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Schulpolitik und Schulsystem in der DDR PDF

191 Pages·1989·4.694 MB·German
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Anweiler, Schulpolitik und Schulsystem in der DDR Oskar Anweiler Schulpolitik und Schulsystem in der DDR + Leske Budrich, Opladen 1988 Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung Volkswagenwerk. CIP-litelaufnahme der Deutschen Bibliothek Anweiler, Oskar: Schulpolitik und Schulsystem in der DDR/Oskar Anweiler. - Opladen: Leske u. Budrich, 1988 ISBN 978-3-8100-0734-6 ISBN 978-3-322-95525-8 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-95525-8 © 1988 by Leske + Budrich, Opladen Satz: Leske + Budrich, Opladen Vorwort Der deutschen Pädagogik wird nicht gedient mit oberflächlicher Polemik, aber eine gründliche, auf umfassender Sachkenntnis beruhende wissenschaftliche Diskussion, die keineswegs vor politischen Tatsachen und prinzipiellen ideologischen Gegensätzen zurückschrecken darf, halten wir für unbedingt notwendig. (Päd, 12.Jg., 1957, H. 1, S. 4) Diese vor über dreißig Jahren in der DDR-Zeitschrift "Pädagogik" getroffene Fest stellung hat nichts an Aktualität eingebüßt. Sie kennzeichnet auch die Position des Ver fassers. Leider finden die erwünschten wissenschaftlichen Diskussionen immer noch zu selten im direkten Gespräch oder im öffentlichen Meinungsaustausch statt. Dort, wo sie wieder beginnen, müssen sie tatsächlich auf umfassender Sachkenntnis beruhen und dürfen nichts beschönigen oder verschweigen. Dialogbereitschaft setzt die Maßstäbe wissenschaftlicher Erkenntnis voraus und nicht außer Kraft. Die hier vorgelegte Darstellung der Schulpolitik und des Schulsystems in der Deut schen Demokratischen Republik wendet sich nicht in erster Linie an die Spezialisten der Bildungsgeschichte, der Vergleichenden Erziehungswissenschaft oder der DDR Forschung, sondern an Leser, besonders auch an Studenten, denen der Gegenstand erst erschlossen werden soll. Die Ergebnisse der Forschung wurden verarbeitet mit dem Ziel, grundlegende Informationen über die wichtigsten Sachverhalte mit einer Problemanalyse zu verbinden. Die seit über zwanzig Jahren zu diesem Thema in Vorle sungen und Seminaren gewonnenen Erfahrungen und Anregungen sowie Resultate eige ner früherer Untersuchungen sind ebenfalls darin eingegangen. Ich danke der Stiftung Volkswagenwerk, daß sie es durch die Gewährung eines Aka demiestipendiums ermöglicht hat, die Arbeiten an dem Buchmanuskript abzuschließen und die Drucklegung unterstützt hat. Bochum, Januar 1988 Oskar Anweiler 5 Inhalt Vorwort ..............................................•........................................ 5 1. Einleitung ..................................... ; . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.1 Gesichtspunkte für ein Studium des Schulwesens in der DDR ........... ..... 9 1.2 Methodische Probleme und Forschungsstand ..................................... 12 2. Grundzüge der Schulpolitik und Schulentwicklung seit 1945 .............. 19 2.1 Fragen der Periodisierung ........................................................... 19 2.2 Ausgangssituation und Schulreform von 1946 "'''''''''''''''''''''''''''''''''' 21 2.3 Die ideologische Okkupation der Schule ....... ........... ........................ 40 2.4 Polytechnische Bildung und sozialistische Schulreform. .... ........... ...... ... 58 2.5 Das "einheitliche sozialistische Bildungssystem" - Konzept, Realisierung und Folgen ............................................................................. 79 2.6 Konsolidierung und Modernisierung - die Entwicklung bis zu den achtziger Jahren ................................................................................... 107 3. Das Profil der sozialistischen Schule in der DDR am Ausgang der achtzi- ger Jahre ............................................................................... 127 3.1 Statistischer Grundriß des Schulsystems .......................................... 127 3.2 Die innere Schulverfassung .......................................................... 134 3.3 Unterricht und Erziehung ............................................................ 148 3.4 Begabungsförderung .................................................................. 162 3.5 Schule und Berufswahl ............................................................... 177 Daten zur schulpolitischen Entwicklung in der DDR ................................. 191 Abkürzungsverzeichnis ..................................................................... 193 Auswahlbibliographie ....................................................................... 195 7 1. Einleitung 1.1 Gesichtspunkte jUr ein Studium des Schulwesens in der DDR Die als Folge des Zweiten Weltkrieges vollzogene staatliche Teilung Deutschlands ist auch für die Betrachtung der Schulentwicklung in der Deutschen Demokratischen Re publik von grundlegender Bedeutung. Im Unterschied zu wissenschaftlichen Analysen anderer Bildungssysteme haben wir es bei der Behandlung der DDR insofern mit einem Sonderfall zu tun, als - die gemeinsame geschichtliche Vergangenheit und die fortbestehende sprachlich kulturelle Gemeinsamkeit eine größere geistige Nähe bedingen, - im Gegensatz dazu jedoch die politisch-ideologischen Systemunterschiede mitten in Deutschland häufig eine gegenseitige Entfremdung bewirken. Beide Momente beeinflussen in starkem Maße den "deutsch-deutschen" Vergleich. Es ist zwar nicht unsere Aufgabe und Absicht, einen Vergleich des Schulwesens in beiden deutschen St&aten vorzunehmen, aber es liegt auf der Hand, daß ein "impliziter Vergleich" nicht ausgeschlossen werden kann. Es gehört zu den Besonderheiten der Be schäftigung mit einem anderen als dem eigenen Bildungssystem, daß bestimmte Proble me aus dem eigenen Erfahrungszilsammenhang den Anstoß zum "Blick über die Gren zen" geben können, wie umgekehrt die woanders ermittelten Sachverhalte auf die eigene Situation bezogen werden. Im Falle der DDR liegt das aus den genannten Grün den besonders nahe. Wenn wir dieses praktisch-politische Erkenntnisinteresse für ein Studium der Schule in der DDR betonen, so heißt das nicht, daß eine Beschäftigung mit den dortigen päd agogischen Entwicklungen allein aus einer deutschen Perspektive, sei sie historisch oder aktuell, erfolgen kann. Die Bildungspolitik in der DDR ist ähnlich wie diejenige anderer moderner Staaten mit Problemen konfrontiert, die sich aus der Dynamik der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung, aus den Bildungsbedürfnissen der Be völkerung oder aus veränderten ideellen Werten ergeben, z.B. mit - der Spannung zwischen Breiten-und Spitzenf6rderung, - dem optimalen Verhältnis von allgemeiner schulischer Grundbildung und beruflich- fachlicher Ausbildung, - dem Problem einer nicht zu übersehenden Entfremdung vieler Jugendlicher von der geltenden gesellschaftlichen und politischen Ordnung, um drei ganz verschiedene Beispiele zu nennen. Ein Studium des Schulwesens in der DDR muß daher neben dem zuerst genannten be sonderen deutschen Blickwinkel den übergreifenden Zusammenhang moderner Bil- 9 dungsprobleme berücksichtigen, die in der DDR auf eigene Weise zu lösen versucht werden: der deutsche Aspekt muß durch einen internationalen ergänzt werden. Es muß aber noch ein dritter Gesichtspunkt genannt werden, den man als einen theoretisch-systematischen bezeichnen kann. Die Beschäftigung mit dem Schulwesen in der DDR kann sich auch von der Frage leiten lassen, welchen Beitrag die dort gemach ten Erfahrungen zu einer allgemeinen Klärung pädagogischer Sachverhalte leisten kön nen, etwa zu folgenden: - zur inhaltlichen Bestimmung und formalen Struktur des Begriffs der "Allgemeinbil dung", - zum Konzept eines "erziehenden Unterrichts", - zu einer Schultheorie, welche die Schule als einen "eigenständigen Lebensraum" für Kinder und Jugendliche definiert, um wiederum nur drei Beispiele zu nennen. Bei einer solchen systematischen Absicht dient das Studium der DDR-Schule in erster Linie dazu, anhand der dabei gewonnenen Erkenntnisse zu theoretischen Generalisie rungen zu gelangen; die konkreten historischen Zusammenhänge und die besonderen Ausprägungen treten demgegenüber zurück. Die drei hier unterschiedenen Gesichtspunkte - der spezifisch deutsche, der interna tionale und der theoretisch/systematische - lassen sich nicht scharf voneinander tren nen. Bei der folgenden Darstellung und bei der Auswahl bestimmter Probleme spielte die Tatsache eine wichtige Rolle, daß es sich bei der Schule in der DDR um eine in der deutschen Schulgeschichte verankerte Institution handelt, die auch Jahrzehnte nach der deutschen Teilung diese historische Verwurzelung nicht verleugnen kann und will. Zum andern bildet die Zugehörigkeit der DDR zum "sozialistischen Staatensystem" auch für die Bildungspolitik und die Gestaltung des Schulwesens einen stets vorhandenen, wenn auch im einzelnen unterschiedlich starken Einflußfaktor, und zwar nicht nur in der ideo logischen Legitimationssphäre, sondern auch in praktischer Hinsicht. Im offiziellen Selbstverständnis gilt das heutige Schulwesen in der DDR als Erbe aller "fortschrittli chen pädagogischen Ideen" der Vergangenheit und als Glied eines noch in der Entwick lung befindlichen "sozialistischen Weltsystems der Pädagogik", dem alle Staaten zuge rechnet werden, in denen kommunistische Parteien an der Macht sind. Die Frage nach den jeweiligen "nationalen Besonderheiten" im Rahmen "allgemeiner sozialistischer Gesetzmäßigkeiten" dient dabei einer historischen Ortsbestimmung der Schule und Pädagogik in der DDR und zugleich ihrer Abgrenzung gegenüber der "imperialisti schen Pädagogik", die an der Westgrenze der DDR beginnt. In unserer Darstellung I werden beide Gesichtspunkte zu berücksichtigen sein: die Schule in der DDR als ein Teil der deutschen Schulentwicklung und gleichzeitig als Glied sozialistischer Bildungs systeme. Der schon erwähnte systematische Gesichtspunkt beim Studium des Schulwesens in der DDR gehört in den Zusammenhang einer Theorie des Bildungswesens und einer Theorie der Schule. Beides muß voneinander abgehoben werden, auch wenn die Gren zen fließend sind und in der Fachliteratur nicht immer deutlich gezogen werden. Verein facht ausgedrückt, behandeln wissenschaftliche Arbeiten zur Theorie des Bildungswe sens die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Bedingungen, die rechtli- 10 chen und organisatorischen Formen sowie die verschiedenen Funktionen des Bil dungswesens als einer in sich differenzierten Institution, während eine Theorie der Schule vor allem auf den "pädagogischen Kern" abzielt, also auf Lern-und Erziehungsprozesse, Lehrinhalte und Curricula, Lehrer-Schüler-Interaktionen innerhalb des institutionellen Rahmens der Schule. Die Vielzahl konkurrierender schultheoretischer Ansätze in der Bundesrepublik Deutschland2 kontrastiert auffullend mit dem Fehlen einer expliziten Theorie der Schule in der DDR. Das dürfte wissenschaftsimmanente, aber auch gesell schaftspolitische Gründe haben, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll; jedenfalls fehlt bisher die Möglichkeit, eine spezifische "sozialistische Schultheo rie" bei der Analyse des Schulwesens in der DDR heranzuziehen. Für eine sozialistische Theorie des Bildungswesens liegen zumindest bildungssoziologische Ansätze vor. 3 Die folgende Darstellung sucht die Mitte zu halten zwischen der Behandlung des Schulwesens als einer gesamtstaatlichen Institution und der Untersuchung bestimmter schulpädagogischer Probleme, wie sie in der einzelnen Schule auftreten. Sie legt den Nachdruck auf die Schulpolitik, d.h. auf die politische Gestaltung des Schulwesens im ganzen, und stellt das Schulsystem dar, aber nicht nur in seinem formalen Aufbau, son dern auch in den dort ablaufenden Prozessen; diese wiederum spielen sich auf ver schiedenen Ebenen, bis zur konkreten Einzelschule, und eingebettet in verschiedene au ßerschulische Zusammenhänge ab. "Systeme" der Bildung und Erziehung bilden nur den Rahmen für Prozesse, sie sind keine statischen Größen, und es wäre falsch anzuneh men, daß das Schulsystem der DDR davon eine Ausnahme machte.4 Der Ausdruck "Schulsystem" wird hier synonym mit "Schulwesen" gebraucht, weil mögliche terminologische Unterschiede, die sich aus Anleihen bei der Systemtheorie ergeben könnten, für unseren Zweck ohne Bedeutung sind. Ähnlich verfahren wir bei der Verwendung der Ausdrücke "Bildungssystem" und "Bildungswesen': Der Sprach gebrauch ist sowohl international als auch national - in bei den deutschen Staaten - nicht einheitlich, und alle Versuche, zu Standardisierungen zu kommen, sind bisher we nig erfolgreich geblieben. In der DDR spricht man seit 1965 vom "einheitlichen soziali stischen Bildungssystem" als der Gesamtheit (nahezu) aller staatlichen Bildungsein richtungen, sogar unter Einschluß kultureller Einrichtungen; dadurch soll auch der Eindruck der planmäßigen Organisation, der Geschlossenheit und funktionalen Ab stimmung erweckt werden. Gleichzeitig wird aber der Ausdruck "Volksbildungswesen" oder synonym "System der Volksbildung" in einem eingeschränkten Sinne, nämlich für das allgemeinbildende Schulwesen, die Kindergärten, die Volkshochschulen und die Lehrerbildung, verwendet; davon unterschieden wird das "System der Berufsbildung" sowie das Hoch- und Fachschulwesen. Diese Dreiteilung ergibt sich aus der entspre chenden Aufteilung in drei Verwaltungsressorts und hat, wie der Ausdruck "Volksbil dung" zeigt, darüber hinaus auch historische Wurzeln allgemeiner Art. Die vorliegende Darstellung behandelt im wesentlichen das allgemeinbildende Schul wesen, welches den Kern des Bildungssystems ausmacht, aber sie berücksichtigt auch die Beziehungen der allgemeinbildenden Schule zur vorgelagerten Vorschulerziehung und den anschließenden Bildungsbereichen, besonders zur beruflichen Ausbildung. Dieser Konzentration auf einen, und zwar den grundlegenden Bereich des Bildungswe sens liegt auch die Absicht zu Grunde, auf begrenztem Raum lieber mehr in die Tiefe als in die Breite zu gehen, zumal das Bildungswesen in seiner Gesamtheit in dem Hand buch von Dietmar Waterkamp im Überblick dargestellt worden ist. 5 11 Anmerkungen zu Kap. 1.1 Vgl. Wolfgang Zähle: Hauptetappen der internationalen Entwicklung der sozialistischen Schule. In: Vergleichende Pädagogik 21(1985), S. 199-202. - Günther Gräfe: Analyse und Wertung in der auslandspädagogischen Sozialismusforschung. In: Päd For 26(1985), H. 5, S. 28-38. 2 Vgl. Klaus-Jürgen Tillmann (Hrsg.): Schultheorien. Hamburg 1987. -Karl Sauer: Einführung in die Theorie der Schule. Darmstadt 1981. 3 Artur Meier: Soziologie des Bildungswesens. Eine Einführung. Berlin 1974. 4 Vgl. Jan Szczepanski: Oswiata - system czy dramat? (Das Bildungswesen - System oder Drama?). In: Procesy samoregulacji w oswiacie (Prozesse der Selbstregulierung im Bildungswesen). Hrsg. von Mieczysiaw Pc;cherski und Jerzy Thdrej. Warszawa 1983, S. 99-106. 5 Dietmar Waterkamp: Handbuch zum Bildungswesen der DDR. Berlin 1987. 1. 2 Methodische Probleme und Forschungsstand Aus politischen Gründen wird Besuchern aus der Bundesrepublik Deutschland und dem Ausland der unmittelbare Zugang und ein Einblick in das Schulwesen der DDR er schwert oder ganz verwehrt; systematisch angelegte "Feldstudien" unabhängiger Wissenschaftler, die sich mit dem Bildungssystem der DDR beschäftigen, können nicht unternommen werden. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Schulwesen der DDR ist daher so gut wie ausschließlich auf schriftliche Quellen verschiedener Art an gewiesen: bildungspolitische Verlautbarungen, Schulgesetze und -verordnungen, Lehr pläne, methodische Handbücher und Schulbücher, wissenschaftliche Abhandlungen, Praxisberichte, statistische Daten. Nicht alle Quellen sind gleichermaßen zugänglich. So unterliegen z.B. die Ergebnisse empirischer Forschungen erheblichen Veröffentli chungsbeschränkungen, oder es sind bestimmte Berichtsreihen nur für einen begrenz ten Personenkreis bestimmt. Bei der Veröffentlichung statistischer Daten aus dem Bil dungswesen gibt es ebenfalls erhebliche Lücken; so werden z.B. schon seit 1967 keine Zahlen mehr über die soziale Herkunft der Hoch-und Fachschulstudenten in den Stati stischen Jahrbüchern mitgeteilt, oder es werden in den einschlägigen Publikationen nur vage Angaben über die Schülerzahl an den verschiedenen Spezialschulen und -klassen, die der Begabtenförderung dienen, gemacht. Solche Beispiele ließen sich vermehren. Die skizzierte Quellenproblematik hat dazu geführt, daß seit einigen Jahren in zuneh mendem Maße auch die Belletristik, der Spielfilm und das Fernsehen, die relativ häufig Erziehungs- und Schulprobleme behandeln, als "Quelle" herangezogen werden. Hier entstehen natürlich methodische Probleme anderer Art, die aus der Tatsache resultie ren, daß erzählende Literatur oder Film ihren eigenen "Gesetzen" folgen und deshalb nicht als "Abbildungen von Realitäten", sondern nur als "Indikatoren für Realitäten" gewertet werden dürfen. Trotzdem ermöglichen solche Medien einen anschaulichen I Zugang zu Schulproblemen in der DDR, sie tragen vor allem zu einer differenzierten Betrachtungsweise bei. Mündliche Informationen bei wechselseitigen Besuchen erfül len ähnliche Funktionen, können aber nur sehr bedingt als wissenschaftlich verwertbare Quelle betrachtet werden. Auf einen anderen, oft übersehenen Umstand beim Umgang mit schriftlichen Quellen aus der DDR muß ebenfalls hingewiesen werden: Wir haben es in den amtlichen Ver- 12 lautbarungen, aber auch in Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Gesellschaftswissen schaften und bei anderen Textarten mit einer kontrollierten und gesteuerten Sprache zu tun. Das hängt mit der staatlichen Zensur und mit der Selbstzensur der Autoren zusam men. Die abstrahierende und verschleiernde Sprache der meisten offiziellen Dokumen te beruht auch auf der Scheu, Meinungsgegensätze oder Konflikte nach außen dringen zu lassen; dadurch kann der falsche Eindruck harmonischer Übereinstimmung oder ge radliniger Folgerichtigkeit entstehen, der nicht der Wirklichkeit zu entsprechen braucht. Es muß also eine "Dechiffrierung" bestimmter stereotyper Sprachmuster und -wendungen vorgenommen werden, um zu dem Kern eines Problems vorzudringen; in Jahrzehnten eingeübte ideologische Formeln haben für die Eingeweihten auch bestimm te politische Signalwirkungen. Der Umgang mit Texten dieser Art verlangt deswegen eine gewisse Vertrautheit mit den Problemen politischer Semantik. 2 Hinzu kommt der Bedeutungswandel wichtiger pädagogischer Begriffe, die zwar aus der deutschen bildungsgeschichtlichen Überlieferung stammen, die aber - ähnlich wie dies in der Bundesrepublik der Fall ist - durch neue Entwicklungen oder den Einfluß ausländischer Vorbilder ihren Inhalt verändert haben. In der DDR kennt z. B. die Didak tik nur den herkömmlichen Begriff des Lehrplans und nicht den des Curriculums, der sich in der Bundesrepublik daneben eingebürgert hat; aus der sowjetischen Pädagogik wurde der Begriff des Kollektivs und der Kollektiverziehung übernommen, der an die Stelle der früheren "Gemeinschaftserziehung" trat. Eine völlige Verschiebung ergab sich 1959, als die Bezeichnung "Oberschule" für die gesamte allgemeinbildende Schule ab Klasse 1 eingeführt wurde; unterhalb der Oberschule existiert in der DDR kein ande rer Schultyp. Hier lag die Absicht zugrunde, den alten Unterschied von "Volksschule" und "Höherer Schule", der schon 1946 durch die Einführung des Einheitsschulmodells beseitigt werden sollte, auch terminologisch endgültig aufzuheben. Es war bisher von einigen methodischen Problemen die Rede, die sich aus dem Um gang mit dem Quellenmaterial, der Verbindung pädagogischer Sachverhalte mit der po litischen Ideologie und aus dem Begriffswandel ergeben. Die Beschäftigung mit dem Schulwesen in der DDR wirft aber außerdem konzeptionelle Probleme auf, die wieder um wissenschaftliche und politische Gründe haben. In der notwendigen Kürze soll hier ebenfalls darauf eingegangen werden, um damit den wissenschaftlichen Diskussions stand und die bisherigen Forschungsresultate zu charakterisieren. 3 Am Anfang der Beschäftigung mit Erziehungs-und Bildungsproblemen in der "So wjetzone", wie die DDR noch bis in die sechziger Jahre meistens genannt wurde, durch westdeutsche Autoren standen praktische Informationsbedürfnisse und politische Inter essen. Das galt ähnlich auch für die Beobachtung der Entwicklung in anderen Lebens bereichen, z.B. im Rechtswesen oder in der Wirtschaftsstruktur. Später hat man von ei nem "vorwissenschaftlichen" Stadium der DDR-Forschung gesprochen und das starke politische Engagement mancher ihrer Vertreter kritisiert. Letzteres beruhte z.T. auch auf eigenen leidvollen Erfahrungen mit dem kommunistischen Regime in der SBZ/DDR, und diese flossen in die Beurteilung mit ein. Aus dieser ersten Phase, den fünfziger Jahren, stammen auch zwei konzeptionelle Modelle, mit deren Hilfe die Ent wicklung in der SBZ/DDR, darunter auch im Bildungs- und Erziehungswesen, analy siert wurde: dasjenige der "totalitären Erziehung" im Rahmen eines allgemeinen Totalitarismus-Konzepts und die These einer "Sowjetisierung" des deutschen Bildungs- 13

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