Studien zur Schul- und Bildungsforschung Band 50 Herausgegeben vom Zentrum für Schul- und Bildungsforschung (ZSB) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Deutschland Werner Helsper (cid:129) Rolf-Torsten Kramer Sven Thiersch (Hrsg.) Schülerhabitus Theoretische und empirische Analysen zum Bourdieuschen Theorem der kulturellen Passung Herausgeber Prof. Dr. Werner Helsper Dr. Sven Th iersch Martin-Luther-Universität Leibniz Universität Halle-Wittenberg, Deutschland Hannover, Deutschland Prof. Dr. Rolf-Torsten Kramer Universität Kassel, Deutschland ISBN 978-3-658-00494-1 ISBN 978-3-658-00495-8 (eBook) DOI 10.1007/978-3-658-00495-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio- nalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufb ar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. 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Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.springer-vs.de Inhaltsverzeichnis Wemer He/sper, Rolf-Torsten Kramer & Sven Thiersch Habitus - Schule - Schüler: Eine Einleitung ...................................................... 7 L Theoretische und methodologische Grundlagen zur Analyse des Schülerhabitus RalfBohnsack Habitus, Norm und Identität .............................................................................. 33 Helmut Bremer & Andrea Lange-Vester Die Pluralität der Habitus-und Milieufonnen bei Lernenden und Lehrenden. Theoretische und methodologische Überlegungen zum Verbältnis von Habitus und sozialem Raum ...................................................... 56 Jürgen Budde Das Konzept des männlichen Habitus. Möglichkeiten und Grenzen für die Analyse von Unterrichtspraktiken von Schülern ................................... 82 Fabian Niestradt & Norbert Ricken Bildung als Habitus - Überlegungen zum Konzept eines Bildungshabitus ...... 99 Wemer He/sper Habitusbildung, Krise, Ontugenese und die Bedeutung der Schule - Strukturtheoretische Überlegungen ................................................................. 125 Sandra Rademacher & Andreas Wemet "One Size Fits All" - Eine Kritik des Habitusbegriffs .................................... 159 Rolf-Torsten Kramer Kulturelle Passung und Schülerhabitus - Zur Bedeutung der Schule für Transfonnationsprozesse des Habitus ............ 183 IL Schillerbabltus, Familie und Peen - Verbiltnlsbestimmungen und empiriscbe Analysen Sven Thiersch Schülerhabitus und familialer Bildungshabitus - Zur Genese von Bildungskarrieren und -entscheidungen ............................... 205 6 Inhaltsverzeichnis Julia Labede & Mirja Silkenbeumer Zur Bedeutung familialer Geschlechter-und Generationenbeziehungen für die Konstituierung des Bildungsselbst ....................................................... 225 Heinz-Hermann Krüger & Wrike Deppe Habitustransformationen von Schülerinnen im Verlauf der Sekundarstufe I und die Bedeutung der Peers ................................................. 250 Florian von Rosenberg Schülerhabitus und Habitustransformation. Peergroups als Potentiale für Bildungsprozesse ...................................................................... 274 IH. Studien zum Schülerhabitus in unterscbiedlicben Scbulformen und -kulturen Till-Sebastian Idel Der Waldorfschülerhabitus - Kulturelle Passungen im Feld reformpädagogischer Privatschulen am Beispiel der anthroposophischen Schulkultur ..................................................................... 293 Stefan Wellgraf Von Boxern und Klavierspielerinnen. Kulturelle Passungen bei Berliner Hauptschülern und Gymnasiasten ..................................................... 307 Edina Schneider Herausbildung habitualisierter Bildungsorientierungen im Rahmen eines biografischen Wandlungsprozesses - Das Fallbeispiel einer aufsteigenden Hauptschülerin im Längsschnitt ............................................... 332 Mareke Niemann Transformation und Reproduktion in den Orientierungen von Jugendlichen auf Schule beim Schulformabstieg in die Hauptschule ............. 350 Anja Gibson Exzellente Persönlichkeiten und verantwortungsbewusste Potenzialträger im Fokus - Konstruktionen des Schülerhabitus in exklusiven Internatsgymnasien ....................................................................... 368 Sina-Mareen Köhler Schule als zentraler Ort der Peerbeziehung unter Bedingungen globaler Mobilität ............................................................................................ 388 Auturenverzeichnis .......................................................................................... 407 Wemer Helsper, Rolf-Torsten Kramer & Sven Thiersch Habitus - Schule - Schüler: Eiue Eiuleitung Der Begriff des Schülerhabitus ist sicher mehrdeutig (vgl. dazu auch den Beitrag von Niestradt und Ricken in diesem Band): Einmal könnte damit der umfassende Habitus von Schülern gemeint sein. Das wäre dann mehr als nur der schulische Zusammenhang, denn Schüler halten sich auch zu Hause, in Vereinen, in Peer kontexten und Medienwelten auf. Dieser Schülerhabitus würde auf die Totalität der Praktiken, Haltungen und Orientierungen von Schülern in den unterschied lichsten Bereichen und Feldern zielen und nach den Homologien des "praktischen Sinns" in diesen höchst verschiedenen Welten fragen. Dann könnte man Schüler habitus so verstehen, als ginge es "lediglich" um die konkret auf das schulische Handelo und den schulischen Raum bezogenen grundlegenden Praktiken, Hal tungen und Orientierungen. Damit wäre ein Partialhabitus im Blick, ähnlich wie sich etwa vom professionellen, vom Sportler-oder Künstlerhabitus sprechen lie ße. Dies wäre ein ,,Ausschnittshabitus", wobei sich das Problern der Vermittlung zum Konzept des Habitus als einer Totalität stellen würde. Und schließlich - und damit sind keineswegs alle Bedeutungshorizonte ausgeschöpft, die sich mit dem Begriff des "Schülerhabitus" verbinden ließen - könnte auch die in Normen, An forderungen und imaginären Entwürfen zum Ausdruck kommende institutionelle Struktur (ein-)geforderter Praktiken, Haltungen und Orientierungen gemeint sein, also der feldspezifische ideale Schülerentwurf und dessen Anforderungsstruktur innerhalb des schulischen Feldes. Das wäre dann die "andere Seite" des Habitus, der ja von Bourdieu als ein doppelt simierter entworfen wird - als inkorporierte Struktur in den Subjekten und als sozial objektivierte Struktur imjeweiligen sozi alen Feld (vgl. Bourdieu 1982, 1993; Bourdieu/Waquant 1996). Wofiir dann ein - auf den ersten Blick - anscheinend so vieldeutiger und unscharfer Begriff? Nun - um ihn in diesem Band reflexiv zu klären und zu schär fen. Genau das leisten die Beiträge. Denn der Begriff des Schülerhabitus teilt alle theoretischen und empirischen Probleme, die auch fiir den Habitusbegriff W. Helsper et al. (Hrsg.), Schülerhabitus, Studien zur Schul- und Bildungsforschung 50, DOI 10.1007/978-3-658-00495-8_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 8 Wcrner Heisper, Rolf-Torstcn Kramcr & Svcn Thicrsch insgesamt gelten, und fokussiert dabei zugleich auf die spezifischen Fragen des VerbäItnisses von Bildung, Herkunft, Schule und Schülern. Von daher verwundert es nicht, dass sich diese Grundsatzdebatten um den Habitusbegriff auch bezüglich der Auseinandersetzung mit dern Begriff des Schülerhabitus in der Vertiefung und Akzentsetzung bezüglich des Feldes der Bildung und der Schule wiederfinden. hn Folgenden werden entlang dieser grundlegenden Anfragen und Problem stellungen (vgl. dazu schon EngierlKrais 2004; FriebertshäuserlRieger-Ladichl Wigger 2006; Kramer 2011), die in diesem Band mit Bezug auf Bourdieu aufge worfen werden, die Beiträge aufihre Kritiken, Differenzierongen und Neufassun gen entlang von sieben Diskussionslinien gesichtet. 1. (Schüler-)Habitns - reße:rlve Vermittlnng von Struktnr nnd Akteur, Sozialität und Subjektivität? In der Auseinandersetzung mit dem Habitusbegriff wird - nahezu durchgäogig - dessen Stärke darin gesehen, dass er eine Kategorie zur Verfügung stellt, mit der die Dichotnmie von Struktnr und Akteur, von Sozialität und Subjektivität über wunden werden kann. In ihrer habitnellen Konfiguration sind die Akteure struktu riert und als derart strukturierte generieren sie Praktiken und Haltnngen, durchaus im Sinne einer "generativen Grammatik", die wiederum mit sozialen Strukturen und ihren Feldern korrespondieren (vgl. auch Krais/Gebauer 2002, S. 31ff.). Und zugleich ist die Strukturierong der Akteure eine soziale: "Wenn man vom Habitus redet, dann geht man davon aus, dass das Individuelle und selbst das Persönliche, Subjektive etwas Gesellschaftliches ist, etwas Kollektives. Der Habitus ist die sozialisierte Subjektivität" (Bourdieu!Waquant 1996, S. 159). Der Habitns als das "inkorporierte Soziale" (ebd.) fasst somit auch das Individuelle als sozial kons titniert und setzt sich damit grundsätzlich kritisch gegenüber allen Versuchen ab, Einzigartigkeit, Individualität und Subjektivität von Sozialität zu trennen. Auch "in die Tiefen des Habitus, bis hinein ins Innerste des Geschmacks und des Ekels, der Sympathien und Antipathien, der Phantasmen und Phobien" (vgl. Bourdieu 1982, S. 137), lässt sich die soziale Strukturierong der sozialen Klasse im Sinne der "angestammten Welt" verfolgen. So kritisiert Bourdieu scharf die Vorstellung einer einzigartigen, in individuellen Narrationen konstruierten Biographie, die als eine "biographische illusion" erscheint: ,,Der Versuch, das Leben als eine ein malige und sich selbst genügende Abfolge von Ereignissen zu verstehen, deren einziger Zusammenhang in der Verbindung mit einem >Subjekt< besteht, dessen Konstanz nur die eines Eigennamens sein dürfte, ist ungefähr so absurd wie der Versuch, eine Fahrt mit der U-Balm zu erklären, ohne die Struktnr des Netzes zu Habitus - Schule - Schüler. Eine Einleitung 9 berücksichtigen, das heißt, die Matrix der objektiven Relationen zwischen den verschiedenen Stationen" (Bourdieu 1998, S. 82). Damit aber ergibt sich nun das Problem, dass Individualität tendenziell in Sozialität aufgeht und als "individuelle Fallstruktur" verloren zu gehen droht. Die Stärke des Habitusbegriffs, eine Vermittlung von Sozialität und Individua lität zu eröffuen, scheint in eine Subsumtion des Individuellen unter die soziale Struktur und deren Kollektivität zu münden. Dieses Problem von Kollektivität und Individualität thematisiert allerdings auch Bourdieu selbst, wenn er davon spricht, dass es ausgeschlossen sei, "dass alle Mitglieder derselben Klasse (oder auch nur zwei davon) dieselben Erfahrungen gemacht haben, und dazu noch in derselben Reihenfolge" (Bourdieu 1993, S. 112). In diesem Zusammenhang führt er das Begriffspaar des ,,Klassenhabitus" und des "individuellen Habitus" ein (ebd.), wobei die begriffiiche Fassung des individuellen Habitus aber unscharf und weiter klärungsbedürftig bleibt, wenn er feststellt, dass "die besonderen Ha bitusformen der verschiedenen Mitglieder derselben Klasse durch ein Verhältnis der Homologie vereinheitlicht (werden), d. h. durch ein Verhältnis der Vielfalt in Homogenität, welches die Vielfältigkeit in der charakteristischen Homogenität ihrer gesellschaftlichen Produktionsbedingungen widerspiegelt; jedes System in dividueller Dispositionen ist eine strukturale Variante der anderen Systeme, in der die Einzigartigkeit der Stellung innerhalb der Klasse und des Lebenslaufs zum Ausdruck kommt" (ebd. S. 113). Die Formel der "Vielfalt in Homogenität" gälte es aber gerade auszufiihren, was bei Bourdieu allerdings unterbleibt. Im Zusammenhang mit der Fassung des Habitus als einer ,,Inkorporation des Sozialen" ergibt sich aber auch die Frage nach den Mechanismen und dem Prozess der Inkorporation. Denn der Vorgang der Inkorporation müsste - will man nicht eiufachen Prägungskonzepten folgen - selbst als sozial konstitnierter sozialisaturischer Prozess in seiner eigenen Strukturiertheit als sozialisaturische bzw. pädagogische Praxis gefasst werden. Auch dazu finden sich Anklänge bei Bourdieu: "Der Habitus als strukturierende und strukturierte Struktur aktiviert in den Praktiken und im Denken praktische Schemata, die aus der - über den his torischen Sozialisationsprozess ontogenetisch vermittelten - Inkorporierung von sozialen Strukturen hervorgegangen sind, die sich ihrerseits in der historischen Arbeit vieler Generationen - also phylogenetisch - gebildet haben" (BourdieuJ Waquant 1996, S. 173). Genau aber derartige Ausführungen zur ontogenetisch vermittelten Inkorporation von sozialen Strukturen als eines eigenlogischen so zialen Vorgangs, die diese als ontogenetischen Prozess im Generationstransfer in den Blick nehmen, sind bei Bourdieu nur an einigen Stellen und nicht systema tisch entfaltet zu finden (vgl. ansatzweise Bourdieu 1982, S. 137ff.; zur Weiter- 10 Wcrner Heisper, Rolf-Torstcn Kramcr & Svcn Thicrsch gabe des ,,Erbes" Bourdieu u. a. 1997, S. 651 ff., bezüglich der "pädagogischen Arbeit" BourdieuJPasseron 1973). Was den Habitusbegriff also einerseits als Kategorie der Vennittlung von In dividuellem und Sozialen so interessant macht, fiihrt andererseits auch zu offenen Fragen und ungelösten Vennittlungsproblemen. Genau hier setzen eine Reihe von Beiträgen an, die sich mit dem Begriff des (Schüler-)Habitus als einer Kategorie der Vennittlung von SoziaIität und Individualität auseinandersetzen. So zielt RalfBohnsack in seinem Beitrag auf eine theoretische Präzisierung und Steigerung der Erklärungskraft des Habitusbegriffs, indem er die Begriffe des Habitus, der Nonn und der sozialen sowie persönlichen Identität im Sinne einer ,,Mehrdimensioualität der Kategorienbildung" zueinander in Beziehung setzt. Dabei erscheint der Habitusbegriff als übergreifende Kategorie, die nun aber nicht in einem ,,kausalgenetischen" sondern in einem soziogenetischen Sinn in konjunktiven Erfahrungsräumen verankert (vgl. schon Bohnsack 2003, S. 159ff.) und mit dem Begriff des Orientierungsralunens gefasst wird. Nonnen und Me-Bilder im Sinne der Zuschreibung sozialer Identitäten und des Identifi ziertwerdens im Sinne von Subjektcodes und damit von sozialen Anforderungen werden demgegenüber als Dimensionen sozialer Felder gefasst. Damit können auch Differenzerfahrungen im Bereich der sozialen Identität (etwa Stigmatisie rungen) systematisch von habituellen Differenzerfahrungen - etwa der Sphären differenz - unterschieden werden. Der Habitus von Schülern kann dabei gerade zu durch eine konstitutive Vennittlung diskrepanter sozialer Identitäten gefasst werden, nämlich der Anforderungsstruktur der schnlisehen Institution und der der Peergroup, die es zu relationieren gilt. Davon sind nochmals Möglichkeiten der autonomen Kontrolle des Individuums gegenüber zugeschriebenen sozialen Identitäten im Sinne der persönlichen Identität Goffmans zu unterscheiden. Der Beitrag Bohnsacks lässt sich somit als eine mehrdimensiouale Kategorienbildung und -vennittlung bezüglich des Habitusbegriffs lesen, mit der die Relation von Individualität und Kollektivität ausdifferenziert werden kann. In eine ähnliche Richtung weist auch der Beitrag von Sandra Rademacher und Andreas Wernet, der sich aus einer strukturtheoretischen Perspektive mit dem Habitusbegriff auseinandersetzt. Während Bohnsack eine Reformnlierung und Ausdifferenzierung des (Schüler-)Habitusbegriffs vorschlägt, weisen Rade macher und Wernet ihn als zu unscharf und letztlich unhrauchbar zurück. Der Ha bitusbegriff weise in seiner universellen Anwendbarkeit gerade daraufhin, dass er weder Probleme der Theoriekonstruktion noch der materialen Theoriebildung löse, sondern eher verstelle. So enthalte der Habitusbegriff implizite Verweise auf den Strukturbegriff, da ihm als generativem Prinzip eine Struktur zugrunde liegen müsse und er zugleich einen Typus repräsentiere. In diesem Zusammen-
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