr. phil.) ist Kunst- und Kult urw issenschaftlerin und lebt und forscht in Berlin. Miriam Haller (Dr. phil.) ist stellvertretende Leiterin des CEfAS-Center for Aging Studies an der Universität zu Köln. Thomas Küpper (Dr. phil.) ist Dozent an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Jörg Petri ist freiberuflicher Typograf und Professor im Kommunikationsdesign an der Hochschule Rhein-Waal. Themenschwerpunkt Sexualität und Alter* Hermann J. Berberich Sexuality and Age Warum haben wir Sex? Abstract Stellt man diese Frage Patienten, die in die sexualmedizi- The article reviews a wide range of studies on various aspects of nische Sprechstunde kommen, oder Zuhörern bei einem the sexuality of older men and women: their sexual interest and sexualmedizinischen Vortrag, erhält man in der Regel als needs, the effects of age-related physical change and of physi- erste spontane Antwort „wegen der Fortpflanzung“, kurz cal and mental disease, including medications, on sexual func- danach wird diese Antwort meist durch die Bemerkung tioning. The article shows that sexual needs remain unchanged „weil es Spaß macht“ ergänzt. Wenn das die alleinigen in advanced age. It finds fault with the understanding of Gründe wären, die uns zum Sex veranlassen, wäre nur sexuality as primarily lust-fulfillment and reproduction, defining schwer zu erklären, warum es Sex zwischen gleichge- sexuality instead as the satisfying of the basic human need for schlechtlichen Partnern gibt, warum Frauen mit ihren nearness, acceptance and security, i.e., a relationship-oriented Partnern schlafen, auch wenn sie noch nie einen Orgas- understanding of sexuality. Given that sexual dysfunctions mus hatten, warum wir auch außerhalb der fruchtbaren seldom have only one cause, resulting instead from interacting Tage sexuell miteinander verkehren oder – und damit biological, psychological, social-cultural and partner-related fac- wären wir beim Thema – warum Paare auch nach der re- tors, the treatment should not focus only on the impairment of produktionsfähigen Zeit miteinander Sex haben. the individual. The author recommends pair-oriented treatment. Ein zentrales Element menschlicher Sexualität ist die Keywords: Age-related physical change, Age-related se xual Tatsache, dass sie vor allem dazu dient, zu einem anderen dysfunction, Erectile dysfunction, Disease and sexuality, Sexu- Menschen eine intime Beziehung herzustellen und unser al socialization, Pair therapy Bedürfnis nach Nähe, Akzeptanz und Geborgenheit zu befriedigen. Dieses psychosoziale Grundbedürfnis be- Zusammenfassung gleitet uns unser ganzes Leben lang. Der Artikel bespricht mehrere Studien zu verschiedenen Mittlerweile gibt es aus der neurobiologischen For- Aspekten der Sexualität älterer Männer und Frauen: sexu- schung deutliche Hinweise, dass neben dem Hypotha- elles Interesse und sexuelle Bedürfnisse, die Auswirkungen lamus und der area praeoptica vor allem jene Teile des altersbedingter körperlicher Veränderungen und körperlicher menschlichen Gehirns eine wichtige Rolle bei der sexuel- und geistiger Krankheit, einschließlich Medikamente, auf die len Interaktion spielen, die unter dem Begriff „social brain“ Sexualfunktion. Es wird gezeigt, dass auch in hohem Alter zusammengefasst werden (Amygdala, Spiegelneurone). sexuelle Bedürfnisse unverändert bleiben. Kritisiert wird das Andererseits ist die Amygdala diejenige Gehirnregion, die primäre Verständnis von Sexualität als Lusterfüllung und zuletzt vom cerebralen Alterungsprozess, der zwischen Reproduktion, vorgezogen wird eine Definition von Sexualität als dem 40. und 45. Lebensjahr einsetzt, betroffen ist (Braus, Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse nach Nähe, 2011, 21). Letzteres ist ein Hinweis für die Stabilität dieses Akzeptanz und Sicherheit, d.h. ein beziehungsorientiertes Systems über die gesamte Lebensspanne und seine Bedeu- Sexualitätsverständnis. Da sexuelle Funktionsstörungen selten tung für das menschliche Leben und Überleben. eine monokausale Ursache haben, sondern das Ergebnis der Interaktion biologischer, psychologischer, soziokultureller und partnerbezogener Faktoren sind, sollte die Behandlung sich Der Körper altert, die sexuellen nicht allein auf das betroffene Individuum konzentrieren. Der Autor plädiert für einen paarorientierten Behandlungsansatz. Bedürfnisse nicht Schlüsselwörter: Altersbedingte körperliche Veränderung, alters- bedingte sexuelle Funktionsstörungen, erektile Dysfunktion, Krankh eit und Sexualität, sexuelle Sozialisation, Paarberatung „Die durch Interaktion und Körpersprache (Haut- und Blickkontakt) vermittelten Gefühle bestimmen von Ge- * Leicht überarbeiteter Wiederabdruck mit Genehmigung des Verlags burt an die menschliche Entwicklung und bleiben ein aus: Stirn, A., Stark, R., Tabbert, K., Wehrum-Osinsky, S., Silvia, S. Kernmerkmal der Beziehungsgestaltung“ (Beier & Loe- (Hg.), 2104. Sexualität, Körper und Neurobiologie, Kohlhammer, Stuttgart, 408–419. © [2014] W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart wit, 2011, 16). „Mit der Geschlechtsreife wird Sexualität Sexuologie 22 (1–2) 2015 5–12 / DGSMTW http://www.sexuologie-info.de 6 Hermann J. Berberich nun auch auf genitale Weise zur intensivsten Form von den war, die Zahl der sexuell aktiven Männer auf 79% (+ Körpersprache“ (ebenda). Außerhalb von Krankheiten 12%), die der Frauen auf 62,6% (+4,3%) angestiegen. In im engeren Sinne wird der Körper im mittleren Erwach- der gleichen Altersgruppe waren Männer ohne Partner senenalter in der Regel als selbstverständlich funktionie- lediglich zu 16,9% und Frauen zu 4,2% sexuell aktiv (Beu- rend erlebt. Mit zunehmendem Alter entfällt diese Selbst- tel et al., 2008). verständlichkeit (Heuft et al., 2006, 63). Der deutliche Anstieg der sexuell aktiven Männer Die altersbedingten körperlichen Veränderungen und Frauen, die in einer Partnerschaft leben, in einem werden nun, folgt man dem entwicklungspsychologi- Zeitraum von 11 Jahren hat sicherlich mehrere Ursachen. schen Modell von Heuft, zum Organisator der Entwick- Da sexuelles Verhalten einem gesellschaftlichen Wandel lung in der zweiten Hälfte des Erwachsenenlebens (Heuft unterliegt, können Unterschiede zwischen Altersgruppen et al., 2006, 64). einem sogenannten Kohorteneffekt unterliegen. Entschei- Der alternde Mensch steht vor der doppelten Auf- dend für die sexuellen Verhaltensweisen von Menschen gabe, körperliche Einschränkungen sowohl physisch als ist ihre sexuelle Sozialisation in jungen Jahren. auch psychisch zu bewältigen. Bezüglich der Sexualität Dies muss bei der Bewertung von Studien in Betracht bedeutet dies, einen Weg zu finden, diese auch weiterhin gezogen werden (George & Weiler, 1981). Im Unterschied als Quelle zur Befriedigung des psychosozialen Grund- zu den 60-Jährigen des Jahres 1994 wurden die 60-Jähri- bedürfnisses nach Nähe, Akzeptanz und Geborgenheit zu gen des Jahres 2005 in einer Zeit sexuell sozialisiert, die nutzen und nicht vor möglichen körperlichen Einschrän- nicht zuletzt infolge der Einführung der „Pille“ durch kungen zu kapitulieren. eine zunehmende Liberalisierung der Sexualität gekenn- Das sexuelle Verhalten älterer Menschen ist erst seit zeichnet war. Hinzu kommt, dass in die Zeit nach 1994 wenigen Jahren Gegenstand wissenschaftlicher Betrach- die Markteinführung der PDE-5-Hemmer fällt. Diese ha- tung. So schlossen die großen amerikanischen Studien ben nicht nur die Möglichkeit verbessert, organisch be- von Rosen und Laumann keine Menschen über 60 in ihre dingte Erektionsstörungen zu behandeln, sondern auch Befragungen ein. Der amerikanische Sexualwissenschaft- zu einer Enttabuisierung beigetragen. Heute trauen sich ler Max Comfort hat diese Tatsache wie folgt sehr treffend mehr Männer bei Erektionsproblemen einen Arzt aufzu- kommentiert: suchen, als dies früher der Fall war. Im Unterschied zu zahlreichen Studien, die als Indi- „Ältere Menschen wurden noch nie über ihre sexuel- kator für Sexualität lediglich die Koitusfrequenz benut- len Aktivitäten befragt, weil jeder annahm, sie hätten zen, untersuchten Bucher et al. (2001) in ihrer Studie keine; und jeder nahm an, sie hätten keine, weil man „Sexualität in der zweiten Lebenshälfte“ nicht nur unter- sie nie danach gefragt hat.“ (Comfort, 1974, 440) schiedliche Formen der sexuellen Aktivität (Zärtlichkeit, Petting, Geschlechtsverkehr, Selbstbefriedigung) sondern Mittlerweile liegen einige Studien vor, die zeigen, dass darüber hinaus auch das sexuelle Interesse und die sexu- Sexualität bis ins hohe Alter einen hohen Stellenwert be- elle Zufriedenheit. Befragt wurden 641 Männer und 857 sitzt. Bei der im Auftrag der Firma Pfizer durchgeführten Frauen im Alter zwischen 45 und 91 Jahren. Hiervon „Global Study of Sexual Attitudes and Behaviors“ wur- lebten 86% der Männer und 70,5% der Frauen in einer den in 29 Ländern insgesamt 26 Tausend Männer und festen Partnerschaft. Bis zum Alter von 69 Jahren gaben Frauen im Alter zwischen 40 und 80 Jahren nach ihrer 100% der Männer und 87,3% der Frauen an, sexuelles Sexualität befragt. Mehr als 80% der befragten Männer Verlangen zu haben, in der Gruppe über 75 Jahre waren und 60% der befragten Frauen bezeichneten Sex als einen es noch 79,2% bei den Männern und 51,5 % bei den Frau- wichtigen Bestandteil ihres Lebens (Nicolosi et al., 2004). en. 53,5% der Männer und 58,9% der Frauen wünschten Eine repräsentative Befragung, die 1994 im Auftrag der sich mehr Zärtlichkeit (Streicheln, in den Arm nehmen, Universität Leipzig bei insgesamt 2948 Personen im Alter Küssen), 56,2% der Männer und 65,1% der Frauen mehr zwischen 18 und 92 Jahren durchgeführt wurde, ergab, Petting und 54% der Männer und 48,5% der Frauen mehr dass das Vorhandensein eines Partners bestimmend für Geschlechtsverkehr als sie tatsächlich erlebten. Über- das Ausmaß der sexuellen Aktivität im Alter ist. War ein haupt kein sexuelles Interesse äußerten lediglich 0,8% der Partner vorhanden, waren in der Altersgruppe 61 bis 70 Männer und 2,9% der Frauen (Bucher et al., 2001). Jahre immerhin 67,0% der Männer und 58,8% der Frauen Im Auftrag des Kinsey Instituts (Indiana Universi- sexuell aktiv. War kein Partner vorhanden, waren es bei ty, Bloomington) wurden in 5 Ländern (USA, Brasilien, den Männern lediglich 21,7% und bei den Frauen 8,1% Deutschland, Japan & Spanien) jeweils 200 Paare, die (Unger & Brähler, 1995). Eine ähnlich angelegte Befra- in langjährigen, festen Beziehungen lebten, nach ihrer gung wurde 11 Jahre später wiederholt. In der Alters- partnerschaftlichen und sexuellen Zufriedenheit befragt, gruppe 61 bis 70 Jahre war, sofern ein Partner vorhan- insgesamt 1009 Paare (Heiman et al., 2011). Hierbei wur- Sexualität und Alter 7 de der ISR-Fragebogen (International Survey of Relati- Auch beim Mann kommt es im Alter zu hormonel- onship) eingesetzt. Dieser Bogen umfasste 125 Fragen, len Veränderungen. Diese vollziehen sich allerdings nur mit denen sowohl demographische Daten als auch Daten allmählich. Statistisch sinkt das biologisch freie Testos- über den Gesundheitszustand, die seelische Verfassung, teron jährlich im Mittel um 1,2%, während das Sexual- die sexuelle Biographie sowie über sexuelles Verhalten hormon bindende Globulin (SHBG) ansteigt (Vermeu- während der letzten 4 Wochen und des letzten Jahres len & Kaufmann, 1995). Ferner ist bei älteren Männern erfasst wurden. Die Befragung der Partner erfolgte ge- ein Rückgang der morgendlichen Testosteronspitzen zu trennt, wobei der eine Partner nicht über die Antworten verzeichnen. Als Ursache hierfür wird ein Rückgang der des anderen informiert war. LH-Pulsfrequenz angesehen. Die Höhe der LH-Pulsamp- Im Durchschnitt lebten die Paare mehr als 25 Jahre litude korreliert mit dem Spiegel des freien Testosterons (1–51 J.) zusammen. Trotz der hohen Scheidungsraten (Bremner et al., 1992). Darüber hinaus wird eine Abnah- verblieben in den USA mehr als 50% der Paare in ih- me der für die Testosteronsynthese verantwortlichen Ley- rer ersten Ehe, in Spanien waren es sogar 90%. Bei den digzellen angenommen. Diesem Altershypogonadismus männlichen Partnern korrelierte die partnerschaftliche (Late Onset Hypogonadism) wird eine ganze Reihe von Zufriedenheit mit der eigenen gesundheitlichen Verfas- organischen Veränderungen zugeschrieben: sung und dem Orgasmuserleben ihrer Partnerin. Bei die- ser Untersuchung maßen Männer interessanterweise dem • Zunahme des abdominellen Fetts häufigen Austausch von Zärtlichkeiten (Küssen, Schmu- • Verringerung der Muskelstärke sen) eine höhere Bedeutung bei als ihre Partnerinnen • Verminderter Bartwuchs dies taten. Bei beiden Geschlechtern korrelierte die sexu- • Osteoporose elle Zufriedenheit mit dem Austausch von Zärtlichkeiten, • Erhöhte Insulinresistenz Streicheln der Intimregionen, der sexuellen Gesundheit • Arteriosklorose und der Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs. Je höher die Anzahl der Sexualpartner, die ein Mann im Laufe seines Nach wie vor gibt es keinen Konsens, ab wann ein labor- Lebens hatte, umso geringer war allerdings seine sexuel- chemisch festgestellter Hypogonadismus behandlungs- le Zufriedenheit. Je länger die Beziehung bestand und je würdig ist. besser die Probanden ihre sexuelle Gesundheit einschätz- Zitzmann et al. (2006) konnten bei einer Untersu- ten, desto glücklicher fühlten sich beide Geschlechter. chung an 434 Männern im Alter zwischen 50 und 86 Während bei Männern die partnerschaftliche Zufrie- Jahren zeigen, daß die jeweiligen psychosomatischen Be- denheit mit der Dauer der Beziehung ständig zunahm, schwerden und metabolischen Riskofaktoren mit zuneh- stieg sie bei den Frauen erst nach 15 Jahren Partnerschaft mendem Testosteronmangel ebenfalls zunehmen. deutlich an. Bei Frauen, die weniger als 15 Jahren in fes- Unterhalb eines Testosteronspiegels von 15 nmol/l ter Beziehung waren, war sie hingegen deutlich geringer. treten signifikant gehäuft Libidostörungen auf, während Dieser Effekt ist möglicherweise einer Veränderung von Depressivität und Diabetes mellitus Typ 2 erst unterhalb Lebensumständen der Frauen geschuldet, wenn z.B. die von 10 nmol/l vermehrt zu verzeichnen sind. Bei vielen Kinder größer werden und aus dem Haus gehen. Männern bleibt jedoch bis ins hohe Alter der Testoste- ronspiegel im Normbereich. Obwohl es bei Männern keine mit den bei Frauen vergleichbaren Wechseljahre gibt, sind bei ihnen die Se- Wenn der Körper Grenzen setzt xualfunktionen wesentlich störanfälliger als bei den Frau- en. Am deutlichsten korreliert die Abnahme der Erekti- Altersbedingte körperliche Veränderungen wirken sich onsfähigkeit mit dem Alter (Feldmann et al., 1994; Braun, auch auf die menschlichen Sexualfunktionen aus. Infolge 2000). Mit zunehmendem Alter dauert es viel länger, bis der Einstellung der Eierstocksfunktion in der Menopau- die Erektion sich einstellt. Hierzu bedarf es häufig einer se kommt es bei der Frau zu erheblichen hormonellen direkten Stimulation durch die Partnerin. Der Orgasmus Umstellungen. Die Folgen sind eine Abnahme der Schei- verläuft deutlich flacher als in jungen Jahren. Die Re- denlubrikation und -elastizität sowie eine Zunahme von fraktärzeit wird länger, das heißt die Zeit die vergeht, bis Schmerzen beim Verkehr (Dyspareunie), wohingegen die es dem Mann wieder möglich ist, eine Erektion zu be- Orgasmusfähigkeit durchaus erhalten bleibt. kommen (Kockott, 1985; Masumori et al., 1999). Der hormonelle Mangelzustand und seine negativen Auswirkungen auf die Sexualität lassen sich leicht durch eine lokale Hormonsubstitution behandeln. 8 Hermann J. Berberich Sexualität und Krankheit Hierfür verantwortlich sind sowohl diabetogene Gefäß- schäden als auch Schädigungen der für die Auslösung der Erektion zuständigen Nerven (n.pudendi, n.cernosi). Zahlreiche Erkrankungen und ihre Behandlung, seien sie Bei Frauen hat ein Diabetes mellitus häufig chroni- nun medikamentöser oder operativer Natur, gehen häufig sche Entzündung der Genitalschleimhäute und Blasen- mit Sexualstörungen einher. Dies gilt vor allem für chro- entzündungen zur Folge. Letztere sind wiederum die nische Erkrankungen, die im Alter deutlich zunehmen. Ursache für Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. In den letzten Jahren ist ein deutlicher Anstieg der Diabetesprä- valenz in Deutschland zu verzeichnen. Bei Menschen Kardiovaskuläre Erkrankungen über 60 Jahre liegt sie zwischen 18 und 28% (Hauner et al., 2007). Mit einem Anteil von ca. 33 Prozent sind Gefäßerkran- kungen die häufigste organische Ursache einer Erektions- Sexualität und Harninkontinenz, störung bei älteren Männern. Wegen des viel geringeren Kalibers der Penisarterien macht sich eine endotheliale ein doppeltes Tabu Dysfunktion oft früher in Form einer erektilen Dysfunk- tion bemerkbar, bevor es schließlich zu ernsthaften kardi- Ca. 15% der Frauen leiden an einer Harninkontinenz, alen Problemen kommt. 85% trauen sich nicht, darüber zu sprechen. Mehreren So konnte bei ca. einem Viertel der Männer mit ei- Studien zufolge hatte die Hälfte aller Inkontinenzpatien- ner vaskulär bedingten erektilen Dysfunktion auch eine tinnen nur noch selten oder gar keinen Geschlechtsver- koronare Herzerkrankung nachgewiesen werden (Kawa- kehr mehr ( Bodden-Heinrich, 1999; Solonia et al., 2004, nashi et al., 2011). Insofern stellen Erektionsstörungen Pauls, 2006). bei älteren Männern eine Art Frühwarnsystem für einen Eine Harninkontinenz kann bei Patientinnen eine drohenden Herzinfarkt dar und bedürfen unbedingt wei- ganze Reihe von negativen Gefühlen wie z.B. Unsicher- terer Abklärung. Ein ebenfalls hoher Risikofaktor für die heit, Angst, Kontrollverlust, Ekel oder Wut auslösen. Die Entwicklung einer erektilen Dysfunktion ist die Hyper- Betroffenen leiden deutlich häufiger an depressiven Ver- tonie und die mit ihr einhergehende endotheliale Schä- stimmungen (2,5-fach) und Ängsten (3,5-fach) als die digung der Penisarterien und der Schwellkörper. Durch Normalbevölkerung gleichen Alters (Beutel et al., 2005). eine Störung der für die Erektion wichtigen NO-Synthese Die Inzidenz von Depression und Angsterkrankungen einerseits und die Erhöhung der Endothelin 1-Synthese korrelieren positiv mit dem Ausmaß der Inkontinenz und andererseits kommt es zu einer Erhöhung des muskulä- der damit verbundenen sozialen Beeinträchtigung (Mar- ren Schwellkörpertonus und somit zu einer Erschwerung galith et al., 2004). der Erektion (Ferro & Webb, 1997). Eine effektive Behandlung der Harninkontinenz ist Zahlreiche Antihypertonika, insbesondere die soge- deshalb die Voraussetzung bei der Behandlung der damit nannten Betablocker, haben zusätzlich einen negativen verbundenen Sexualstörungen. Einfluss auf die Erektion. Dies ist darauf zurückzuführen, dass auch die Schwellkörperarterien Betarezeptoren be- Benignes Prostatasyndrom und sexuelle sitzen, deren Stimulation für die für die Erektion notwen- dige Durchblutungssteigerung derselben erforderlich ist. Funktionsstörungen Deshalb sollten für die Hypertoniebehandlung möglichst Medikamente bevorzugt werden, die sich weniger nega- Die Kölner Männerstudie ergab eine hohe Korrelation tiv auf die Erektion auswirken. Dazu zählen die neueren zwischen der erektilen Dysfunktion und dem Benignen Calcium- und die Angiotensin II-Antagonisten. Alphare- Prostatasyndrom BPS. 34% der über 60-jährigen und zeptorenblocker wie das Doxazosin haben mitunter sogar 53% der über 69-Jährigen berichteten über Erektions- einen positiven Effekt auf die Erektion. störungen und 40% der über 60-Jährigen sowie 56% der über 69-Jährigen hatten eine BPS (Braun et al., 2000). Tat- sache ist, dass beide Störungen mit dem Alter zunehmen. Diabetes mellitus und Sexualität Ein Nachweis über einen direkten Zusammenhang zwischen beiden Beschwerdebildern gibt es bislang al- Eine ebenfalls häufige Erkrankung, die zur Beeinträch- lerdings nicht. Dabei kann die Gabe von sogenannten tigung der Sexualität führen kann, ist der Diabetes mel- selektiven Alphablockern zur Linderung der BPS auch litus. Zwischen 35 und 60% der männlichen Diabetiker eine Verbesserung der Erektionsfähigkeit bewirken. Im klagen über eine erektile Dysfunktion (Guirgius, 1992). Oktober 2011 ließ die amerikanische Food and Drug Sexualität und Alter 9 Administration (FDA) den PDE-5-Hemmer Taldalafil, Medikamente und sexuelle der sich gegenüber den anderen PDE-5-Hemmern durch Funktionsstörungen eine längere Halbwertszeit und somit durch ein längeres Wirkungsfenster auszeichnet, zur gleichzeitigen Behand- Die meisten Patienten mit chronischen Erkrankungen lung von BPS und erektiler Dysfunktion in den USA zu. erhalten Medikamente, von denen nicht wenige die Sexu- alfunktion beeinträchtigen. Dazu gehören insbesondere Antihypertensiva, Diuretika, Antidepressiva, Antikon- Neurologische Erkrankungen und vulsiva, Neuroleptika, Antiarrhythmika sowie Kortiko- Sexualität ide. Nicht wenige Patienten setzen deshalb auf eigene Faust ihre Medikamente ab, vor allem Männer, wenn es Das Risiko, an einem Morbus Parkinson zu erkranken, einen Zusammenhang zwischen einer erektilen Dysfunk- nimmt mit dem Alter deutlich zu. Nach einer Metaana- tion und der von ihnen eingenommenen Medikation lyse europäischer Studien leiden 2% der 65-Jährigen an gibt. Deshalb sollten Ärzte bereits bei der Neuverordnung einem idiopathischen Morbus Parkinson (Ceballos-Bau- eines solchen Medikaments auf die möglichen Neben- mann, 2005). Als ursächlich für den Morbus Parkinson wirkungen hinweisen und den Patienten bitten, sich bei gilt ein Dopaminmangel der substantia nigra des Corpus etwaigen Sexualstörungen unbedingt vorzustellen, um striatum. Degenerative Veränderungen im Bereich des gemeinsam das weitere Vorgehen zu beraten. Hypothalamus, in den parasympathischen Kerngebie- ten und den sympathischen Ganglien können ihrerseits Sexualität und psychische Erkrankungen urogenitale Störungen wie Blasenentleerungsstörungen, Harninkontinenz und Erektionsstörungen verursachen (Jost et al., 1997). Eine retrospektive Befragung des Ins- Zahlreiche psychische Erkrankungen gehen mit sexuel- tituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin am Uni- len Funktionsstörungen einher. Die Depression ist welt- versitätsklinikum der Charité von Parkinsonpatienten weit die häufigste psychische Erkrankung. beiderlei Geschlechts ergab eine deutliche Zunahme aller Im Laufe ihres Lebens erleiden 15% der Bevölkerung sexuellen Funktionsstörungen. Bei 30% der weiblichen mindestens einmal eine schwere, behandlungsbedürfti- und bei 64% der männlichen Patienten fand sich ein Zu- ge Depression. Depressionen sind bei älteren Menschen sammenhang zwischen der Einnahme der Parkinsonme- ebenso häufig wie bei jüngeren (Klerman & Weissman, dikation und der Entwicklung von sexuellen Funktions- 1989). Vor allem der Libidoverlust ist symptomatisch störungen (Beier et al., 2000). Ähnliches gilt für Patienten für eine depressive Störung. Wer keine Lebenslust hat, mit einer Multiplen Sklerose. dem fehlt meist auch die Liebeslust. Nicht zuletzt haben Stress- und Erschöpfungszustände ein Nachlassen des se- xuellen Interesses zur Folge. Die bei der Behandlung ei- Sexualität und rheumatoide Arthritis ner Depression eingesetzten Antidepressiva können alle eine sexuelle Funktionsstörung bewirken. Andererseits Aber auch Erkrankungen, die keinen direkten Einfluss ergab eine Untersuchung des Kinsey Instituts im Jahre auf die Sexualfunktion zu haben scheinen, können zu 2003 bei depressiven, gynäkophilen Männern, dass eine erheblichen Sexualstörungen führen. Beispielhaft hier- Untergruppe (9,4%) ein erhöhtes Bedürfnis nach sexuel- für sei die rheumatoide Arthritis genannt. Die mit der ler Intimität entwickelte, was unter anderem zu einer Bes- Erkrankung einhergehenden Schmerzen können jegliche serung des durch die Depression beeinträchtigten Selbst- Lust an der Sexualität rauben. Angenehme Körperemp- wertgefühls beitrug (Bancroft et al., 2003). findungen werden durch den Schmerz zunichte gemacht. (Ryan, 2008; Rosenbaum, 2010). Ferner können schmerz- Sexualität und Krebserkrankung reaktive Veränderungen des Nervensystems auch in nicht betroffenen Körperregionen die Körperempfindungen verändern. Weitere Ursachen für sexuelle Funktionsstö- Karzinomerkrankungen sind nicht nur für die Patien- rungen im Zusammenhang mit der Fibromyalgie sind ten mit psychischen Belastungen verbunden, sondern eine krankheitsbedingte Müdigkeit sowie medikamentö- auch für ihre Lebenspartner. Die Partner sind häufig die se Nebenwirkungen. Hinzu kommen Ängste des gesun- wichtigste soziale und emotionale Stütze für die Betrof- den Partners, dem „kranken“ Partner weh zu tun oder zu fenen. Einige Studienergebnisse verweisen sogar darauf, schaden. dass die Belastung von Partnern nicht nur vergleich- bar, sondern größer ist als die der betroffenen Patienten (Kiss et al., 2001). Dies gilt insbesondere dann, wenn
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